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"Geschichte ist immer nur einen Wimpernschlag entfernt"

Den Traum des Vaters erfüllen zu sollen, ist eine Bürde, die viele Immigranten mit sich herumtragen müssen. Hanif Kureishi, 1954 als Sohn eines Pakistani und einer Engländerin in London geboren, nähert sich in "Mein Ohr an Deinem Herzen" seinem Vater auf zärtliche und nie starre Weise.

Von Anja Hirsch | 15.07.2011
    Bekannt wurde Hanif Kureishi 1985 mit seinem Drehbuch für Stephan Frears Film "Mein wunderbarer Waschsalon". Er erzählt darin die Geschichte eines Immigranten: Der in London lebende Omar ist der Sohn eines pakistanischen, in seiner ehemaligen Heimat angesehenen Journalisten, der im englischen Auswanderland mehr und mehr herunterkommt. Sein Sprössling soll nun richten, was der Vater nicht schafft: Studieren, Karriere machen, Anerkennung erwirtschaften – nicht allerdings mit der dreckigen Unterwäsche anderer Menschen im Waschsalon, den Omar hier mit viel Charme auf Vordermann bringt –, bis Rassisten sein Werk wieder zerstören.

    Den Traum des Vaters erfüllen zu sollen, ist eine Bürde, die viele Helden in Immigrantengeschichten mit sich herumschleppen. Hanif Kureishi, 1954 als Sohn eines Pakistani und einer Engländerin in London geboren, trägt sie in gewisser Weise selbst: Schriftsteller standen ganz hoch im Ansehen des Vaters. Der hatte selbst Nacht für Nacht auf der klappernden Schreibmaschine geschrieben, allerdings trotz emsiger Versuche im Gegensatz zum erfolgreichen Sohn nie veröffentlicht. Die Tragik rollt dieser jetzt auf – mit Hilfe eines Romanmanuskriptes des Vaters, das er elf Jahre nach dessen Tod erneut liest. Dass er dabei zugleich die eigene Identität erkundet, liegt auf der Hand: "Mein Ohr an Deinem Herzen", so der Titel dieser Erinnerungen an den Vater, ist Denkmal und kritische Befragung der eigenen Existenz, in welcher sich der Traum des Vaters fast zwanghaft im Sohn zu erfüllen scheint.

    "Trotzdem denke ich manchmal, dass ich mich nur an den Schreibtisch setze, um meinem Vater zu gehorchen. Das könnte erklären, warum ich anfangs immer so wütend bin und nach getaner Arbeit nicht weiß, was ich tun soll."

    Vielleicht ist dies also Kureishis persönlichstes Buch. Interessant wird es auch für uns vor allem als Dokument jener tiefen, inneren Spaltung, die der Spagat zwischen zwei Welten, zwischen Ost und West einer doppelten Herkunft, überhaupt in sich trägt - nicht zuletzt durch Klischees, die andere einfordern. Das erzählt recht anschaulich eine kleine Anekdote: Nach Indien ausgefragt vom Regisseur Peter Brook, der gerne etwas über hinduistische Mythologie und Symbolik gehört hätte, muss Hanif Kureishi passen – er war zu diesem Zeitpunkt selbst überhaupt nur einmal dort gewesen, und wenn, dann haben vor allem britische und amerikanische Kultur, Fitzgerald und Hemingway ihn selbst und schon den Vater im kolonialen Indien geprägt. Peter Brook ist enttäuscht. Und Hanif Kureishis Identitätskonflikt entfacht:

    "In seinen Augen war ich ein gescheiterter Inder, fast eine Fälschung, denn ich fragte mich, wer ich für andere Menschen sein musste, die es verstörte, wer ich nicht war."

    Genau dieses Paradox erkundet Hanif Kureishi jetzt über den Vater. Keineswegs ein Umweg, wie sich zeigt. Die Geschichte, die er aus der Feder des Vaters in der Hand hält, führt geradewegs hinein. Wir lernen durch Hanif Kureishis nachdenkliche, immer wieder kommentierte Zusammenfassung dieses Romanfragments dessen Vater als Kind kennen, als literarische Figur; als Jungen namens Shani, der in Indien auf eine englische Privatschule geht, Cricket spielt und mit antrainierter "Coolness" Statusgefühl und Überlegenheit vorspielt. Im Innern aber ist er orientierungslos. Vor dem Vater, Hanif Kureishis Großvater nachgebildet, einem strengen Colonel, hat er Angst.

    "Manchmal schien Furcht aus seiner Mimik zu sprechen, Angst aus seinen Augen, Zögern aus seinem Benehmen, Unentschlossenheit aus seinen Taten; seine Ansichten waren halbgar, seine Einstellung war negativ, und alles zusammen ergab das Bild eines schwachen, gleichgültigen, ziellosen, nachlässigen Tunichtguts, was seinen Vater zu der Bemerkung veranlasste, er sei zu nichts nütze."

    Wir betreten mit Shani zum ersten Mal ein Bordell. Sinnlichkeit, die lehr- und lernbar ist, bestimmt die Welt des jungen Inders; eine andere Auffassung von Körperlichkeit, die sich unschuldig bis in Hanif Kureishis eigene Kindheit in England zieht:

    "Meine Mutter versteckte ihren Körper – er war Privatsache –, aber mein Vater ließ sich gern von mir anfassen. Er hatte kein großes Interesse an meinem Körper und seinen erwachenden Instinkten, sondern wollte nur sein Vergnügen haben. Wenn er badete, wusch ich im winzigen Bad seinen Rücken, rieb Öl auf seine Kopfhaut, das über seinen Rücken lief, massierte seine Beine und Füße – eine Intimität, die ich sehr mochte, weil ich als Kind etwas tun durfte, das, wie ich wusste, eigentlich die Aufgabe der Frau war."

    Wie ein zu enträtselnder Geheimprolog zu Kureishis eigenem Leben schiebt sich der Roman des Vaters über eigene Erinnerungen. Kureishi reflektiert neben Unterschieden die Parallelen – etwa auch den Abgang von der Schule als Versager mit 16, hinein ins Ungewisse. Shani treibt fern der Familie durch englische Vororte. Hanif selbst pendelt zwischen Großstadt und Provinz – im Schatten eben dieses stets unzufriedenen, entwurzelten Vaters, der nur widerwillig über dreißig Jahre lang in der pakistanischen Botschaft arbeitet, nachts und in vielen Krankheitszeiten aber seinem Schreibtraum nachhängt. Man ahnt, dass diese Vater-Sohn-Beziehung zwischen Ermunterung und Abwertung schwankt. Verständlich scheint der diffuse Eintritt in die Welt, die Hanif Kureishi selbst in einer Art verlängerten Pubertät durchmisst; mit Drogen und einer gewaltigen Portion Selbsthass, mit subversiven Gedichtaktionen an Schwarzen Brettern, mit Besuchen von Happenings und mit emsiger Lektüre, die den Bücher besessenen Vorvätern seiner Familie alle Ehre macht. Ein Echo auf diese wilden Jahre, die hier noch mal anklingen, war bereits Kureishis erfolgreicher Roman "Der Buddha aus der Vorstadt", der 1990 erschien. Woraus aber erwächst ein solches Leben? Treibkraft dieses intimen Vaterbuches ist eine scheinbar banale, aber oft vergessene Tatsache: die Erkenntnis, dass man in eine bereits laufende Familiengeschichte hineingeboren wird.

    "Nun, da ich eine Tür zu der in Wörtern bewahrten Vergangenheit öffne, werde ich vielleicht einen Schlüssel zum Dasein meines Vaters finden, zu seinem Zusammenleben mit meiner Mutter, zu meiner Erziehung, zu einem politischen und kolonialen Kontext. Mein Vater spricht wieder zu mir, und zwar nicht nur in meinem Kopf."

    Neben dieser psychischen Dimension, die Hanif Kureishi im Dialog mit dem hinterlassenen Vatertext entdeckt und die ihn die eigenen Lehr- und Wanderjahre besser verstehen lässt, bewegt eine gesellschaftspolitische Dimension die Schichten dieses Buches. Mitten in London brodelt unter den Immigranten eine Subkultur, die ins Buch schwappt wie eine andere Welt. Sie vermittelt einen Eindruck von Träumen und Sehnsüchten, vom Fremdsein in der Fremde. Kureishi beleuchtet beide Seiten solcher Biografien: die des Aufsteigers im Exil; aber auch die des in Pakistan zurückgebliebenen armen Cousins, der den Bildungssprung in die neue Welt nicht schafft.

    "In den Vororten gab es keine Diskussionskultur. Doch wenn mein Vater mich nach London zu Omar mitnahm, waren die durch Alkohol angeheizten Gespräche zwischen den Brüdern und ihren Freunden lebendig und lautstark und wurden in drei Sprachen geführt: Urdu, Englisch und Urdu-Englisch. Sie steckten voller Witze und Bonmots, dreckiger Geschichten und politischer Kommentare zu Großbritannien und Pakistan, und man sprach auch über Sport. So konnte niemand von Natur aus reden; man musste sich darin üben."

    Hanif Kureishi ist eine zärtliche Auseinandersetzung mit dem Vater gelungen. Er überzeugt durch Naheinstellungen. Dass er sich dabei keiner starren Form verschreibt, ist Preis dieser Authentizität. Deshalb nimmt man auch den einen oder anderen Schnellschuss sowie manche Abschweifung hin. Der Wechsel von Ruhe und Ungeduld prägt diesen Text. Und gerade der Ausblick in die fremdartige Kindheitswelt des Vaters bewahrt Kureishi schließlich vor dem rein selbsttherapeutischen Schreiben. Familiengeschichten können ohnehin nie gelöst, offenbar nur ins Licht gerückt werden – wie hier geschehen, mit dem Wissen darum und mit offenem Ohr.

    "Es wäre schön, wenn man die eigene Geschichte für immer der Vergangenheit übereignen könnte. Aber die Geschichte ist immer nur einen Wimpernschlag entfernt; sie bleibt immer irgendwie gegenwärtig."

    Hanif Kureishi: "Mein Ohr an Deinem Herzen. Erinnerungen an meinen Vater". Aus dem Englischen von Henning Ahrens. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main, 2011. 254 Seiten, 18,95 Euro.