Dienstag, 21. Mai 2024

Archiv


Geschichten aus dem nahen Land

Annie M.G. Schmidt, die große alte Dame der niederländischen Kinderliteratur, starb 1995 im Alter von 84 Jahren, in Amsterdam. Ihre Bücher zählen inzwischen zu den modernen Klassikern der Kinderliteratur. Doch unser westliches Nachbarland hat auch junge Autorinnen und Autoren von Kinder- und Jugendliteratur zu bieten, die zu entdecken sich lohnt.

Von Siggi Seuß | 16.05.2009
    "Schlafe nun, mein Stachelein,
    draußen scheint der Mond.
    Du bist ein kleines Stachelschwein.
    Ach ja, das weißt du schon." ...


    Wenn wir an holländische Kinder- und Jugendliteratur denken, dann denken wir an Guus Kuijers Menschengeschichten, wir denken an Toon Tellegens Tiergeschichten, vielleicht auch an die Zeichentrickfiguren Krawinkel & Eckstein von Wouter van Reek. Wir denken an Edward van de Vendels Geschichten, an Ted van Lieshout, Joke van Leeuwen, an Floortje Zwigtman, Peter van Gestel, Do van Ranst - und wir denken an Karlijn Stoffels und an "Mojsche und Rejsele", ihre unvergessene Erzählung aus dem Warschauer Waisenhaus des Doktor Korczak. - Und wenn Karlijn Stoffels zu Hause in Amsterdam ein Kinderlied anstimmt, dann wundern wir uns erst einmal. Schließlich sind wir ja auf der Suche nach neuen Kinder- und Jugendbüchern aus den Niederlanden. Und befinden uns gerade bei einem Kinderlied, das vor 50 Jahren geschrieben wurde.

    "Ein kleines Lied von Annie Schmidt und das ist mein Lieblingslied. Das ist ein Lullaby, ein Schlaflied für ein Stachelschwein. Okay, dann denkt man: Stachelschwein, hahaha, sehr komisch. Habe ich für meine Tochter gesungen, wenn die klein war. Und die Mutter sagt einfach: Du bist ein Stachelschwein, aber ich bin stolz auf dir! Die Giraffen haben lange Necke und die Elefanten haben eine lange Nase, aber du hast alle kleine Stachelchen - und das ist schön!"

    Karlijn Stoffels liebt die Geschichten von Annie M.G. Schmidt, der großen alten Dame der niederländischen Kinderliteratur, die 1995 im Alter von 84 Jahren, in Amsterdam starb. - Annie M.G. Schmidts Bücher zählen inzwischen zu den modernen Klassikern der Kinderliteratur. Die Schriftstellerin hinterließ einen Schatz an Geschichten und Gedichten und Liedern. Trotzdem blieb ihr Name in Deutschland relativ unbekannt - obwohl eine ganze Reihe von Büchern verlegt wurden, "Minusch", etwa, "Heiner und Hanni" oder "Der fliegende Fahrstuhl". Jetzt gibt es bei uns erfreulicherweise zwei Wiederauflagen von Kindergeschichten, die Annie Schmidt in den 1950-er bzw. 70er-Jahren geschrieben hat, mit den Originalillustrationen von Philip Hopman und Fiep Westendorp: "Wiplala - Kannst du zaubern?" und "Pluck mit dem Kranwagen". Tatsächlich sind das zeitlose Geschichten, die junge und alte Leser immer wieder aufs Neue durch ihre Fröhlichkeit, ihre Leichtigkeit und durch ihren manchmal subversiven Humor erfreuen. Der kleine Pluck etwa erscheint völlig selbstverständlich auf der Bildfläche, parkt mit seinem fußgetriebenen Kranwagen am Straßenrand ohne dass wir erfahren müssen, wo er herkommt, wo er hingeht, ob er Eltern hat.

    Pluck hatte einen kleinen roten Kranwagen. Er fuhr darin durch die ganze Stadt und suchte sich ein Haus, in dem er wohnen konnte. Ab und zu hielt er an und fragte die Leute: "Wissen Sie nicht ein Haus für mich?"

    "Das war für mich eine Offenbarung, dass man so fröhlich sein könnte in einem Buch. Wir hatten nur christliche Bücher. Nach jedem Abenteuer dankten die Kinder Gott. Danke, Gott, dass wir dieses Abenteuer überlebt haben! Das war die Literatur, die ich gelesen habe, als ich ein Kind war."

    Aber vor Erwachsenen haben wir Angst,

    sagt in Annie Schmidts zauberhaftem Alltagsmärchen "Wiplala" Herr Blom, ein Vater, der mit seinen zwei Kinder von einem kleinen Wesen aus dem Volk der winzigen Wiplalas auf ein paar Zentimeter Körpergröße geschrumpft wurde und sich im neuen Format nicht ganz unwohl fühlt. Schließlich sieht man die Welt dadurch mit völlig neuen Augen.

    ... Weißt du, Erwachsene verstehen es nicht. Wenn sie uns finden würden, dann würden sie einen großen Spektakel machen und uns vielleicht einsperren, um uns für Geld zu zeigen, oder sie würden uns wissenschaftlich untersuchen.

    "Ich hatte eine Lehrerin auf der Schule, wenn ich sieben Jahre alt war und sie liebte Annie Schmidt. Das war sehr revolutionär, weil es eine calvinistische Schule war und die Leute mochten Annie Schmidt nicht. Sie war einfach zu frivol. Also, ich war in Schule und ich sollte Prinzessin Firlefanz spielen in einem papierenen Kleid. Dann kam ich nach Hause und meine Mutter hat gesagt: 'Annie Schmidt? Ach!'"


    "Der Ted van Lieshout, der hat, glaub ich, gesagt - er war's oder Edward van de Vendel, hat gesagt, ja, das Freche, auch das mit Reim spielen - das hat er wirklich von Annie Schmidt gelernt. Und ich selber glaube auch, dass ich sehr viel von sie gelernt habe."

    Das werden viele holländische Schriftsteller der mittleren Generation bestätigen können. Annie M.G. Schmidts Bücher, Geschichten, Gedichte und Lieder inspirieren immer wieder aufs Neue den kleinen freundlichen Schalk hinter den Augen oder in unserem Nacken. Wir werden es sehen, wie er wirkt, wenn im Sommer bei Beltz & Gelberg Karlijn Stoffels neuer Roman - "1:0 für die Idioten" - erscheinen wird, der vom Leben eines Mädchens in einer jugendpsychiatrischen Klinik erzählt.

    Längst haben die niederländischen Jugendbuchautoren den Blick aufs Leben im eigenen Land und in die Welten der Fantasie erweitert. Sie sind neugierig auf das, was hinter fernen Horizonten geschieht. Stan van Elderen, zum Beispiel. Er lässt sich in seinem neuem Roman bemerkenswert direkt von der amerikanischen Literatur inspirieren - vor allem von rebellierenden Freigeistern und jungen Wilden. Die Geschichten jedoch, die er aufs Blatt bringt, scheinen eher seiner Intuition geschuldet als einem literarischen Masterplan.

    "Ich weiß so gar nicht, was am Ende der Seite passieren wird. Ich bin manchmal überrascht am Ende des Tages. Als wäre ich der erste Leser dieses Buch. Und das ist schön. Das ist wirklich ein kreatives Prozess, den ich auch nicht verstehe, überhaupt nicht."

    Fünf Bücher hat der ehemalige Marketingexperte geschrieben. Vier davon wurden ins Deutsche übertragen. Nach einigen Kinderbüchern nun sein erstes Jugendbuch: "Warum Charlie Wallace?". Es geht um zwei Jungs in Manhattan, 15 Jahre alt, die sich zufällig kennenlernen und eine Woche Zeit miteinander verbringen. Ihre Lebensgeschichten sind so unterschiedlich wie ihre Verhaltensweisen, obwohl sie beide aus wohlhabenden Elternhäusern kommen. Jonathan - der Ich-Erzähler - ist introvertiert und misstrauisch gegenüber jeder spontanen Geste. Er lebt mehr in Büchern und Filmen als in der Wirklichkeit. Zudem schleppt er aus seiner Zeit in einem Internat ein Geheimnis mit sich herum. Nun also lernt er einen neuen Mitschüler kennen, der sich fröhlich, offen, neugierig und couragiert durchs Leben bewegt. Schon zu Beginn der Freundschaft irritiert und fasziniert ihn Charlies souveränes Auftreten bei dem verhassten Pädagogen Wainwright, der Jonathans Lieblingsfach lehrt, Literatur. Unter dem aufmunternden Blick von Charlie würgt Jonathan gerade noch eine Antwort auf die Frage nach "Was ist Literatur?" aus sich heraus:

    "Literatur dreht sich um Menschen. Darum, wie sie sich fühlen, wovon sie träumen, was sie denken. Aber es dreht sich vor allem darum, wie sie miteinander klarkommen", hörte ich mich sagen. ... "Das klingt verdächtig nach der Beschreibung eines armseligen Arztromans, Mr. Lowell. Sie hatten doch hoffentlich nicht vor, diese Art Schund mit dem Werk eines William Shakespeare zu vergleichen?" Die Schafherde, mit der ich in eine Klasse ging, lachte auf. Und ich wurde stinksauer. Arrogantes, aufgeblasenes Arschloch. Das dachte ich.

    Charlie springt ihm zur Seite und Jonathan staunt nur noch.

    Er hatte Partei ergriffen, offenen Widerstand geleistet - Dinge, die man sich bei Wainwright lieber verkniff.

    Etwas verändert sich bei Jonathan im Lauf dieser Woche, auch wenn ihm Charlies Offenheit schwer zu schaffen macht. Und dann passiert etwas, was das Zusammensein jäh beendet und worüber wir normalerweise schweigen, um nicht das Ende einer Geschichte zu verraten. Bei diesem Buch ist das ausnahmsweise anders: Das Bedeutsame der Geschichte ist das, was sich während der Woche an Annäherungen und Abstoßungen und Wiederannäherungen zwischen den beiden ereignet, und nicht das, was am Ende geschieht: Charlie gerät beim Überqueren der Straße unter ein Fahrzeug und stirbt.

    "Im Morgen um neun Uhr hab ich angefangen und ich war am Schreiben und dann war ich überrascht, denn: Charlie tot. Und jetzt? - Und das war sicher keine, das war keine geplante Entscheidung. Es geschah als es geschah. Ich schrieb und er starb und ich dachte: Gut, das war sie, die Geschichte. So passiert das eben. Jemand verunglückt tödlich im Straßenverkehr - und die Geschichte ist zu Ende."

    Zugegeben, das Ende ist abrupt. Aber wer begreift, dass van Elderens Ende des Buches keinesfalls der Höhepunkt der Geschichte ist, sondern die wesentliche Bedeutung in der Irritation des Erzählers durch die kurze Begegnung mit einem völlig anderen "Way of Life" liegt - wer das begreift, für den wird "Warum Charlie Wallace" eine stimmige Geschichte. Und außerdem macht sie Mut, das Unbekannte um uns herum mit offenen Augen zu sehen.

    Eine zweite - ebenfalls nur auf den ersten Blick - traurige Geschichte ist Truus Mattis Roman "Bitte umsteigen". Truus Matti lebt in Rotterdam und arbeitete - bevor sie zu Schreiben begann - als Verlagsredakteurin. Ihr relativ spätes literarisches Debüt handelt von den Mühen eines zwölfjährigen Mädchens, den Tod des geliebten Vater zu verkraften. Die Mutter ist Sängerin, der Vater war Trompeter. Er war mit seinem Salonorchester auf einem vom Ensemble aufgetakelten Schiff in der Adria unterwegs, als es passierte: Er ertrank beim Baden. Das Mädchen leidet nicht nur unter dem Verlust, sondern unter der Vermutung, ein Brief an den Vater, in dem es sich bitterlich über dessen Unzuverlässigkeit beklagt, habe zum Unglück beigetragen.

    DAS IST EINE BRIEFBOMBE! Wenn du nicht zu meinem Geburtstag kommst, bist du der BEKNACKTESTE Vater, den ich kenne, und dann brauche ich dich überhaupt nicht mehr zu sehen. Natürlich hätte ich dir wieder NICHT glauben dürfen, als du feierlich VERSPROCHEN HAST, DIESMAL EXTRA zu meinem Geburtstag nach Hause zu kommen. Und warum hast du so lange nichts von dir hören lassen?

    Wie Truus Matti in "Bitte umsteigen" ihrer kleinen Heldin zum Gebrauch der Einbildungskraft verhilft, ist ungewöhnlich und es ist spannend - und beim ersten Lesen auch rätselhaft, denn es werden zwei Geschichten parallel erzählt: Die eine ereignet sich in der Wirklichkeit, in der das Mädchen selbst von ihrem Leben berichtet. Die andere spielt in einer Art Parallelwelt mit surrealen Zügen: Ein namenloses Mädchen ohne Erinnerung stolpert in einer trostlosen Landschaft in ein einsames Hotel, in dem es von zwei mannsgroßen Tieren bedient wird, von einer sprechenden Ratte und einem sprechenden Fuchs.

    Die Ratte knipste die Nachttischlampe aus und im gleichen Moment die Taschenlampe an. Ein runder Lichtfleck beschien den Boden.

    "Ich sage immer: Suchen geht am besten, wenn man nicht sucht. Die Kunst ist, sozusagen genau daneben zu schauen." Der Lichtkegel huschte vor ihr her. "Dann sieht man, was man sieht, und nicht, was man glaubt, sehen zu müssen. Und schwups findet man genau, was man sucht. Aber dann, ohne zu wissen, dass man es sucht."


    Die komplexe Geschichte des Sich-Findens eines jungen Menschen ist eine, in der man hin- und herwandern und zurückblättern sollte. Wer die zuerst rätselhaften Gegenstände und Ereignissen aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtet und mit der eigenen Fantasie verbindet, dem erscheint das Geschehen plötzlich vertraut. Das geschieht in Truus Mattis Roman ähnlich wie in dem von Stan van Elderen.

    "Ich glaube, das ist auch ein wenig - wie ich gelesen habe als Kind. Ich hatte die kleine Ecke, wo ich mit meinem Buch war und ich liebte wirklich, um da hineinzutauchen. Und ich hatte nicht so viele Bücher. Manchmal hab ich die noch mal gelesen und noch mal gelesen. - Was mir daran gefällt ist - wenn man es noch einmal liest, dann lernt man auch etwas über sich selbst - es ist nicht dieselbe Geschichte. Die Geschichte hat sich geändert, weil die Leser sich geändert haben."

    Liebe Lieneke, am Vierundzwanzigsten Mai ist es Elf Jahre her,
    das irgendwo in Utrecht ein winziges Mädchen von Null Jahren, Null Tagen und Null Stunden in einer Wiege lag und sich über eine Welt wunderte, die es vorher noch nicht gesehen hatte.

    Und da war eine Mutter und ein Vater, und es kamen Kinder und andere Menschen, die staunten über das winzige Kind, das sie alle noch nicht kannten.

    Und nun ist der Winzling ein munteres Mädchen von Elf Jahren geworden. Ein Mädchen mit schönen langen Zöpfen und einem schönen Zeugnis und Holzschuhen.

    Heute hat sie Geburtstag!

    Es ist jammerschade, dass ich nicht selbst kommen kann, um sie zu beglückwünschen. Aber mein Sonntagsanzug hat einen Fleck, und meinen Festtagshut haben die Motten angefressen.


    Das war ein kleiner Auszug aus "Lienekes Hefte", die ein jüdischer Vater seinem in Holland im Untergrund versteckten Töchterchen Lieneke zukommen ließ. 60 Jahre später hat sich die Adressatin Lieneke, die heute Nili Goren heißt und in Israel lebt - entschlossen, die Hefte der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Am Anfang war sie skeptisch.

    "Vater hätte nicht gewollt, dass diese Briefe an seine kleine Tochter veröffentlicht werden, schließlich gingen sie ja niemanden was an. Also behielt ich sie für mich, steckte sie in eine Zigarrenschachtel und zeigte sie nur der Familie und sehr guten Freunden. Und alle sagten immer wieder: 'Du musst die Briefe veröffentlichen - sie sind etwas ganz besonderes!' Und ich antwortete: 'Nein, nein, nein!'"

    Schließlich gab Lieneke nach. Sie stellte sie einem Museum für die jüdischen Kinder des Holocaust zur Verfügung, unter der Bedingung, dass von den Briefen Kopien gemacht wurden, die die jungen Besucher in die Hand nehmen und lesen konnten.

    "Kinder aus dem ganzen Land kamen ins Museum, sahen diese Heftchen und schrieben mir hunderte von Briefen. Und ich beantwortete jeden von ihnen persönlich."

    Dank der Unterstützung der französischen Schriftstellerin Agnès Desarthe konnten Jacob van der Hoedens Briefe an Lieneke in europäischen Ländern veröffentlicht werden. Nun erschienen die neun Heftchen im Format 8 mal 12 Zentimeter, zusammen mit einer kurzen Geschichte über die Hintergründe, auch bei uns, in einem kleinen Schmuckschuber. "Lienekes Hefte" sind nicht nach literarischen Kriterien zu beurteilen. Sie waren Überlebensmittel in einem viel konkreteren Sinn als es Bücher gemeinhin sein können. Sie sind zuallererst Zeugnisse der außergewöhnlichen Liebe eines Vaters zu seinem Kind. Natürlich sind die Heftchen auch Dokumente der fast ausgestorbenen Gebrauchskunst des Schreibens illustrierter Briefe: Jacob van der Hoeden - der 1968 in Israel starb - war ein fantastischer Zeichner und Geschichtenerzähler.

    Nili Goren wird am 24. Mai 76 Jahre alt - eine überaus freundliche, lebensweise und witzige Dame. Geboren und aufgewachsen ist sie als eines von vier Kinder einer jüdischen Familie in Utrecht. Der Vater war ein allseits geschätzter Tierarzt und Mikrobiologe, die Mutter war Ende der 1930-er Jahre bereits schwer erkrankt und bettlägerig. Und dann geschah das Unvermeidliche: Als die Deutschen das Land besetzt hatten und die systematische Verfolgung der jüdischen Bevölkerung bereits im Gange war, entschlossen sich die Eltern, ihre Kinder zu verstecken. Da war Lieneke gerade acht Jahre alt.

    Eines Tages, als mein Vater entschieden hatte, dass wir uns verstecken müssen, rief uns meine Mutter zu sich ans Bett und sagte: "Hört gut zu! Von heute an werden wir ein Spiel spielen, ein sehr ernstes Spiel. Wenn ihr dabei Fehler macht, wird das schlimme Folgen haben, für uns und für alle Menschen, die euch nahestehen. Von nun an werdet ihr nicht mehr die kleinen Mädchen sein, die ihr bisher ward. Ihr seid nicht mehr jüdisch, ihr habt andere Namen und andere Eltern und ihr lebt woanders. Ihr seid neue Mädchen."

    Lieneke und eine ihrer beiden Schwestern kamen zuerst bei Freunden der Familie unter. Später - 1944 - fand Lieneke in einer protestantische Familie am Lande Unterschlupf. Das war die Zeit als sie - befördert durch den holländischen Widerstand - einmal im Monat vom Vater ein wunderschön handgeschriebenes und mit lustigen Zeichnungen versehenes Heftchen bekam. Das ging neun Monate lang. Dann wurden die Niederlande befreit.

    Die Heftchen bedeuteten mir ungeheuer viel. Ich hatte ja keinerlei Kontakt zu meiner Familie und meinen Freunden, also bewiesen sie mir zuallererst, dass es offensichtlich allen noch gut ging. Ich schrieb Briefchen mit Zeichnungen zurück. Aber die mussten genauso verschwinden, wie die Briefe, die ich erhielt. Die durfte ich eine Stunde lang behalten und gab sie dann dem Doktor, bei dem ich lebte. Es war klar, dass er sie vernichten musste. - Gleich nach der Befreiung sagte er zu mir: "Ich hab eine Überraschung für dich. Komm mit in den Garten!" Wir gingen in den Garten und er fing an zu graben und plötzlich war da diese kleine Schachtel mit den Heftchen. - Mir blieb fast das Herz stehen. "Aber du solltest sie nicht behalten!" Und er antwortete: "Ich weiß, ich weiß, aber sie waren so schön. Ich hab's einfach nicht übers Herz gebracht, sie zu vernichten."

    Abends werden wir mit Lampions durch den Garten spazieren und singen:
    Lieneke zählt jetzt elf Jahr'
    Und wir, die frohe Festtagsschar,
    wir rufen hoch! hurra! juchhei!

    ... Liebe Lientje, nächstes Jahr,
    Da bist du selbst dabei.
    Da feiern wir zusammen
    Am vierundzwanzigsten Mai.

    Denn dann ist Holland frei


    Anzumerken ist: Lienekes Lebensgeschichte wurde von der jungen israelischen Autorin Tami Shem-tov aufgeschrieben und vor zwei Jahren in Israel veröffentlicht. Der biografische Roman wird im August bei S. Fischer in der Fischer-Schatzinsel-Reihe unter dem Titel "Das Mädchen mit den drei Namen" erscheinen.

    Wer also zukünftig an die Welten der holländischen Kinder- und Jugendliteratur denkt, an die Fantasie, mit der viele Autoren selbst die traurigste Spielart von Realität durchmessen und erweitern, der wird sich nun auch an Jacob van der Hoeden und die Briefchen an seine kleine Tochter erinnern, in denen das geschriebene und das gemalte Wort auf fundamentale Weise zum emotionalen Überlebensmittel wird. Wir können ohne große Mühe den Bogen von Lienekes Heften zu den lebensfreudigen und leicht subversiven Geschichten von Annie M.G. Schmidt schlagen und wir können - wenn wir nur ein wenig die Perspektiven wechseln - etwas vom widerspenstigen Geist der literarischen Vorfahren auch bei den jüngeren Autoren aus den Niederlanden finden, die wir heute vorgestellt haben. Wie das alles zusammenhängt, müssen wir nicht unbedingt verstehen. Es reicht, wenn wir uns - wie Truus Matti - mit einem Buch in den Lesewinkel zurückziehen und durch die Geschichten wandern und - wie Stan van Elderen - glauben, wir seien die ersten Leser dieses Buches.

    Literaturangaben

    Annie M.G. Schmidt: Pluck mit dem Kranwagen
    Mit Illustrationen von Fiep Westendorp. Aus dem Niederländischen von Rosel Oehlke. Verlag Heinrich Ellermann, Hamburg 2009. 168 Seiten, 12,95 Euro

    Annie M.G. Schmidt: Wiplala - Kannst du zaubern?
    Mit Illustrationen von Philip Hopman. Aus dem Niederländischen von Susanne und Ulf Daum. Boje Verlag, Köln 2009. 104 Seiten, 14,95 Euro

    Stan van Elderen: Warum Charlie Wallace?
    Aus dem Niederländischen von Bettina Bach. Carl Hanser Verlag, München 2009. 208 Seiten, 14,90 Euro

    Truus Matti: Bitte umsteigen!
    Aus dem Niederländischen von Verena Kiefer. Cecilie Dressler Verlag, Hamburg 2009. 236 Seiten, 13,90 Euro

    Jacob van der Houden: Lienekes Hefte. Aus dem Niederländischen von Edmund Jacoby. Verlagshaus Jacoby & Stuart, Berlin 2009. Zehn Hefte im Schmuckschuber; 19,95 Euro