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Geschichten für den Rest des Lebens

In seinem neuen Buch schreibt Franz Dobler über den Abend vor einem Feiertag, ein Mädchen in der Notaufnahme, eine Parkbankbewohnerin, das mysteriöse Pärchen Ying und Yang oder über ein vertrauliches Gespräch mit einer Katze.

Von Werner Köhne | 27.10.2010
    Was ist mit Erinnerungen, die man mit keinem mehr teilen kann? Stellt sich Glück nur absichtslos ein? Wo beginnt das beschädigte, das falsche Leben? Nach der Lektüre dieser "Short Stories" erscheinen die Fragen in schmerzender Frische neu aufgeworfen: Eine alte Frau sieht ihr Leben rückblickend als Folge einer Verwundung. Als Kind wurde sie vom Pfarrer und vom Schullehrer geohrfeigt, weil sie den Hitlergruß zum falschen Zeitpunkt entrichtete. Über diese Irritation war sie nie hinweggekommen.

    Ein USA-Reisender erlebt in einer Bar einen kurzen Augenblick inneren Friedens: Eine vom Regen benetzte Fensterscheibe, hinter der ein Licht aufflackert, vermittelt ihm das Gefühl des Amor Fati, der Übereinstimmung zwischen sich und der Welt. Und in einer dritten Geschichte verpasst eine linksalternative Abgeordnete ihr Leben ständig, indem sie politisch korrekt ihr Milieu bedient, aber mit fehlenden Instinkten den wirklichen Schweinereien in ihrer Umgebung begegnet.

    Ein ABC des Lebens liefert uns Franz Dobler mit seinen Drei Minuten- Erzählungen, die zuvor als monatliche Kolumnen für das Magazin "a-guide" erschienen - eine anregende Kombination aus erzählter und reflektierter Welt. Franz Dobler:

    "Ein Interesse war bei diesem Alphabet praktisch alles zuzulassen, also auch die Form auszuloten, die Form der Kurzgeschichte. Deshalb sind auch ganz unterschiedliche Sachen darin, die formell völlig unterschiedlich sind. Darin spiegelt sich aber auch, dass das Ganze in vier Jahren entstanden ist, wo sich auch irgendetwas verändert, auch der Umgang mit dieser Kolumne."

    Das setzt einiges an Geduld voraus und klingt nicht unbedingt nach leichter Lesekost. So etwas wie ein formales und thematisches Kontinuum erschließt sich denn auch nicht. Nicht einmal in den einzelnen Erzählungen selbst. Sie sind oftmals aus einer Situation geschöpft, die bewusst nicht vorbereitet wird, changieren zwischen beobachtender Darstellung, bittersüßen Einwürfen des Autors und Sprachbildern, die einen innehalten lassen, weil oder obwohl, sie einen an irgendetwas erinnern:

    "Ich hatte die Nacht durch bis zum Frühstück getrunken und meine Nerven ragten blank wie'n Blitz aus den Knochen und verkündeten, sie würden es ohne ein stärkendes Glas nicht bis zum Gleis schaffen, und ich wäre doch schon so spät dran, dass ich meinen Zug sogar verpassen würde, wenn ich jetzt einen vollkommen menschenleeren Weg vor mir hätte. Also wozu die Aufregung, wenn sie sich woanders fragen müssen, ob sie den Luftschutzkeller rechtzeitig erreichen werden."
    Die Szene spielt sich an einem stinknormalen deutschen Hauptbahnhof ab – aber die Bilder, die Dobler wählt, treiben einen geradewegs nach Big L.A. in die Welt-Wahrnehmung eines Phillip Marlowe oder die Gehirnwindungen eines Charles Bukowski. Der Schriftsteller Franz Dobler ist denn auch schon früh in seiner Karriere von findigen Rezensenten als Recycler von coolen Genrebilder made in USA ausgemacht worden. Franz Dobler:

    "Ja, das ist da. Wie man das als Leser oder Kritiker einschätzt, das kann ich ja nicht wissen. Es gibt Leute. Wenn in einem ganzen Buch drei Mal das Wort Ficken und drei Mal Scheiße vorkommt, dann sagen die Leute: Ah ok, er schreibt wie Bukowski. Ich würde mich dagegen nicht wehren. Aber es ist totaler Unsinn, es darauf zu reduzieren.

    Ich spiele manchmal mit diesen Sachen und benutze die als Motor, um eine bestimmte Stimmung zu wecken und benutze sie manchmal auch ironisch, ohne das groß zu kennzeichnen, dass das ironisch ist.

    Vier Geschichten des Erzählbandes spielen in den Staaten, wohin ein normaler Sterblicher aus Deutschland immer noch seine Sehnsuchtsantennen ausrichtet und wo er den Blues zu finden hofft, jene weltöffnende Traurigkeit, für die es hierzulande keine existentielle und verbale Entsprechung gibt. Mal hört er ihn aus dem Mund eines totgeweihten schwarzen Underdogs, dem keiner mehr zuhört; mal schlüpft der Erzähler in die Rolle von Elvis, der 1956 in Las Vegas diesen Blues erfährt, als er auf die zynische Mafiabande um Frank Sinatra trifft und dann auf Vampira, die erste Darstellerin eines weiblichen Vampirs. Sie schenkt ihm eine Nacht voller Küsse, bevor sie verschwindet wie John Wayne in den Weiten des Raums. Man mag ob dieser Go-west-, und Go-down-Attitüden die Augenbrauen heben oder sich wohlig eingestimmt fühlen in einen Community-Slang – es ist gut gemacht und Literatur!
    Deutschland hingegen wird in den Erzählungen Franz Doblers meistens greller beleuchtet und das Bruchstückhafte, Verschnittene unserer provinziellen Existenz verdichtet sich hier nur selten zu weicheren Momentaufnahmen.

    #'"Die kühle Nacht belebt mich, die Regentropfen auf meinem Gesicht tun mir gut. Kein Mensch ist auf der Straße, kein Auto fährt..die Stille ist mein Freund die Dunkelheit ist meine Freundin ein Lied singe ich ihnen im Takt meiner klackenden Schuhe - as poets sell their diaries and beg fort he chance to speak, they'd give up all their innocence for just one hour of sleep."

    Das ist ein Auszug aus einer Geschichte mit dem Titel "Die Tankstelle". Ein von Schlaflosigkeit Heimgesuchter ist nachts unterwegs zu einer Tankstelle und trifft dort auf einen Penner, in dem er jenen Sportreporter erkennt, der ihm einst in freundlicher Großzügigkeit einen ersten Job verschaffte und das Leben erklärte. Der Erzähler pendelt in der wie im Trance erlebten Nacht zwischen Eindrücken, Bildern und Erinnerungen hin und her – was typisch ist für viele der Kurzgeschichten. Franz Dobler:

    "Ein Reiz bei diesen Texten ist: Man ist gezwungen, auf kurzem Raum bestimmte Sachen reinzubringen, die man auch viel länger machen könnte, aber aus einem bestimmten Grund nicht möchte. Das heißt, der Reiz besteht darin, dass große Schnitte passieren. In den Schnitten passiert manchmal mehr als im Text, wenn sie gut gesetzt sind. Und das hinzukriegen, ist so der Reiz. Das heißt, es kommt oft zu Begegnungen, die fast alle was Fotografisches haben und plötzlich zwei Sätze hin- und herschießen und man das Gefühl hat, das Ganze war vielleicht eine Stunde und plötzlich wirken die Sätze verfremdet, weil diese ganze Drumrum fehlt – und man hat nur noch diesen bestimmten Ausriss."

    Ein wenig gleichen die Letzten Stories von Franz Dobler auch kleinen Apercus, die poetisch aufflackern. Das alles ist weit entfernt von den Klischees, die man über Franz Dobler verbreitet, auch weit von dem uns heute satt aufgetischten Roman. Nach der Einschätzung von Maurice Blanchot führt diese füllige Kost irgendwann mal zum Ende der Literatur. Franz Dobler:

    "Generell bin ich der Ansicht, dass bestimmte Entwicklungen in der heutigen Literatur auf Vereinfachung hinauslaufen, als müsse man Geschichten so einfach machen, dass jeder sie kapiert. Aber es geht nicht, es geht nie .. Ich hab ja zwei Romane geschrieben, schreib aber immer wieder Short Stories und finde, beides hat seinen Reiz, aber das finde ich eine gute Idee, dass der Roman dazu neigt, alles platt zu machen ...Alles Mögliche hat plötzlich 500 Seiten, man liest es und denkt, schon hundert Seiten wären zu lang gewesen. Alles wird ausgewalzt, um Stimmung zu schaffen. Das ist langweilig."

    Franz Dobler, Letzte Stories, 26 Geschichten für den Rest des Lebens
    Blumenbar Verlag, Berlin