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Geschichten hinter den Schlagzeilen

Unermüdlich leisten unzählige Freiwillige weltweit humanitäre Hilfe, kämpfen in Krisengebieten gegen Not und Elend. Richard Munz ist seit mehr als 20 Jahren unter anderem für das Rote Kreuz weltweit im Einsatz. Er hat seine Erfahrungen aufgeschrieben und unter dem Titel "Im Zentrum der Katastrophe" veröffentlicht. Mario Dobovisek hat das Buch gelesen und mit dem Autor gesprochen.

    "Die Nachrichten: In Mosambik sind inzwischen eine Million Menschen wegen der andauernden Überschwemmungen obdachlos."

    März 2000: Die Flut in Mosambik ist Topthema der Nachrichten. Vor Ort hilft der deutsche Notarzt Richard Munz:

    "Wir müssen davon ausgehen, dass eigentlich alle Brunnen infiziert sind. Das bedeutet noch nicht, dass sie hochgefährlich sind, es ist immer eine Frage der Verdünnung. Aber je mehr das Wasser zurückgeht, wird die Konzentration natürlich stärker und entsprechend auch die Gefahr größer."

    Mit seinem Team vom Deutschen Roten Kreuz leistet Richard Munz humanitäre Hilfe. Ein Feldkrankenhaus, tausende Impfampullen, Not und Elend um ihn herum. Es ist nicht sein erster Einsatz. Der Marburger war bis heute über 20 Mal für verschiedene Hilfsorganisationen im Ausland. Die Liste seiner Einsätze ist lang: Flüchtlingsdrama im Kosovo, Erdbeben in Indien, Tsunami in Indonesien, um nur drei Beispiele zu nennen. Seine Erfahrungen gibt Munz als Lehrbeauftragter an der Universität Bochum an den Helfer-Nachwuchs weiter. Doch auch die breite Öffentlichkeit soll erfahren, was hinter den Katastrophen-Schlagzeilen wirklich steckt:

    "Dieses Buch habe ich deshalb geschrieben, weil ich das Gefühl hatte in all diesen Einsätzen, dass das, was die Öffentlichkeit hier zu Hause eigentlich mitbekommt, von dem, was wir dort draußen machen, also das, was die Medien darüber berichten, sich immer mehr entfernt hat von dem, was ich dort als Wirklichkeit erlebt habe. Und irgendwann hatte ich das Gefühl, dass die ganzen Menschen, die uns ihr Geld zur Verfügung stellen, uns die Daumen drücken, doch eigentlich auch mal erfahren sollten, wie wir das so sehen und was da draußen aus unserer Sicht wirklich passiert."

    "Im Zentrum der Katastrophe", der Titel des Buchs ist Programm: Munz nimmt den Leser mit zu verschiedenen Einsätzen, beschreibt anekdotisch und pointiert seine Erlebnisse. Es sind vor allem die auf den ersten Blick unscheinbaren Episoden, die den Autor bewegen und die er weitergeben möchte, keine Horror-Szenen, keine Leichenberge, eben die Geschichten hinter den Schlagzeilen.

    "Während die Medien berichten über Amputationen und irgendwelche dramatischen Operationen ist für uns das richtige Highlight eigentlich, wenn am ersten oder zweiten Tag irgendwo in den Trümmern eine Frau ein Kind zur Welt bringt und die Eltern sich wirklich darüber freuen können und dieses Kind dann schreit. Das ist ein unvergesslicher Augenblick."

    Von denen hat Munz einige erlebt und berichtet nun darüber. Doch ist sein Buch keineswegs nur ein Einsatztagebuch, es ist vielmehr ein Sachbuch, ein kritischer Essay mit Reportage-Elementen. In zwölf Kapiteln stellt er die gängigen Schlagzeilen seiner erlebten Realität gegenüber. Er räumt mit den Mythen auf, die sich für uns um die Katastropheneinsätze ranken: dem Mythos der hilflosen Überlebenden etwa, dem Mythos der heldenhaften Superretter und dem der objektiven Medien. Letztere haben es Munz besonders angetan: Er kritisiert die Rolle der Journalisten und zieht, zum Großteil berechtigt, manchmal aber auch unangenehm überzogen, über deren Arbeit her. Die extreme Berichterstattung und die übertriebenen Schlagzeilen würden das Bild von den Katastrophen drastisch verzerren. Die Journalisten, so Munz, blendeten bewusst Tatsachen aus, hätten eine auf das Spektakuläre beschränkte Sichtweise. Wie ein Mantra wiederholt der Autor seine Kritik an den Medien auf, gefühlt, jeder zweiten Seite. Ein Beispiel aus seinen Erlebnissen nach dem Tsunami in Indonesien:

    "Bei der Berichterstattung über diese Katastrophe ist der Anspruch, sachlich und objektiv zu berichten, sehr schnell in der Flut der zahlreichen spektakulären Bilder und dramatischen Filmausschnitte untergegangen und ganz erbärmlich ertrunken."

    Dem Buch hätte es besser getan, wäre die Medienkritik etwas subtiler an den Leser herangetragen worden. Die bewegenden Anekdoten sprechen eigentlich für sich und hätten ausführlicher vorkommen können. Diese den Schlagzeilen gegenübergestellt, ab und an mit kritischen Tönen versetzt, und der Leser hätte sich seine eigene Meinung bilden können.

    "Das Buch ist eigentlich nicht als Medienschelte gemeint, Kritik ist das durchaus. Ich bin mir natürlich darüber im Klaren, dass ohne die Medien da draußen wirklich überhaupt nichts geht und wir überhaupt nichts ohne die Medien machen können."

    So fordert Munz Hilfsorganisationen und Journalisten gleichermaßen dazu auf, intensiver zusammenzuarbeiten und gemeinsam in den Wohnzimmern der Welt die wirklichen Geschehnisse zu zeigen. Was dem Buch zugute kommt, ist die nicht fehlende Selbstkritik. Denn auch mit den Hilfsorganisationen geht Richard Munz nicht gerade zimperlich um: Viele Retter seien schlecht oder gar nicht vorbereitet, hätten eine falsche Vorstellung von dem, was sie erwartet. Auch würden viele Organisationen dem gleißenden Kameralicht hinterherreisen, aus der Spendenflut einen eigenen Vorteil ziehen und dabei andere Katastrophengebiete völlig ausblenden, so geschehen beim Tsunami in Südostasien:

    "Es war für mich die erste Katastrophe, bei der ich das Gefühl hatte, hier geht uns nicht das Geld aus, sondern hier gehen uns die Opfer aus im Laufe der Zeit."

    Alle Organisationen stürzten sich auf die vom Tsunami betroffenen Länder, sammelten zweckgebundene Spenden. Mittel, die in anderen Katastrophengebieten nicht verwendet werden dürfen. Richard Munz spricht deshalb vom humanitären overkill, nimmt aber auch die Geldgeber mit in die Verantwortung:

    "Der Spender kann sicherlich seinen Teil zu einer Lösung dieses Dilemmas beitragen, indem er sich eine Organisation sucht, der er vertrauen kann und der er vor allem seine Zuwendung ohne Zweckbindung zukommen lässt."

    Das Ziel des Autors ist klar: Er möchte informieren, das verzerrte Bild, das wir von den Hilfseinsätzen haben, geraderücken und zum Nachdenken anregen. Auch möchte er die Spender dazu ermuntern, sich umfangreicher zu informieren, die Hilfsaktionen und Schlagzeilen kritisch zu hinterfragen. Engagiert erinnert Munz an viele "vergessene Katastrophen", deren Opfer noch heute unsere Hilfe brauchen, über die bei uns aber keiner spricht. Zum Beispiel Somalia, wo 14 Jahre nach dem Bürgerkrieg immer noch mehr als zwei Drittel der Bevölkerung keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser haben, oder Uganda, wo seit fast 20 Jahren Rebellengruppen wüten und 1,8 Millionen Flüchtlinge versuchen, in Lagern zu überleben.

    "Zum Schluss übrig bleiben sollte als Eindruck, dass hinter den Medienschlagzeilen nicht nur eine andere Wirklichkeit steckt, sondern viele, viele Katastrophen, an die wir einfach hier in der Öffentlichkeit viel zu wenig denken, und dass wir bei der nächsten Katastrophe hier rechtzeitig wach werden und die anderen nicht vergessen."

    Insgesamt ist "Im Zentrum der Katastrophe", von den erwähnten Schwachstellen und einigen Wiederholungen abgesehen, ein gelungenes Buch. Es bietet Diskussionsstoff und lädt dazu ein, sich mit den Opfern von Katastrophen auseinanderzusetzen, ohne dabei gleich die Keule des schlechten Gewissens zu schwingen. Fotos, ein Anhang über vergessene Katastrophen und ein Stichwort-Register runden das Werk ab.


    Richard Munz: Im Zentrum der Katastrophe. Was es wirklich bedeutet, vor Ort zu helfen
    Campus Verlag, Frankfurt/M., 2007
    240 Seiten, 19,90 Euro