An den Vorsitzenden des Ministerrates der DDR - Sehr geehrter Herr Sindermann! Mit großem Interesse habe ich die Ansprachen des neunten Parteitages verfolgt. Wenn Sie mir gestatten, möchte ich mir erlauben zu schreiben, was mir nicht gefällt und ich als Härte empfinde. Ich bin 1899 geboren. Meine Schuld ist es nicht, dass ich ledig bleiben musste. Die Jahrgänge der Männer, die für mich in Frage gekommen wären zur Heirat, sind doch viele im 1. Weltkrieg gefallen, auch mein Verlobter. Dass ich in meinem Leben für alles alleine aufkommen musste, was ich mit meiner Hände Arbeit verdient habe, war schon schwer genug, nun werde ich auch noch bestraft, indem ich nicht das an Rente bekomme, was einer Witwe zusteht. - Mit sozialistischen Gruß, Maria K., Großstöbnitz, den 1.6.1976
Eine Eingabe an den Staat der DDR. Maria K. war nur eine von vielen, die sich über die Rentengesetze empörten. In den 1970er und 80er Jahren fühlten sich viele alte Menschen ungerecht behandelt und machten ihrer Unzufriedenheit Luft. Die Historikerin Dr. Christiane Streubel hat Eingaben von DDR-Bürgern untersucht, die damals eine höhere Rente einforderten.
"Da ist dann die Argumentation eben ganz stark, wir sind die geschädigte Generation. Das heißt, wir sind eine Generation, die ganz viel Schreckliches erlebt hat, ohne eigenes Verschulden, wird dann gesagt, viele Kriege, und da wird eben argumentiert, das war zu einer anderen Zeit, in einem schlechteren System, und jetzt muss doch dieses angeblich gute System dafür sorgen, dass es mir hier in dieser Zeit besser geht."
An den Ministerrat der DDR - Es ist zu beschämend, wenn man 51 Arbeitsjahre nachweist, und nur 240 Mark bekommt, die zum Leben zu wenig und zum Sterben zu viel sind. Ich habe Ihnen berichtet, dass ich von 1927 - 1933 aktiv bei der KPD mitgewirkt habe. Man wollte mich noch sechs Wochen vor Kriegsende nach Buchenwald bringen, aber der Luftschutzleiter hat es verhindert. Ich war ein halbes Jahr in ärztlicher Behandlung und dann vier Wochen im Nervensanatorium. Meine Nerven sind ruiniert und kein Arzt ist fähig, meine Gesundheit wieder herzustellen. Nun frage ich mich, wofür habe ich meine Gesundheit geopfert, keinen Dank, keine Anerkennung. Ich habe zwei Eingaben zum hiesigen Amt für Sozialwesen gemacht, mit der Antwort, für eine kleine Rente reicht es nicht aus. Man sollte doch von einem sozialistischen Staat meinen, dem kapitalistischen Staat gegenüber einen Schritt voraus zu sein, aber leider das Gegenteil. - Walter K., Hildburghausen, den 6.4.1976
"Das Ganze muss man natürlich immer von der Quellenproblematik her betrachten, dass wir natürlich nur einen kleinen Ausschnitt aus diesem Leben bekommen über diese Eingaben. Weil die ja sehr zielgerichtet sind. Diese Menschen hätten sicherlich über ihr Leben im Alter in der DDR bei einem anderen Publikum ganz anders erzählt. Erzähle ich das jetzt einem Nachbarn. Erzähle ich das möglicherweise einem Verwandten aus der Bundesrepublik Deutschland, den ich vielleicht auch doch damit beeindrucken möchte, dass ich in einem guten System lebe. Also das ist immer in einem hohen Maße Ausmaß sind diese Quellen abhängig von der Frage, wer spricht da eigentlich mit wem."
Christiane Streubel hat eine internationale Tagung mitorganisiert, die Anfang der Woche an der Universität Greifswald stattgefunden hat. Der Titel lautete: "Geschichten mit und ohne Bart. Narrative Konstruktionen von Alter und Geschlecht". Ziel der Tagung war, das Bewusstsein dafür zu schärfen, dass Erfahrungsberichte immer die Form von Erzählungen haben, die je nach Sprecher und Zielgruppe völlig unterschiedlich ausfallen können. Das heißt: Über das Alter kursieren sehr verschiedene Erzählungen. In den Eingaben an den DDR-Staat entsteht zum Beispiel ein Bild von verbitterten Menschen, die am Rande des Existenzminimums leben. Eine ganz andere Geschichte erzählten die offiziellen DDR-Medien. Dort war das Altersbild extrem positiv, sagt Christiane Streubel. Denn anhand der Lebensgeschichten von alten Menschen sollte vermittelt werden, dass die DDR ein humaner Staat und das bessere Deutschland sei.
"Beispielsweise finden wir in einer Illustrierten der DDR mit vielen bunten Bildern einen großen Bericht über eine goldene Hochzeit. Und dort beschreibt dann der Journalist, wie dieser sehr sehr alte Mann plötzlich in Tränen ausbricht und sich daran erinnert, wie grauenvoll schlecht es ihm doch im Kaiserreich gegangen sei. Dass sie da als Söhne eines armen Knechts gelebt haben und ständig drangsaliert worden sind von dem großen Bauern, dem der Hof gehörte. Und er ist dann für die Kinder, für die Enkel der Zeuge, dass tatsächlich alles besser geworden ist in der DDR und dass man jetzt endlich glücklich leben kann. "
Alte Menschen als Zeugen der Geschichte - eine übliche Erzählweise auch innerhalb der Familie. Die Großmutter, die stets betont, sie sei Kriegerwitwe, der Großvater, der bei jedem Sonntagskaffee über seine Kriegsleiden klagt - für viele Kinder, die in den 1970er und 80er Jahren aufgewachsen sind, ein prägendes und zugleich abschreckendes Bild. Alter - bedeutete das, nur nach hinten zu blicken? Den verlorenen Jahren nachzutrauern und sich nicht mehr für die Gegenwart zu interessieren? Die Großeltern sind in der Regel die ersten alten Menschen, die ein Kind kennen lernt. Der Kontakt zu ihnen müsste also großen Einfluss darauf haben, welches Bild sich ein junger Mensch vom Alter macht. Die Psychologin Dr. Anne-Kathrin Mayer erforscht die Kommunikation zwischen Jugendlichen und ihren Großeltern. Auf der Greifswalder Tagung stellte sie ihre neuesten Studienergebnisse vor.
"Als problematisch angesehen wird zumindest auf gesellschaftlicher Ebene ja immer wieder, dass beide Seiten gegenseitige Stereotypisierungen voneinander vornehmen. Die älteren Menschen vielleicht weniger, aber denen wird ja auch unterstellt, sie hätten ein negatives Bild ich nenne es mal von der Jugend von heute, laut, frech, verhätschelt, vor allem aber natürlich negative Altersbilder auf Seiten der jüngeren Generation. Also da die Vorstellung von: Ältere Menschen sind langweilig, sprechen nur von früher, mit denen kann man eigentlich gar nichts anfangen, und gebrechlich sind sie sowieso. Und was wir aber bestätigt haben in unseren Untersuchungen, dass das in der Familie so dramatisch gar nicht ist. Im Gegenteil, in der Regel ist das Verhältnis zwischen den Generationen da sogar relativ gut."
Enkel unterhalten sich mit ihren Großeltern am häufigsten über die Schule, ihre Freizeitgestaltung und die Familie, aber auch über die Lebensgeschichte der Großeltern. Die meisten Jugendlichen gaben an, dass sie gerne mit ihren Großeltern zusammen sind. Doch offenbar übertragen sie ihre positiven Erfahrungen nicht auf andere alte Menschen.
"Nach allem was man über die Entstehung von Stereotypen weiß, ist es so, dass Menschen auch in der Lage sind, relativ leicht Ausnahmen zu konstruieren. Jugendliche bekommen ein negatives Altersbild vermittelt über die Medien, über den öffentlichen Diskurs über Altern, sie machen parallel Erfahrungen mit ihren Großeltern und konstruieren die sozusagen als Ausnahme von der Regel. "
Die eigenen Erfahrungen mit dem Alter stimmen häufig nicht mit den gesellschaftlichen Klischees überein. Dennoch halten sich die negativen Altersstereotype hartnäckig in unseren Köpfen. Das heißt: Manche Erzählungen über das Alter haben eine deutlich stärkere Wirkungsmacht als andere. Christiane Streubel:
"In der Forschung spricht man in diesem Zusammenhang auch von bestimmten Meistererzählungen. Meistererzählungen, das sind große Erzählungen, sehr sehr einflussreiche Vorstellungen davon, wie etwas ist. Also eine berühmte Meistererzählung ist sicherlich auch: Frauen können besser mit Kindern umgehen. Und sollten deswegen zu Hause bleiben und Männer sollten arbeiten gehen. Und ganz ähnlich ist es eben mit dem Alter, dass man da eben die Vorstellung hat, die große Meistererzählung des Niedergangs. Ja, ein körperlicher Niedergang, ein geistiger Niedergang, am Ende steht der Tod."
"Herr Abschaffel, sagte sie, ich muss Ihnen etwas erzählen. Ich habe da vor einiger Zeit einen älteren Mann kennengelernt. [...] Haben Sie mit ihm geschlafen?, fragte Abschaffel. Ja, nein, sagte sie, ach Gott, es ist schrecklich. Wie alt ist der Mann, fragte Abschaffel. Neunundfünfzig, sagte Frau Schönböck. [...] Ich hatte ja keine Ahnung, [...] wie ein alter Mann aussieht. Seine Brust war ja noch in Ordnung, aber sein Hals war entsetzlich. Auch die Vorderseiten seiner Oberschenkel waren in Ordnung, aber die Hinterseiten. Die Knie waren nicht gut, sie hingen herunter. Das Entsetzlichste war sein Hintern, sagte sie. Wieso?, fragte Abschaffel. Faltig, und wie faltig, sagte Frau Schönböck.
Aus "Abschaffel" von Wilhelm Genazino"
Die Erzählung vom Niedergang im Alter hat eine lange Tradition. Was aber nicht bedeutet, dass sie unveränderlich ist. In jüngster Zeit klingt sie etwas anders, nämlich seitdem die Menschen länger gesund und aktiv bleiben. Heute unterteilen wir das Alter in zwei Kategorien, erklärt Anne-Kathrin Mayer.
"Wir haben nicht mehr die Alten, sondern wir haben eine ich nenne es mal Zwischengeneration jetzt, die Menschen, die so zwischen sechzig, siebzig, fünfundsiebzig sind, körperlich noch relativ leistungsfähig, geistig leistungsfähig, verhältnismäßig wohlhabend, oft wenigstens, und aktiv im Leben stehend, und dann haben wir das, was Paul Baltes, der Berliner Alternsforscher, das vierte Alter nennen würde. Nämlich die Alten, die dann in der Tat gesundheitlich abbauen, gebrechlich sind, dement werden etc. Gegenüber unserer früheren Sichtweise, wonach es eben sozusagen drei Lebensalter gibt, Kindheit, Erwachsenenalter, hohes Alter, gibt es jetzt eben vier Alter. Die jungen aktiven Alten und die alten gebrechlichen Alten."
"Und die Crux ist, dass durch diese Erzählung vom Alter alte Menschen zwar scheinbar positiver da stehen, von ihnen aber auch eben etwas verlangt wird. Sie müssen nämlich gesund sein, produktiv, nach wie vor sexuell aktiv und auch möglichst gut aussehend, um positiv besetzt zu sein in dieser Gesellschaft. Und alle negativen Altersstereotype, einsam, krank, hilflos, unselbständig werden auf das vierte Alter verlagert und sind im Grunde immer noch genauso stark da wie vorher. "
Eine weitere traditionelle Meisterzählung unserer Gesellschaft lautet, so Christiane Streubel: Frauen werden früher alt als Männer - nämlich dann, wenn sie in die Wechseljahre kommen.
"Frauen verlieren die Fähigkeit, Kinder zu bekommen und sind dann gewissermaßen wertlos für die Gesellschaft, weil das ja ihre Hauptfunktion ist. Das ging so weit, dass beispielsweise im siebzehnten Jahrhundert die Vorstellung existierte, dass grundsätzlich das menstruale Blut der Frau giftig ist. Das Problem ist ja dann, wenn die Menopause eintritt, dass das Blut den Körper der Frau dann nicht mehr verlässt. Das heißt, sie vergiftet von innen heraus. Und das war eine ganz starke Vorstellung, die beförderte, Frauen werden, wenn sie alt werden, böse, gefährlich, eine Hexe. "
Medizinisch betrachtet eine absurde Vorstellung - aber sie hält sich weiterhin in den Köpfen. Noch wirkungsmächtiger ist das Bild der liebevollen Großmutter. Es entstand am Ende des siebzehnten Jahrhunderts, zu der Zeit, als die Menschen erstmals in den Altersruhestand gingen. Im Großmutterbild steckt die Vorstellung: Die Frau führt ihre naturgegebene Familienrolle bis ins hohe Alter fort, und ihr Interesse beschränkt sich weiterhin auf das Wohlergehen der Kinder und Enkel. Eine zweifelhafte Annahme, wie viele meinen.
"Wenn man in unserer Gesellschaft eine Musterfigur nennen will für Hilflosigkeit oder Unbedarftheit, oder Unfähigkeit zu reagieren, dann sagt man nicht, ja, wie soll denn ein unerfahrener Sechzehnjähriger damit klar kommen, sondern man sagt, wie soll denn ein altes Mütterchen damit klar kommen. Das ist die Standardformulierung, die zeigt, dass alte Frauen bei uns die Omega-Hühner sind."
Im Bild der inkompetenten alten Frau wirkt eine doppelte Stigmatisierung, erklärt die Historikerin Christiane Streubel. Einerseits die Vorstellung, Frauen seien von Natur aus weniger klug als Männer, andererseits die Annahme, im Alter würde zwangsläufig ein geistiger Verfall einsetzen. Auch hier gilt: Diese Klischees entbehren jeder realen Grundlage. Frauen machen mittlerweile die besseren Schul- und Universitätsabschlüsse, und in mancher Hinsicht haben alte Menschen sogar größere geistige Fähigkeiten als junge. Zum Beispiel beim Wortschatz.
"Also das semantische Gedächtnis, das Begreifen von Bedeutungen von Worten und das damit Umgehen können wird im Alter besser, also man kann es tatsächlich immer wieder auch zeigen, dass diese Vorstellung des klaren linearen Niedergang tatsächlich auch medizinisch nicht korrekt ist. Trotzdem ist er aber in unserer Vorstellung vom Alter extrem stark verankert. Irgendwann geht es unausweichlich bergab, und man wird eben dümmer, verschusselter, wird zum Narr im Grunde. Also dieses Bild des Narren, des alten Narren, hat auch eine sehr sehr lange Geschichte."
Und auch die schreiben wir immer weiter fort, sagt die Psychologin Anne-Kathrin Mayer - sei es in privaten Kontakten oder im Beruf, etwa als Arzt oder Krankenpfleger. So hätten Studien ergeben: Wer nicht bewusst dagegen ansteuert, verändert automatisch sein Sprechverhalten, wenn er auf einen alten Menschen trifft.
"Dass junge Menschen dann, oder generell Gesprächspartner älterer Menschen einfacher reden, weniger Fremdworte benutzen, einen anderen Tonfall einschlagen, also etwas betonter sprechen, intonieren, dass sie weniger komplexe Sätze verwenden und versuchen auch, sich thematisch auf die vermeintlichen Interessen Älterer einzustellen, also wir reden einfach mit einem älteren Menschen nicht so, wie wir mit einem jüngeren Menschen reden würden. Und was wir im Moment in unserer Arbeitsgruppe untersuchen, sind auch Möglichkeiten, wie können ältere Menschen darauf reagieren. Also wie können die sich eben gegen eine solche Form des Angesprochenwerdens zur Wehr setzen, ohne dass sie von ihrem Gesprächspartner als unsympathisch oder unfreundlich abgewertet werden."
Eines machte die Tagung in Greifswald deutlich: Der Mensch kann gar nicht anders, als Geschichten zu erzählen. Denn selbst das Gedächtnis ist wie eine Erzählung strukturiert - eine Erzählung allerdings, die sich immer wieder verändert. Und in dieser Dynamik, so die Wissenschaftler, liege auch auf gesellschaftlicher Ebene eine Chance. Das heißt: Die vielfältigen Erzählungen über das Alter müssen zunächst als solche erkannt werden, und, wenn sie sich als schädlich erweisen, umgeschrieben werden. Schädlich sind sie dann, wenn sie unser Denken darüber, wie ein alter Mensch ist und zu sein hat, einengen. Zum Beispiel galt es für alte Frauen lange Zeit als gefährlich, Sport zu treiben. Ihnen war es sogar verboten, an Marathonläufen teilzunehmen. Doch einige Frauen schrieben diese Erzählung einfach um, indem sie erfolgreich mitliefen. Ein solcher Widerstand gegen Negativstereotype werde heute immer dringender, meint die Psychologin Anne-Kathrin Mayer. Nicht zuletzt, weil immer mehr alte Menschen keine Familie haben und ihre Interessen gegenüber Fremden, zum Beispiel Pflegepersonen, durchsetzen müssen.
"Was man eben zeigen konnte, ist tatsächlich, dass ältere Menschen, die sich in der Kommunikation und Interaktion mit anderen als hilflos erleben, dass deren Selbstwertgefühl leidet, dass die sich auch in künftigen Gesprächen unsicherer verhalten, und dass das dazu beitragen kann, dass der Prozess des Alterns auf der psychischen und irgendwann aber auch durch die Inaktivität, die ausgelöst wird, auf der physischen Ebene, dass dieser Alternsprozess sich dadurch beschleunigt, und dass das in der Tat auch zu einer Verkürzung der Lebenszeit letzten Endes führen kann. Das heißt, das sollte noch mal unterstreichen, wie wichtig es wirklich ist, dass die Kommunikation zwischen jung und alt gelingt."
Zitat Aus Wilhelm Genazino: Abschaffel. Deutscher Taschenbuch Verlag München, 2006 (Erstausgabe 1977), S. 12f.
Eine Eingabe an den Staat der DDR. Maria K. war nur eine von vielen, die sich über die Rentengesetze empörten. In den 1970er und 80er Jahren fühlten sich viele alte Menschen ungerecht behandelt und machten ihrer Unzufriedenheit Luft. Die Historikerin Dr. Christiane Streubel hat Eingaben von DDR-Bürgern untersucht, die damals eine höhere Rente einforderten.
"Da ist dann die Argumentation eben ganz stark, wir sind die geschädigte Generation. Das heißt, wir sind eine Generation, die ganz viel Schreckliches erlebt hat, ohne eigenes Verschulden, wird dann gesagt, viele Kriege, und da wird eben argumentiert, das war zu einer anderen Zeit, in einem schlechteren System, und jetzt muss doch dieses angeblich gute System dafür sorgen, dass es mir hier in dieser Zeit besser geht."
An den Ministerrat der DDR - Es ist zu beschämend, wenn man 51 Arbeitsjahre nachweist, und nur 240 Mark bekommt, die zum Leben zu wenig und zum Sterben zu viel sind. Ich habe Ihnen berichtet, dass ich von 1927 - 1933 aktiv bei der KPD mitgewirkt habe. Man wollte mich noch sechs Wochen vor Kriegsende nach Buchenwald bringen, aber der Luftschutzleiter hat es verhindert. Ich war ein halbes Jahr in ärztlicher Behandlung und dann vier Wochen im Nervensanatorium. Meine Nerven sind ruiniert und kein Arzt ist fähig, meine Gesundheit wieder herzustellen. Nun frage ich mich, wofür habe ich meine Gesundheit geopfert, keinen Dank, keine Anerkennung. Ich habe zwei Eingaben zum hiesigen Amt für Sozialwesen gemacht, mit der Antwort, für eine kleine Rente reicht es nicht aus. Man sollte doch von einem sozialistischen Staat meinen, dem kapitalistischen Staat gegenüber einen Schritt voraus zu sein, aber leider das Gegenteil. - Walter K., Hildburghausen, den 6.4.1976
"Das Ganze muss man natürlich immer von der Quellenproblematik her betrachten, dass wir natürlich nur einen kleinen Ausschnitt aus diesem Leben bekommen über diese Eingaben. Weil die ja sehr zielgerichtet sind. Diese Menschen hätten sicherlich über ihr Leben im Alter in der DDR bei einem anderen Publikum ganz anders erzählt. Erzähle ich das jetzt einem Nachbarn. Erzähle ich das möglicherweise einem Verwandten aus der Bundesrepublik Deutschland, den ich vielleicht auch doch damit beeindrucken möchte, dass ich in einem guten System lebe. Also das ist immer in einem hohen Maße Ausmaß sind diese Quellen abhängig von der Frage, wer spricht da eigentlich mit wem."
Christiane Streubel hat eine internationale Tagung mitorganisiert, die Anfang der Woche an der Universität Greifswald stattgefunden hat. Der Titel lautete: "Geschichten mit und ohne Bart. Narrative Konstruktionen von Alter und Geschlecht". Ziel der Tagung war, das Bewusstsein dafür zu schärfen, dass Erfahrungsberichte immer die Form von Erzählungen haben, die je nach Sprecher und Zielgruppe völlig unterschiedlich ausfallen können. Das heißt: Über das Alter kursieren sehr verschiedene Erzählungen. In den Eingaben an den DDR-Staat entsteht zum Beispiel ein Bild von verbitterten Menschen, die am Rande des Existenzminimums leben. Eine ganz andere Geschichte erzählten die offiziellen DDR-Medien. Dort war das Altersbild extrem positiv, sagt Christiane Streubel. Denn anhand der Lebensgeschichten von alten Menschen sollte vermittelt werden, dass die DDR ein humaner Staat und das bessere Deutschland sei.
"Beispielsweise finden wir in einer Illustrierten der DDR mit vielen bunten Bildern einen großen Bericht über eine goldene Hochzeit. Und dort beschreibt dann der Journalist, wie dieser sehr sehr alte Mann plötzlich in Tränen ausbricht und sich daran erinnert, wie grauenvoll schlecht es ihm doch im Kaiserreich gegangen sei. Dass sie da als Söhne eines armen Knechts gelebt haben und ständig drangsaliert worden sind von dem großen Bauern, dem der Hof gehörte. Und er ist dann für die Kinder, für die Enkel der Zeuge, dass tatsächlich alles besser geworden ist in der DDR und dass man jetzt endlich glücklich leben kann. "
Alte Menschen als Zeugen der Geschichte - eine übliche Erzählweise auch innerhalb der Familie. Die Großmutter, die stets betont, sie sei Kriegerwitwe, der Großvater, der bei jedem Sonntagskaffee über seine Kriegsleiden klagt - für viele Kinder, die in den 1970er und 80er Jahren aufgewachsen sind, ein prägendes und zugleich abschreckendes Bild. Alter - bedeutete das, nur nach hinten zu blicken? Den verlorenen Jahren nachzutrauern und sich nicht mehr für die Gegenwart zu interessieren? Die Großeltern sind in der Regel die ersten alten Menschen, die ein Kind kennen lernt. Der Kontakt zu ihnen müsste also großen Einfluss darauf haben, welches Bild sich ein junger Mensch vom Alter macht. Die Psychologin Dr. Anne-Kathrin Mayer erforscht die Kommunikation zwischen Jugendlichen und ihren Großeltern. Auf der Greifswalder Tagung stellte sie ihre neuesten Studienergebnisse vor.
"Als problematisch angesehen wird zumindest auf gesellschaftlicher Ebene ja immer wieder, dass beide Seiten gegenseitige Stereotypisierungen voneinander vornehmen. Die älteren Menschen vielleicht weniger, aber denen wird ja auch unterstellt, sie hätten ein negatives Bild ich nenne es mal von der Jugend von heute, laut, frech, verhätschelt, vor allem aber natürlich negative Altersbilder auf Seiten der jüngeren Generation. Also da die Vorstellung von: Ältere Menschen sind langweilig, sprechen nur von früher, mit denen kann man eigentlich gar nichts anfangen, und gebrechlich sind sie sowieso. Und was wir aber bestätigt haben in unseren Untersuchungen, dass das in der Familie so dramatisch gar nicht ist. Im Gegenteil, in der Regel ist das Verhältnis zwischen den Generationen da sogar relativ gut."
Enkel unterhalten sich mit ihren Großeltern am häufigsten über die Schule, ihre Freizeitgestaltung und die Familie, aber auch über die Lebensgeschichte der Großeltern. Die meisten Jugendlichen gaben an, dass sie gerne mit ihren Großeltern zusammen sind. Doch offenbar übertragen sie ihre positiven Erfahrungen nicht auf andere alte Menschen.
"Nach allem was man über die Entstehung von Stereotypen weiß, ist es so, dass Menschen auch in der Lage sind, relativ leicht Ausnahmen zu konstruieren. Jugendliche bekommen ein negatives Altersbild vermittelt über die Medien, über den öffentlichen Diskurs über Altern, sie machen parallel Erfahrungen mit ihren Großeltern und konstruieren die sozusagen als Ausnahme von der Regel. "
Die eigenen Erfahrungen mit dem Alter stimmen häufig nicht mit den gesellschaftlichen Klischees überein. Dennoch halten sich die negativen Altersstereotype hartnäckig in unseren Köpfen. Das heißt: Manche Erzählungen über das Alter haben eine deutlich stärkere Wirkungsmacht als andere. Christiane Streubel:
"In der Forschung spricht man in diesem Zusammenhang auch von bestimmten Meistererzählungen. Meistererzählungen, das sind große Erzählungen, sehr sehr einflussreiche Vorstellungen davon, wie etwas ist. Also eine berühmte Meistererzählung ist sicherlich auch: Frauen können besser mit Kindern umgehen. Und sollten deswegen zu Hause bleiben und Männer sollten arbeiten gehen. Und ganz ähnlich ist es eben mit dem Alter, dass man da eben die Vorstellung hat, die große Meistererzählung des Niedergangs. Ja, ein körperlicher Niedergang, ein geistiger Niedergang, am Ende steht der Tod."
"Herr Abschaffel, sagte sie, ich muss Ihnen etwas erzählen. Ich habe da vor einiger Zeit einen älteren Mann kennengelernt. [...] Haben Sie mit ihm geschlafen?, fragte Abschaffel. Ja, nein, sagte sie, ach Gott, es ist schrecklich. Wie alt ist der Mann, fragte Abschaffel. Neunundfünfzig, sagte Frau Schönböck. [...] Ich hatte ja keine Ahnung, [...] wie ein alter Mann aussieht. Seine Brust war ja noch in Ordnung, aber sein Hals war entsetzlich. Auch die Vorderseiten seiner Oberschenkel waren in Ordnung, aber die Hinterseiten. Die Knie waren nicht gut, sie hingen herunter. Das Entsetzlichste war sein Hintern, sagte sie. Wieso?, fragte Abschaffel. Faltig, und wie faltig, sagte Frau Schönböck.
Aus "Abschaffel" von Wilhelm Genazino"
Die Erzählung vom Niedergang im Alter hat eine lange Tradition. Was aber nicht bedeutet, dass sie unveränderlich ist. In jüngster Zeit klingt sie etwas anders, nämlich seitdem die Menschen länger gesund und aktiv bleiben. Heute unterteilen wir das Alter in zwei Kategorien, erklärt Anne-Kathrin Mayer.
"Wir haben nicht mehr die Alten, sondern wir haben eine ich nenne es mal Zwischengeneration jetzt, die Menschen, die so zwischen sechzig, siebzig, fünfundsiebzig sind, körperlich noch relativ leistungsfähig, geistig leistungsfähig, verhältnismäßig wohlhabend, oft wenigstens, und aktiv im Leben stehend, und dann haben wir das, was Paul Baltes, der Berliner Alternsforscher, das vierte Alter nennen würde. Nämlich die Alten, die dann in der Tat gesundheitlich abbauen, gebrechlich sind, dement werden etc. Gegenüber unserer früheren Sichtweise, wonach es eben sozusagen drei Lebensalter gibt, Kindheit, Erwachsenenalter, hohes Alter, gibt es jetzt eben vier Alter. Die jungen aktiven Alten und die alten gebrechlichen Alten."
"Und die Crux ist, dass durch diese Erzählung vom Alter alte Menschen zwar scheinbar positiver da stehen, von ihnen aber auch eben etwas verlangt wird. Sie müssen nämlich gesund sein, produktiv, nach wie vor sexuell aktiv und auch möglichst gut aussehend, um positiv besetzt zu sein in dieser Gesellschaft. Und alle negativen Altersstereotype, einsam, krank, hilflos, unselbständig werden auf das vierte Alter verlagert und sind im Grunde immer noch genauso stark da wie vorher. "
Eine weitere traditionelle Meisterzählung unserer Gesellschaft lautet, so Christiane Streubel: Frauen werden früher alt als Männer - nämlich dann, wenn sie in die Wechseljahre kommen.
"Frauen verlieren die Fähigkeit, Kinder zu bekommen und sind dann gewissermaßen wertlos für die Gesellschaft, weil das ja ihre Hauptfunktion ist. Das ging so weit, dass beispielsweise im siebzehnten Jahrhundert die Vorstellung existierte, dass grundsätzlich das menstruale Blut der Frau giftig ist. Das Problem ist ja dann, wenn die Menopause eintritt, dass das Blut den Körper der Frau dann nicht mehr verlässt. Das heißt, sie vergiftet von innen heraus. Und das war eine ganz starke Vorstellung, die beförderte, Frauen werden, wenn sie alt werden, böse, gefährlich, eine Hexe. "
Medizinisch betrachtet eine absurde Vorstellung - aber sie hält sich weiterhin in den Köpfen. Noch wirkungsmächtiger ist das Bild der liebevollen Großmutter. Es entstand am Ende des siebzehnten Jahrhunderts, zu der Zeit, als die Menschen erstmals in den Altersruhestand gingen. Im Großmutterbild steckt die Vorstellung: Die Frau führt ihre naturgegebene Familienrolle bis ins hohe Alter fort, und ihr Interesse beschränkt sich weiterhin auf das Wohlergehen der Kinder und Enkel. Eine zweifelhafte Annahme, wie viele meinen.
"Wenn man in unserer Gesellschaft eine Musterfigur nennen will für Hilflosigkeit oder Unbedarftheit, oder Unfähigkeit zu reagieren, dann sagt man nicht, ja, wie soll denn ein unerfahrener Sechzehnjähriger damit klar kommen, sondern man sagt, wie soll denn ein altes Mütterchen damit klar kommen. Das ist die Standardformulierung, die zeigt, dass alte Frauen bei uns die Omega-Hühner sind."
Im Bild der inkompetenten alten Frau wirkt eine doppelte Stigmatisierung, erklärt die Historikerin Christiane Streubel. Einerseits die Vorstellung, Frauen seien von Natur aus weniger klug als Männer, andererseits die Annahme, im Alter würde zwangsläufig ein geistiger Verfall einsetzen. Auch hier gilt: Diese Klischees entbehren jeder realen Grundlage. Frauen machen mittlerweile die besseren Schul- und Universitätsabschlüsse, und in mancher Hinsicht haben alte Menschen sogar größere geistige Fähigkeiten als junge. Zum Beispiel beim Wortschatz.
"Also das semantische Gedächtnis, das Begreifen von Bedeutungen von Worten und das damit Umgehen können wird im Alter besser, also man kann es tatsächlich immer wieder auch zeigen, dass diese Vorstellung des klaren linearen Niedergang tatsächlich auch medizinisch nicht korrekt ist. Trotzdem ist er aber in unserer Vorstellung vom Alter extrem stark verankert. Irgendwann geht es unausweichlich bergab, und man wird eben dümmer, verschusselter, wird zum Narr im Grunde. Also dieses Bild des Narren, des alten Narren, hat auch eine sehr sehr lange Geschichte."
Und auch die schreiben wir immer weiter fort, sagt die Psychologin Anne-Kathrin Mayer - sei es in privaten Kontakten oder im Beruf, etwa als Arzt oder Krankenpfleger. So hätten Studien ergeben: Wer nicht bewusst dagegen ansteuert, verändert automatisch sein Sprechverhalten, wenn er auf einen alten Menschen trifft.
"Dass junge Menschen dann, oder generell Gesprächspartner älterer Menschen einfacher reden, weniger Fremdworte benutzen, einen anderen Tonfall einschlagen, also etwas betonter sprechen, intonieren, dass sie weniger komplexe Sätze verwenden und versuchen auch, sich thematisch auf die vermeintlichen Interessen Älterer einzustellen, also wir reden einfach mit einem älteren Menschen nicht so, wie wir mit einem jüngeren Menschen reden würden. Und was wir im Moment in unserer Arbeitsgruppe untersuchen, sind auch Möglichkeiten, wie können ältere Menschen darauf reagieren. Also wie können die sich eben gegen eine solche Form des Angesprochenwerdens zur Wehr setzen, ohne dass sie von ihrem Gesprächspartner als unsympathisch oder unfreundlich abgewertet werden."
Eines machte die Tagung in Greifswald deutlich: Der Mensch kann gar nicht anders, als Geschichten zu erzählen. Denn selbst das Gedächtnis ist wie eine Erzählung strukturiert - eine Erzählung allerdings, die sich immer wieder verändert. Und in dieser Dynamik, so die Wissenschaftler, liege auch auf gesellschaftlicher Ebene eine Chance. Das heißt: Die vielfältigen Erzählungen über das Alter müssen zunächst als solche erkannt werden, und, wenn sie sich als schädlich erweisen, umgeschrieben werden. Schädlich sind sie dann, wenn sie unser Denken darüber, wie ein alter Mensch ist und zu sein hat, einengen. Zum Beispiel galt es für alte Frauen lange Zeit als gefährlich, Sport zu treiben. Ihnen war es sogar verboten, an Marathonläufen teilzunehmen. Doch einige Frauen schrieben diese Erzählung einfach um, indem sie erfolgreich mitliefen. Ein solcher Widerstand gegen Negativstereotype werde heute immer dringender, meint die Psychologin Anne-Kathrin Mayer. Nicht zuletzt, weil immer mehr alte Menschen keine Familie haben und ihre Interessen gegenüber Fremden, zum Beispiel Pflegepersonen, durchsetzen müssen.
"Was man eben zeigen konnte, ist tatsächlich, dass ältere Menschen, die sich in der Kommunikation und Interaktion mit anderen als hilflos erleben, dass deren Selbstwertgefühl leidet, dass die sich auch in künftigen Gesprächen unsicherer verhalten, und dass das dazu beitragen kann, dass der Prozess des Alterns auf der psychischen und irgendwann aber auch durch die Inaktivität, die ausgelöst wird, auf der physischen Ebene, dass dieser Alternsprozess sich dadurch beschleunigt, und dass das in der Tat auch zu einer Verkürzung der Lebenszeit letzten Endes führen kann. Das heißt, das sollte noch mal unterstreichen, wie wichtig es wirklich ist, dass die Kommunikation zwischen jung und alt gelingt."
Zitat Aus Wilhelm Genazino: Abschaffel. Deutscher Taschenbuch Verlag München, 2006 (Erstausgabe 1977), S. 12f.