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Geschichten von Migranten - damals und heute

Die Themen Migration und Integration sind auch in der Jugendbuchliteratur angekommen. Romane aus Deutschland und aus Übersee nehmen die Leser mit auf eine Zeitreise: vom Flandern Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts über das Ruhrgebiet der sechziger Jahre bis ins Berlin von heute. Und auf eine Weltreise durch kleine türkischen Dörfer, die Megacity New York, von Mexiko bis nach Australien. Geschichten von Migranten von damals und heute.

Von Simone Hamm | 23.06.2007
    Eine Schule in Berlin. Die meisten der der Schüler haben türkische oder arabische Eltern. Sie leben in den nahegelegenen Wohnblocks. Dorthin ist auch Bernd umgezogen. Bernd ist neu an der Schule, ist mit seiner Mutter in einem Hochhauskomplex. Und so sieht er sich selbst:

    Bernd, eigentlich Bernhard, unscheinbar, nachmittags lesend in der Wohnung und ängstlich beim Betreten der Treppenhäuser, vor allem der Fahrstühle und Höfe, in denen selten Deutsch gesprochen wird.

    Doch die deutschen Schüler stammen aus wohlhabenderen Familien, die in properen Einfamilienhäusern leben. Und mancher von ihnen, hält sich für etwas Besseres. Die Konflikte schienen vorprogrammiert. Der Schriftsteller Michael Wildenhain, Jahrgang lebt mit seiner Familie in Berlin. Er hat seine eignen und die Erfahrungen seiner Kinder in seinen Roman " Mit heißem Herz" einfließen lassen.

    " In meiner Geschichte ist die Situation, die man in allen großen westeuropäischen Städten finden kann, insofern verdichtet, als sich die ganzen Probleme an einer Schule abspielen. Es gibt da eine höchst ambivalente Schülerschaft.

    Ich selbst habe zwei Viertel vor Augen gehabt, als ich die Wohnquartiere meiner handelnden Personen konturiert habe, die nicht allzu weit auseinander liegen, zum einen das Viertel Böckler Park/Kottbusser Tor, so ein Hochhausviertel und zum anderen ein Viertel, das eigentlich aus Einfamilienhäusern besteht und in der Nähe vom Tempelhofer Flughafen liegt. Und das ist voneinander höchstens eines Kilometer entfernt, aber vollkommen unterschiedlich. Dieses Aufeinanderprallen finde ich interessant und das ist natürlich noch einmal in meiner Geschichte zugespitzt, insofern als dass sich alle an einer Schule wieder finden. Das ist denkbar, muss aber nicht so sein. "


    Aus reichen Elternhäusern stammen Xenia und ihr Freund Mek. Mek hasst die Araber, er schließt sich einer rechten Organisation an. Als er einen Jungen aus der arabischstämmigen Clique auf dem Schulklo tödlich beleidigt, zieht dieser sein Messer. Durch eines der Löcher, die man häufig in diesen Klokabinen findet, beobachtet Bernd das Geschehen. Er ist nicht unbedingt der Meinung, dass es den Falschen getroffen hat.

    Die Lehrer wollen die Gewalt an ihrer Schule nicht länger hinnehmen. Sie beschließen eine "pädagogische Maßnahme". Die Schüler sollen gemeinsam Romeo und Julia aufführen. Michael Wildenhain:

    " Die Schüler betrachten das ja eher ambivalent. Es kommt ihnen ein bisschen grotesk vor, solch eine Maßnahme zu ergreifen, einige finden sich dann doch, weil sie feststellen, dass Theater eine gute Sache sein kann und insbesondere für Bernd ist es die Chance überhaupt aus dem Lesen herauszukommen und ins Leben zu treten. Denn er wird der Regisseur. Das hat er sich schon immer gewünscht. "

    Die Jugendlichen sind infiziert vom Theatervirus. Doch letztlich tragen Proben für "Romeo und Julia" nicht dazu bei, die Wogen zu glätten. Es bleibt der hilflose Versuch der Pädagogen. Der ständige Streit zwischen Türken, Arabern und Deutschen kann nicht mit einer einzigen Theateraufführung gelöst werden. Der Konflikt eskaliert, als Xelia, die die Julia spielt, sich in den türkischen Romeo namens Bora verliebt. Bora ist ein Träumer, der sich immer mehr in seine Liebe hineinsteigert. Durch Bora lernt Xelia ein ganz anders Berlin kennen: Bernd beobachtet sie bei einem Ausflug in eine für sie fremde Welt:

    Xelia betrachtete die Geschäfte, die Imbisse, die Banken, die Reisebüros, überwiegend türkisch, manchmal arabisch, als bewege sie sich in einem ihr völlig unbekannten Land. Sie weiß nicht, ob sie die Passanten, die Frauen mit und ohne Kopftuch, die Jungtürken in den Edelautos mit und ohne Pitbull auf der Rückbank, offen anschauen oder besser beiseite blicken soll. Ebenso wenig weiß sie, ob das laute Reden der arabischen Jugendlichen aggressiv gemeint ist oder nicht. Sie hält sich dicht bei mir. Ich kann es spüren.

    Beim Theaterspielen versuchen Bora und Xelia zu vergessen, wie stark ihre beiden Cliquen verfeindet sind, wie die Familien von Romeo und Julia. Michael Wildenhain:


    " Dass Theater bei Schülern etwas weckt, davon würde ich absolut ausgehen und dass ähnliche Projekte auch positive Auswirkungen haben. Der Punkt ist nur: Wenn sich in der Realität derartige Konflikte auftun, dann wird ja sehr oft so operiert, dass man sagt, okay, wir brauchen jetzt ein Projekt, wir brauchen jetzt einen Krisenmanager, wir brauchen jetzt eine Supervisionseinrichtung. Und das finde ich, ist etwas spät und sehr vordergründig, denn die Konflikte haben ja eine lange Geschichte und im Prinzip muss man an einem Punkt intervenieren, wo der Konflikt noch gar nicht sichtbar wird und wo sozusagen die lange Vorgeschichte dahingehend verändert worden wäre, dass sie sich gar nicht erst in einen Konflikt hineinentwickelt hätte. Und das ist das große Problem. Nicht, dass Theater nicht eine ganze Reihe von Schülern ansprechen könnte, sondern dass pädagogische Maßnahmen immer erst ergriffen werden, wenn das Kind in den Brunnen gefallen ist. "
    Mek, die Mitschüler aus seiner Clique und etliche seiner rechtsradikalen Freunde überfallen brutal eine Probe, werfen mit Flugblättern um sich, auf denen steht, es gäbe zu viele muslimische Jugendliche in der Schule, in der Stadt, im ganzen Land. Mit Stangen schlagen sie auf die Schauspieler ein. Bora zückt sein Messer und verletzt einen der Angreifer lebensgefährlich. Kann man jetzt noch Romeo und Julia aufführen?

    Michael Wildenhain macht deutlich, dass keine noch so gut gemeinte pädagogische Theateraufführung den Hass der verfeindeten Jugendgruppen in Luft auflösen wird. Eine Lösung bietet er nicht an. Er schildert die Berliner Wirklichkeit genau so, wie er sei aus eigener Erfahrung und der Erfahrung seiner Kinder kennt.

    " In einem fiktionalen Buch werdend die Dinge natürlich immer fokussiert und ein Stück weit zugespitzt, aber es wird allgemein gesagt, dass der Gebrauch von Messern zugenommen hat und es gibt immer wieder Fälle, wo aus harmlosen Konflikten im BVG Bus ganz schnell eine Messerstecherei wird mit teilweise sehr, sehr ernsten Verletzungen. Es wird auch gesagt, dass die Geschwindigkeit, mit der die Beteiligten sehr brutal werden, zugenommen hätte, dass die Bereitschaft, wenn dann mal ein Konflikt aufbricht, keinerlei Regeln gelten zu lassen, extrem gestiegen sei. "


    "Mit heißem Herz" ist also ein Stück knallharter Realität. Für junge Leser, die nichts in rosarot getaucht sehn wollen, spannend und mit einem ungeheuren Drive geschrieben. Wildenhain hat sich viel vorgenommen. Er lässt seine Protagonisten "Romeo und Julia aufführen" und er lässt sie zugleich eine Romeo und Julia Geschichte erleben. Er hat sich nicht verhoben an dem großen Stoff. Eindringlich schildert er die Liebe von Bora und Xelia - und die Unmöglichkeit, diese Liebe zu leben.

    Schade nur, dass der Roman, der so gut geschrieben und sprachlich sehr genau ist " mit heißem Herz" betitelt ist und nicht "Mit heißem Herzen".


    Michael Wildenhain Roman ist vom Juni 2007. Bereits 1999 erschien Dilek Zaptcioglus Roman: "Der Mond isst die Sterne auf.", der mit dem Gustav Heinemann Friedenspreis ausgezeichnet wurde und gerade wieder neu aufgelegt worden ist. Auch "Der Mond isst die Sterne auf" spielt in Berlin. Auch vor acht Jahren gab es Neonazis, flogen die Fäuste. Wenn man davon ausgeht, dass beide Romane äußerst realistisch sind, hat sich nichts geändert im Zusammenleben von Deutschen und Migranten. Ein ganzes Jahrzehnt lang nicht.

    Auch Dilek Zaptciologlus Hauptperson Ömer lasst sich begeistern für die Literatur. Sein Held heißt Heinrich Heine. Ömer hat seine Jugend immer für endlos gehalten. Musikhören, vor allem den türkischen Superstar Tarkan, fürs Abi, für eine bessere Zukunft lernen, Freunde treffen. Tropfen für Tropfen genießt er das Leben. Alter, Tod sind Fremdworte für ihn.

    Alles verändert sich, als sein Vater eines Abends nicht nach Hause kommt. Der Vater ist ein so genannter "Gastarbeiter" der ersten Generation, der seine Familie Jahre später nachholte. Er arbeitet hart, und nach der Arbeit geht er manchmal ins Kaffeehaus.

    An dem Abend, als nicht heimkehrt, wird er aus der Spree gefischt. Zuvor ist er in einer Kneipe gewesen - und genau dorthin haben sich auch ein paar Skinheads verirrt. Haben sie etwas mit dem Sturz ins Wasser zu tun? Der Vater kann nicht antworten, er liegt im Koma.

    Ömer und seine Freunde aber sind davon überzeugt. Sie wollen es herausfinden. Sie fahren in den Berliner Osten.

    Irgendwie war das aberwitzig. Man baut eine Synagoge wieder auf und muss sie so schwer bewachen, dass man als Normalbürger Angst hat, vorbeizuschlendern. In zehn Metern Entfernung die Nutten in überlangen Lackstiefeln und einem Rock, der knapp über dem Hintern endet. Verrückte Kneipen hinter pockennarbigen Fassaden. Und drei Türken und ein Deutscher in einem knallroten Auto auf der Suche nach Skinheads in einem Land, in dem bis vor kurzem "Hoch die internationale Solidarität" gebrüllt wurde. Auf der Suche nach Angreifern eines alten Mannes, der noch nie etwas von einem Staat namens DDR gehört hatte, als er 3000 Kilometer weit weg sein Dorf verließ. Plötzlich erschien mir Berlin ganz fremd, so fremd wie mein Vater selbst.

    Die Polizei leitet eine Untersuchung ein und der kluge Kommissar Löbel gibt Ömer zu verstehen, dass nichts so ist, wie es aussieht, dass alle ihre kleinen und großen Geheimnisse haben. Vielleicht also auch Ömers Vater. Nach und nach kommt Ömer diesen Geheimnissen auf die Spur. Sein Vater war nicht unbedingt der, für den er ihn gehalten hat.

    Und während in Köln 20.000 Menschen gegen das Berliner Attentat auf einen Türken demonstrieren, der von Unbekannten in die Spree geworfen wurde, erkennt Ömer, dass alles auch ganz anders gewesen sein könnte.

    Ömer steckt mitten im Abitur und müsste eigentlich für die mündlichen Prüfungen lernen. Im Deutschunterricht lesen sie Heinrich Heine - und Ömer entdeckt eine neue Welt.

    Ich las (die Bücher) nicht nur, nein ich fühlte sie, fasste sie, tauchte in die Meere aus Buchstaben. Um mich herum nichts als ein Meer von kleinen Seelen, hatte er geschrieben, und dass ihm das brennende Elend im Herzen noch lieber war als die kalte Erstarrung. Ich schloss die Augen und tauchte ein in den süßen Schmerz, fühlte den Riss, der durch unsere Herzen ging, den großen Weltriss, der die Erde zerteilte und uns für immer auf der falschen Seite stehen ließ. Ich hatte einen neuen Freund gefunden, aber er war leider schon ziemlich lange tot.


    Dilek Zaptcioglu schreibt aus Ömers Perspektive. Ömer ist ein genauer, gefühlvoller Beobachter, der mit den Worten umzugehen weiß. Er empfindet tief, er beschreibt seine Gefühle von Zerrissenheit, seine Einsamkeit.

    Die Autorin spielt mit den Zeiten. Als Ömer Heine liest, ahnt er noch nicht, dass auch er unglücklich verliebt sein wird, denn das Mädchen, das er so sehr mag, trifft sich mit seinem besten Freund. Die Lektüre nimmt die Empfindungen vorweg.

    Die Autorin fügt eine zweite Ebene ein: die Erinnerungen des Vaters an das andere Leben, das er parallel geführt hat.

    Und es gelingt ihr, einen sehr spannenden Roman zu schreiben über die jungen Türken, die in Berlin geboren sind oder als ganz kleine Kinder nachgeholt wurden. Die genauso leben wie ihre gleichaltrigen deutschen Klassenkameraden und die sich doch nie so ganz heimisch fühlen.

    Als Ömers Vater ins Krankenhaus kommt, gerät Ömers Welt aus den Fugen. Fragil ist sie gewesen, die deutsch - arabisch - türkische Gemeinschaft in der Schule, so fragil, dass die türkischen Jungen erst nach langer Diskussion zulassen, dass auch die deutschen Freunde mitmachen dürfen bei der Spurensuche nach dem, was in jener verhängnisvollen Nacht geschehen ist. Klug lässt Dilek Zaptcioglu ihren Roman weder mit übertriebenen Hoffnungen auf ein reibungsfreies Miteinander von Deutschen und Migranten enden, mit überschwänglicher Freude über Multikulti - noch mit den bösen Vorahnungen eines Zivilisationskraches. "Der Mond isst die Sterne auf" hat ein offenes Ende.

    Die erste Generation kam mit einem Koffer aus Holz. Der Vater arbeitet sein Leben lang in der Fabrik. Die Mutter ist scheu, sie spricht nicht viel. Ömer macht sein Abitur, nimmt seine Chancen war. Er ist gebildet, sprachgewandt. Viel hat sich getan in der zweiten Generation der Einwanderer.


    Zwei Romane aus Berlin, die sich mit latentem und weniger latentem Fremdenhass beschäftigen, die aber auch die türkischen und arabischen Jugendlichen nicht wie Chorknaben aussehen lassen - Kinder der ersten Einwanderer. Von ebenjenen, der Generation der Väter, von den ersten "Gastarbeitern" erzählt Hermann Schulz in seinem Roman "Iskender", der gerade als Taschenbuch herausgekommen ist. Deutschland, Anfang der 60 -ziger Jahre. Zu den ersten "Gastarbeitern" gehört auch Asaf Karpat. Der junge Mann aus einem kleinen Dorf in der Nähe Antalyas möchte im Ruhrgebiet sein Glück machen. Bescheiden lebt er in einem Wohnheim. Da lernt er die blonde Agnes kennen.

    Sie arbeitete in der Bar zur Eiche im Duisburger Stadtteil Ruhrort. Von jenem Viertel hatte Asaf viel gehört. In den Arbeitspausen im Walzwerk erzählten Türken, Italiener und Deutsche von Ruhrort und sie taten sehr geheimnisvoll. Wenn man sich richtig amüsieren wolle, so sagten sie, solle man nach Ruhrort fahren. Nach drei Straßenbahnhaltestellen sei man schon im Paradies. Da müsse man nicht lange fragen, wenn man mit einer Frau sprechen wolle, da sei alles erlaubt. Wirklich alles.


    Er geht mit Agnes in den Zoo, er besucht sie, er verliebt sich in sie. Als er merkt, dass er nicht der einzige Mann für sie ist, trennt er sich, geht nach Frankfurt, dann zurück in die Türkei, um seinen Militärdienst zu leisten. Vergessen kann er sie nicht. Als ein bester Freund, ein Türke, der in Deutschland geblieben ist, ihm schreibt, das Agnes ein Kind von ihm bekommen habe, zählt er die Tage, bis er wieder in Deutschland sein wird. Er sucht nach Agnes und dem Kind, erfährt schließlich, dass sie bei einem Unfall ums Leben gekommen sei. Ihr Sohn Alexander sei in einem Heim. In einem Heim für behinderte Kinder. Denn Alexander spricht nicht, kann keine Berührung aushalten. Asaf besucht seinen Sohn und weil die Psychologen gerührt sind von der Hartnäckigkeit des einfachen Mannes, darf er öfter kommen. Eines Morgens ist Alexander verschwunden.

    In einem kleinen Dorf in der Türkei bringt ein junger Mann seinen verschlossenen, schweigsamen Sohn zu seinen Eltern. Sie nennen ihn Iskender. Dort wird er Schafe hüten, sprechen lernen, Freunde haben. Bis die deutschen Behörden einen Tipp erhalten. Ein Junge, der dringend psychologische Hilfe brauche, lebe als Schafhirt in der hintersten Türkei.

    Monate waren vergangen. Iskender hatte sich verändert. Er war braun gebrannt, seine Haare waren struppig und von der Sonne gebleicht. Seine Großeltern glaubten, seine Augen seien noch heller geworden. Ali lobte seine Umsicht bei der Arbeit und seine Neugier, alles zu erfahren, was mit Schafen und Ziegen zu tun hatte. Besonders die Angoraziegen mit dem weißen Fell hatten es ihm angetan. Das Schreiben der deutschen Behörden war kurz. Das Kind sei unverzüglich nach Deutschland zurückzuführen.


    Hermann Schulz hat das Ruhrgebiet der sechziger Jahre schon des Öfteren in grauen Tönen beschrieben. In "Iskender" zeigt er das Leben der ersten "Gastarbeitergeneration", jener Männer, die ohne Familie nach Deutschland kamen, die einfach lebten, um viel Geld nach Hause zu schicken und die alle die Hoffnung hatten, zurückzukehren. Die sich nach Wärme und Zuneigung sehnen - und nach Sex. Die Geschichte einer deutschen Prostituierten, ihres türkischen Freundes und des gemeinsamen Kindes, das in einem Heim für "Schwachsinnige" untergebracht war, beruht auf einer wahren Begebenheit.
    Dem kalten Deutschland, den Paragraphenreitenden Behörden setzt Hermann Schulz das einfache Leben in der Türkei gegenüber. Er glorifiziert es wahrlich nicht. Und doch kann Iskender dort mehr Liebe und auch mehr Hilfe erhalten als in jedem Heim.
    Gerade die Gegenüberstellung des türkischen Dorfes mit deutschen Großstädten, das Leben eines Schafhirten in den Bergen mit dem eines Fabrikarbeiters im Ruhrgebiet lässt das Leben der ersten Gastarbeiter noch trister, trostloser, fremdbestimmter erscheinen.
    Vergleicht man deren Leben mit dem der Kinder und Enkel, wird deutlich, um wie viel selbstbewusster und wacher die zweite und dritte Generation der Einwanderer doch ist.. Gewiss, es gibt die gewaltbereiten Migrantensöhne, die sich ausgestoßen und diskriminiert fühlen. Aber es gibt auch Einwandererkinder, die hoch hinaus wollen. Vor allem die Mädchen sind fleißig, gute Schülerinnen, bis zu einem gewissen Grade angepasst - und wollen doch ihre kulturelle Identität nicht verleugnen.

    In den sechziger Jahren wurden in der Türkei Arbeiter angeworben, die in deutschen Fabriken an Fließbändern stehen sollten: Gastarbeiter. Ganz anders ist es in den klassischen Einwandererländern USA und Australien. Hier werden hochqualifizierte, gut ausgebildete Menschen gesucht. Das heißt aber nicht, dass deren Integration problemlos von statten geht.

    Die Australierin Randa Abdel - Fattah erzählt die Geschichte des Mädchens Amal. Amals Eltern sind Ärzte, die einst aus Palästina eingewandert sind. Amal geht auf eine feine Privatschule. Sie sieht gern amerikanische Fernsehserien, verliebt sich in einen Mitschüler, leidet unter den spitzen Bemerkungen der eingebildeten Zicken in ihrer Klasse. Eine ganz normale sechzehnjährige also. "Und meine Welt steht Kopf" ist ein flott geschriebener Roman, den die jungen Leserinnen schnell und mühelos herunterlesen können. Witzig und trendy und oberflächlich wie die Soaps, die Amal und ihre Freundinnen so gern sehen. Ohne Anspruch auf literarische Qualitäten, bisweilen aber recht unterhaltsam.

    Amal fasst einen Entschluss: Sie möchte das Kopftuch, den Hijab tragen. Wie werden ihre Klassenkameraden reagieren?

    Überrascht sind sie alle. Die Freundinnen diskutieren mit ihr über Religion, die Konkurrentinnen verachten sie und der angeschmachtete Junge ist verunsichert. Die Lehrer fürchten, Amals Eltern könnten sie gezwungen haben, das Kopftuch zu tragen.

    Amal möchte aller Welt zeigen, dass sie eine gläubige Muslima ist und doch genauso wie die anderen Mädchen. Dass das nicht immer verstanden wird, merkt sie, als sie mit ihren Freundinnen ins Cafe geht. Sie beobachten drei sehr dünne Mädchen:

    "Die sehen aus, als bräuchten sie die Unterstützung von der Welthungerhilfe. Einen Dollar pro Tag, um sie aufzupäppeln. Ich bin dafür, dass wir eine Patenschaft für sie übernehmen." Ich zupfe unsicher an meinem Oberteil herum und frage mich, ob ich mit meinem Kopftuch neben diesen ganzen hippen Leuten um uns herum bestehen kann. Wahrscheinlich war es doch ein Fehler herzukommen. Ich passe einfach nicht hier rein. Klar, meine Klamotten und Accessoires sind völlig okay und entsprechend den Trendvorschriften. Aber wenn man den Hijab trägt, kann man auch gleich im Faltenrock kommen. Ich kriege natürlich mit, dass mich einige Leute von der Seite anstarren.


    Amal setzt sich durch. Sie stammt aus einer aufgeklärten Familie. Die Familie ihrer Freundin Leila hingegen ist sehr traditionell. Leilas Mutter möchte nicht, dass ihre Tochter studiert, sondern schleppt immer neue Heiratskandidaten an. Darum vor allem geht es Randa Abdel-Fattah, zu zeigen, dass nicht eine muslimische Familie wie die andere ist, und dass ein Mädchen klug und selbstbewusst sein kann, wenn sie sie sich dazu entschließt, das Kopftuch zu tragen. " Und meine Welt steht Kopf" wird vor allem die Mädchen ansprechen, die leichte Unterhaltung bevorzugen, für die die Jugendbuchverlage ganze Reihen, wie etwa freche Mädchen, entworfen haben. Hier darf man nicht allzu strenge literarische Kriterien anlegen, hier geht es eher darum, um Verständnis zu werben für das Fremde.
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    Das andere klassische Einwanderungsland ist Nordamerika. Mit rigiden Vorschriften versuchen die USA, all jenen die Einreise zu verwehren, die nicht über Bildung und Wissen oder technische Fähigkeiten verfügen. Dennoch werden viel Arbeiten in Restaurants und in Haushalten von illegalen Einwanderern aus Südamerika getan. Das wird stillschweigend akzeptiert. Anders könnte die amerikanische Gesellschaft nicht funktionieren. Das Zimmermädchen, die Putzfrau, die Kinderfrau kommen oft aus Mexiko.


    Sie haben einen langen Weg zurückgelegt, sind durch die Wüste, über einen als unüberwindlich geltenden Zaun gekommen.

    "La Linea - der Traum von einem besseren Leben" heißt Ann Jaramillos dramatisches, packendes erstes Jugendbuch. Sie ist Lehrerin, gibt Englischunterricht für Migranten. Sie weiß, was manche ihrer Schüler durchgemacht haben, bevor sie in die neue Welt gekommen sind. Jeden Pfennig haben die Eltern gespart und für Schlepper ausgegeben, die sie über die mexikanisch/ amerikanische Grenze bringen sollen, über La Linea. Wenn die Flucht glückte, haben sie in Amerika wieder jeden Pfennig gespart und nach Mexiko zurückgeschickt, damit die Kinder nachkommen können, geführt von einem coyote. So macht sich auch der 15 - jährige Miguel auf, um zu seinen Eltern zu gelangen. Mit seiner Großmutter, der Schwester und Freunden feiert er ein Abschiedsfest. Man erzählt Geschichten von spukenden Geistern in der Wüste.


    Doch vor allem erzählten sie diese Geschichten, um all' jene nicht erzählen zu müssen, die tatsächlich wahr waren, diejenigen, die wir glauben MUSSTEN.

    Fatima erzählte nicht, wie ihr Bruder Eleuterio eines Tagens plötzlich fort gewesen war und zwei Wochen später erstickt in dem Anhänger eines alten Traktors eine Meile nördlich von linea mit sechsundzwanzig anderen tot aufgefunden wurde.

    Lalo erzählt nicht, wie sein Vater ausgeraubt, verprügelt und halb tot in der Wüste zurückgelassen wurde. Er erzählte nicht, wie er auf einem Ohr taub und ohne die Finger seiner rechten Hand zurückgekehrt war. Er erzählt nicht, wie sein Vater jetzt in einem abgedunkelten Zimmer verbrachte und mit niemandem sprach.

    Und niemand erwähnte die Martinez Schwester, die zehnjährige Juana und die zwölfjährige Julieta, deren Eltern für sie einen coyote organisiert hatten, der sie durch die Wüste bringen sollte. Man hat nie wieder von ihnen gehört. Niemand mutmaßte laut über das Schicksal der Mädchen. Niemand wollte aussprechen, wie sie umgekommen sein könnten oder, noch viel schlimmer, unter welchen Umständen sie womöglich noch lebten.


    Miguel wird es schaffen, gemeinsam mit seiner kleinen Schwester, die ihm gefolgt ist. Sie werden Straßenräuber und eine lebensgefährliche Fahrt auf einem Zugdach überleben, die Hitze und den Durst und die Skorpione in der Wüste. Sie werden an Sterbenden und an Toten vorbeiziehen, sie werden einen Freund verlieren. Und ihren Führer. Ganz kurz vor der amerikanischen Grenze nähert sich ein Jeep. An der Antenne flattert eine überdimensionale US Flagge. Darin sitzen zwei Männer in Tarnanzügen. Bewaffnete Männer von der Bürgerwehr. Wie einen streunenden Hund erschießen sie den Mann, der die Kinder bis la Linea gebracht hat.

    Ann Jarmillo erzählt von der gefährlichen Reise von Mexiko bis in die USA, davon, was Menschen bereit sind auf sich zu nehmen für ein besseres Leben. Wer La Linea gelesen hat, der ahnt, dass niemand seine Heimat verlässt, nur weil er anderswo ein paar Dollar mehr verdienen kann. Miguel und seine Schwester entfliehen dem nackten Elend.


    Schon immer galt Amerika als das Einwanderungsland. Die Ärmsten der Armen aus Europa begaben sich Anfang des vergangenen Jahrhunderts auf die große Reise in ein Leben, von dem sie hofften, dass es besser sein werde als das im kalten Irland, im armen Hinterland Italiens. Der Roman der erst vierundzwanzigjährigen Belgierin Aline Sax beginnt im Flandern von 1920. In Flandern gab es Missernten und die Bauern waren bitterarm. So mancher träumte von einem guten Leben in Amerika.

    " All meine Bücher sind historische Romane. Ich forsche auch ganz viel und manchmal stoße ich dann wirklich auf eine Episode aus der Geschichte und dann suche ich noch mehr. Ich lese noch mehr und forsche noch mehr. Die Geschichte entwickelt sich von selbst in meinem Kopf. Ich will keine große Botschaft mitgeben. Es ist eher zufällig, dass es ein hottes Thema ist. "


    Ein Junge macht sich Skizzen. Skizzen im Kopf. Er will die weiten Felder im Gedächtnis behalten, das Kornfeld. An die hungrigen Kinderaugen seiner kleinen Schwester Charlotte will er sich nicht erinnern. Zusammen mit ihr, seinem Bruder und seinen Eltern wird er auswandern in ein Land, in dem es genug Arbeit, genug Auskommen für alle gibt: Nach Amerika.
    Doch schon in Antwerpen endet die Fahrt für Mutter und Tochter. Charlotte hat Lungenentzündung und darf nicht aufs Schiff. Die achtzehnjährigen Zwillingsbrüder Adrian und Alexander schaffen es mit ihrem Vater immerhin bis nach Ellis Island vor New York. Dort werden die Einwanderer auf Herz und Nieren geprüft.

    " Meine Eltern waren vor vielen Jahren in N.Y. , normale Ferien. Und sie haben Ellis Island besucht. Sie sind zurückgekommen und sie haben einen kleinen Zettel mitgebracht. Ich hab' diesen Zettel gekriegt und ich habe lange nichts damit getan. Vor drei Jahren habe ich dann diesen Zettel wieder gefunden und diese Fotos, dieser Zettel haben mich wirklich gefesselt. Die Leute mit ihrem großen, großen Traum. Wie ist es denn gegangen, als sie ankamen in N.Y. ? "

    " Die meisten Geschichten enden, wenn die Leute abreisen und man hört die Geschichte, wie schlimm es in Flandern war und wie sie die große Reise angefangen haben. Aber alle Geschichten enden in Ellis Island. Und ich wollte mehr erzählen. Ich wollte anfangen, wo die anderen Geschichten aufhören. "

    Adrians Eltern verkauften ihr Hab und Gut, kratzten ihr letztes Geld für die Überfahrt zusammen und erreichten schließlich Ellis Island.

    Die Uniformierten mahnten alle zur Eile. Wir trabten die Treppe hinauf. Eine Frau vor mir stolperte über ihren Rock. Ich konnte sie gerade noch festhalten. Vater schnaufte. Er blieb kurz stehen, um wieder zu Atem zu kommen. Er konnte nicht mehr. Die Hitze, das Gedränge, das lange Warten und die letzten Spuren der Seekrankheit forderten ihren Tribut. Aber man ließ ihm keine Zeit zum Ausruhen oder auch nur zum Luftschnappen. Die Menschen hinter ihm schoben ihn voran. ..Einer der Männer in blau - goldener Uniform zog ihn aus der Reihe und schrieb mit Kreide ein großes H auf seine Jacke.

    Warum taten sie das? Was bedeutete es?


    Sein Vater, sein Bruder werden zurückgeschickt. Alexander ist auf sich allein gestellt. Zum ersten Mal in seinem Leben. Er irrt durch die große, heiße Stadt, schläft im Central Park, lässt sich all seine Habe und sein Geld stehlen, arbeitet in einer heißen, schmutzigen Hotelküche. Er versteht kein Wort, hat niemanden, mit dem er sich austauschen kann. Dieses Leben, so befindet er, sei viel anstrengender als das Leben in Flandern.

    Meine Tage bestanden aus schlafen und arbeiten. Jeden Tag aufs Neue. Wochenlang. Von Montag bis Samstag. Sonntags blieb ich so lange wie möglich im Bett, weil ich es hasste, in New York aufzuwachen. Früher bin ich immer aus dem Bett gesprungen, noch bevor ich zur Arbeit musste. Jetzt musste ich mich jeden Tag dazu zwingen, aufzustehen. Ich hasste es. Ich wollte schlafen und vergessen, wo ich war.


    Das Heimweh, die Sehnsucht nach seiner Familie zerreißen ihn fast, er fragt sich, was er Amerika soll, da trifft er Jack. Zuerst wundert er sich, wie Jack sich eine Wohnung ganz für sich allein leisten kann, genug zu essen und neu Kleider. Denn Jack ist nur ein kleiner Hotelportier. Dann weiht ihn Jack in seine Geschäfte ein. Sie tauschen Geld für die reichen Immigranten zu einem für die reichen Ausländer noch annehmbaren Kurs - und zu einem sehr günstigen Kurs für sich selber.

    Jack wird Adrians Freund, sein Vertrauter, seine große Liebe werden. Eine Liebe, gegen die Adrian sich wehren will - und gegen die er sich doch nicht wehren kann. Aline Sax:

    " Am Anfang wusste sich auch nicht, dass Adrian sich verlieben würde. Ich fing an, einen Migrationsroman zu schreiben und dann plötzlich war Adrian in New York. Er wohnt bei Jack. Dann hab' ich gedacht, aber die beiden kommen so gut aus miteinander und es ist ja eher zufällig, dass Adrian sich verliebt hat in Jack. "

    Adrian erkennt, dass er diese Liebe nur in New York leben kann, im heißen, stickigen, lauten, lärmigen New York. Jack zeigt ihm ein Leben neben dem Leben, Bars, in denen sich schwule Männer treffen, Clubs in denen sie sich wohl fühlen können ohne Angst zu haben, angezeigt zu werden.

    " Es gab in New York eine große Subkultur. Das war normalen Leuten bekannt. Aber entweder ignorierten sie das oder sie amüsierten sich damit. Sie gingen in eine Kneipe oder in eine Bar und sie guckten mal. Das war so exotisch. Alle Leute wussten es und es war nicht so geschlossen wie man denken würde und es war auch viel größer wie man denken würde. Das gab es nur in den großen Städten, wie heute noch immer. In größeren Städten ist eine größere Subkultur als in kleinen Dörfern. "

    Adrian scheint endlich angekommen zu sein. Er lebt ein anderes Leben als das, was er sich vorgestellt hat, aber eines, dass er so im katholischen, ländlichen Flandern nie hätte führen können. Auf eine gewisse Weise hat sich sein American Dream erfüllt.

    Aline Sax Roman "Eine Welt dazwischen" ist nicht nur ein historischer Roman, der sich mit dem Thema Migration beschäftigt. Es ist auch ein Entwicklungsroman und ein Adolenszenzroman. Ein Roman über einen jungen Mann, der sich in einen Mann verliebt. Über einen in der damaligen Zeit zweifachen Außenseiter also. Aline Sax potenziert Adrians Anderssein. Im Laufe des Romans tritt die Migrantenproblematik mehr und mehr in den Hintergrund. Denn letztlich sind alle Migranten in New York. Die Homosexualität, auch die körperliche Liebe zweier Männer wird zum Hauptthema.

    " Eine Welt dazwischen ist eigentlich eine Geschichte über auf der Suche sein. Auf der Suche nach sich selbst, nach Freundschaft, nach Liebe. Aber zur gleichen Zeit ist es auch eine Geschichte über das Treffen von Entscheidungen, insbesondere über neues Anfangen, abgeschnitten von allem, was man weiß und kennt. Adrian muss auch aufs Neue sein Leben aufbauen, als er in N.Y. ankommt. Auch seine Beziehung mit Jack ist schon wieder etwas ganz Neues für ihn. So kriegt die neue Welt verschiedene Meinungen in der Geschichte. "