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Geschichten wie aus der Ferne betrachtet

Alle neun Geschichten in dem Erzählband "Das weiße Meer" der 32-jährigen Schweizerin Stefanie Sourlier werden durch das Ich einer Erzählerin verbunden. Hinzu kommt der Bruder Paul, der fast ertrinkt, während die Erzählerin in einen Zustand der Starre verfällt und beobachtet.

Von Martin Grzimek | 12.07.2012
    Dich Ich-Erzählerin denkt an das Meer in Baywatch, als ihr Bruder fast ertrinkt.
    Dich Ich-Erzählerin denkt an das Meer in Baywatch, als ihr Bruder fast ertrinkt. (picture-alliance/ dpa)
    "Pauls Geigenspiel hallt von den alten Steinmauern wider. Er spielt Bach. Ich soll eine weitere Geschichte erzählen, meine Freundin wartet. Aber heute fallen mir nur wahre Geschichten ein. Wir könnten die Perlen des Vorhangs aus eingerolltem Papier aufrollen. Wir könnten Depression spielen und die Platte mit dem alten Mississippi-Jazz, Tom Waits oder Charles Aznavour hören, auf der Couch herumliegen, Chips und Schokolade essen und vielleicht etwas weinen. Aber worüber sollen wir weinen?"

    Alle neun Geschichten in dem Erzählband "Das weiße Meer" der 32-jährigen Schweizerin Stefanie Sourlier weisen in etwa das gleiche Personal auf und haben ein ähnliches Thema wie in dieser kurzen Passage aus der ersten Geschichte des Bandes mit dem Titel "Kupfersulfatblau". Alle werden durch das Ich der Erzählerin verbunden. Hinzu kommt noch Paul, beziehungsweise die Figur des Bruders, und außerdem gibt es diverse Freundinnen und Freunde, die aber zum Teil namenlos oder zumindest konturlos bleiben, sodass man sie rasch wieder vergisst. Und wenn die jeweiligen Partner der Ich-Erzählerin dann doch einmal einen Anflug von Individualität aufweisen, ähneln sie meist Figuren, die man von einem Gemälde oder einem Spielfilm her kennen soll. Soweit es nun das durchlaufende Thema betrifft, ist es das der Beliebigkeit der Handlungen. Man sitzt zusammen, erzählt sich etwas aus der Kindheit oder von einem Onkel, der sich selbst wieder an ein zurückliegendes Erlebnis erinnert, man schlendert durch einen Ferienort, durch Berlin oder durch eine fremde Stadt, verliert sich in flüchtigen Beobachtungen, eine Backsteinmauer hier, ein Fenster dort, bis der Alltag durch ein kleines Ereignis unterbrochen wird, einen Badeunfall, den Selbstmord eines Freundes und das anschließende Begräbnis.

    "Beim folgenden Essen kramte man Erinnerungen hervor, die rührendsten, die traurigsten, die lustigsten, die vielsagendsten Erinnerungen; eine Erinnerung jagte die Nächste, und jeder war ihm plötzlich nah und näher, meinem lustigen Freund. Ich war schweigsam. Im gemeinsamen Erinnern versagte meine Erinnerung, die Geschichten, die erzählt wurden, waren nicht die meinen."

    Und welche sind ‚die ihren’, die Erinnerungen der Ich-Erzählerin? In der Eingangsgeschichte "Kupfersulfatblau" geht es etwa darum, dass sie sich an einem südfranzösischen Ferienort zusammen mit ihrer Freundin langweilt und sie sich die Zeit durch Geschichtenerzählen vertreiben. Etwa die, dass die Erzählerin als Elfjährige sich das Leben hat nehmen wollen, indem sie Kupfersulfat schluckte. Das verursachte lediglich furchtbare Bauchschmerzen. Sie probiert es ein zweites Mal – mit demselben Ergebnis. Warum sie sich das Leben nehmen wollte, erfahren wir nicht, nur dass die Geschichten irgendwann ausgehen und man sich wieder langweilt. Vielleicht könnten wir also, meint die Erzählerin elegisch zu ihrer Freundin, um sich die Tristesse zu vertreiben, "etwas weinen. Aber worüber sollen wir weinen?" Das Dorf bietet auch nicht viel Abwechslung, also geht man ins Schwimmbad. Dort geschieht es dann, dass der Bruder Paul, der eigentlich ein guter Schwimmer ist, aus unerklärlichen Gründen beinahe ertrinkt, in letzter Minute aber aus dem Wasser geholt, beatmet und gerettet wird.

    "Die Bademeisterin drückt mit zwei Fingern auf Pauls Halsbeuge. Wahrscheinlich hat sie ihn rausgeholt, auf ihrer braunen Haut glänzen Wasserperlen. Ich denke an Baywatch. Weißer Strand, Palmen, eine leichte Brise, doch dann zieht ein Sturm auf und verfärbt das türkisfarbene Meer dunkel. Aber sie haben alles im Griff, sie werden mit ihren stählernen Gliedern die Wellen zerteilen und werden sie retten, die Verlorenen, bevor die Folge zu Ende ist. Ich hingegen hätte nicht gewusst, was zu tun wäre, Bewusstlosenlagerung, Beatmung, Herzmassage, gibt er Antwort – atmet er – blutet er – ist der Puls normal? Ich hätte nichts mit dem bewusstlosen Bruderkörper anzufangen gewusst."

    Was für ein merkwürdiger Vorgang: Da erzählt uns jemand davon, dass gerade sein Bruder halbtot aus dem Wasser geborgen worden ist, beteuert uns seine Hilflosigkeit wegen seiner Unkenntnis darüber, wie man in solch einem Fall zu handeln hätte, und denkt zugleich an eine vor Klischees triefende amerikanische Fernsehserie! Was sich in den Geschichten ereignet, erscheint wie aus der Ferne betrachtet in einem Nebeneinander. Das Erlebte ist schon einmal vorerlebt, was geschieht, kann nur noch hingenommen werden, und die vorgefundene Welt hat etwas Unumstößliches, das eine Beteiligung nicht zulässt. Die Erzählerin verfällt in einen Zustand der Starre, kann weder eingreifen, noch handelnd reagieren. Dieses Sich-treiben-lassen beherrscht alle Geschichten Stefanie Sourliers.

    Nicht von ungefähr hat sie ihrem Band ein Motto aus Thomas Bernhards früher Prosa "Amras" vorangestellt, in der mit unkonventionellen Erzählmitteln der Zerfall eines Geschwisterverhältnisses beschrieben ist. Ihren "Bruder" lässt sie daher auch in der Titelgeschichte "Das weiße Meer" auftauchen, diesmal in der Verkleidung einer jungen Frau. Mit ihr unternimmt die Erzählerin einen absurd erscheinenden Ausflug in die öde russische Stadt Archangelsk, um von dort aus das "weiße Meer" zu besuchen, eine fixe Idee, die wieder einmal in der unbeantwortbaren Frage endet, wofür das alles gut sein sollte.

    "Ich fragte die Frau im Kassenhäuschen nach einem Schiff ans Weiße Meer. Njet, sagte sie, auch als ich nach morgen, übermorgen oder der nächsten Woche fragte, kein Schiff fuhr ans Weiße Meer, die Frau sagte: njet, und schüttelte den Kopf. Ans Weiße Meer könne man leider nicht fahren, erklärte auch die Frau im Tourismusbüro. Zu den Solowezki-Inseln gäbe es geführte Touren, da könnten wir das Kloster besichtigen, die Holzhäuschen und die schöne Natur, und als wir ablehnten, fragte sie: But what for you came to Archangelsk?"

    Wie schon gesagt: Es gibt keine Antwort darauf. Das aktuelle Leben besteht aus Puzzleteilen, die man am besten ungeordnet in der Schachtel lässt. Nur wenn die Autorin in einigen ihrer Geschichten Orte und Verwandte aus der Kindheit aufsucht, verliert sie sich in Erinnerungen an ihre schweizerische Heimat. Diese Erzählungen vermitteln dann einen Anflug von dem Bedürfnis, dem Bericht darüber Substanz und der Erinnerung jene Sehnsucht nach dem Wiederbeleben des Vergangenen und Flüchtigen zu geben, aufgrund deren Literatur gemeinhin entsteht.

    Schon in den 30er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts beklagte Walter Benjamin den Niedergang der Gattung der Erzählung und wusste auch den Grund zu nennen: das fehlende Vermögen, Erfahrungen auszutauschen. Dies wäre Stefanie Sourlier allerdings nicht vorzuwerfen. Denn ihre Erfahrung scheint es ja gerade zu sein, im interesselosen, staunenden, kindlichen Hinschauen eine solche gar nicht mehr machen zu können – und genau davon erzählt sie. Walter Benjamin aber mischt in den Begriff der Erfahrung noch einen zweiten, für uns altmodisch klingenden: den der Weisheit. Er ist wie ein ruhender Grund, den sich die Summe der Erfahrung gebildet hat, um auf ihm genügend Sicherheit zu verspüren, nach Antworten zu suchen auf Fragen, die uns im täglichen Erleben überraschen. Demgegenüber befindet sich Stefanie Sourlier wie so manche ihrer Zeitgenossinnen noch im Zustand des Versuchs. Ihre Befindlichkeitsprosa begnügt sich mit der Vermutung, dass zwischen Menschen ebenso wie zwischen Ereignissen eine verborgene Korrespondenz bestehe, dass Geheimnisse als solche erst einmal akzeptiert werden sollten und deshalb einfach nur aufzuschreiben sind, um Geltung zu erlangen. Sie verkennt dabei, dass jede Erzählung bereits gelebtes Leben voraussetzt und keine Aufzählung dessen ist, was gerade geschieht. Da sie aber ihr Thema und ihre Schreibhaltung geschickt variiert, kann man darauf hoffen, dass uns diese Erfahrung des Aufschreibens bald einmal dazu verhilft, in ihrer genauen Prosa eine Widerspiegelung ihrer Erfahrungen anzutreffen, die über den Versuch, sie zu machen und festzuhalten, hinausgehen. Das wäre dann Stefanie Sourliers erster Roman, dem wir mit neugieriger Erwartung entgegensehen können.