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Geschichtsklitterung nach Art des Hauses

Vor gut zwei Jahrzehnten, am 29. September 1990, wurde der Landessportbund Thüringen gegründet. Zum 20-jährigen Jubiläum hat er nun eine Broschüre herausgegeben unter dem Titel "Wendegeschichten des Thüringer Sports". Allerdings offenbart sich darin angesichts der tatsächlichen Abläufe eine sehr eingegrenzte Sicht der "Wende".

Von Thomas Purschke |
    "Wendegeschichten des Thüringer Sports" ist ein farbiges Druckwerk, hat 171 Seiten und Autoren, die überwiegend aus den Reihen der amtierenden sowie einstigen Funktionsträgern des Thüringer Sports kommen. Darunter der jetzige Hauptgeschäftsführer des Landessportbundes, Rolf Beilschmidt, ein ehemaliger DDR-Hochspringer, der im Sommer 1989 als SED-Funktionär den Leistungssportclub Jena als Chef übernahm. Er verhandelte 1990 als frisch gewählter Vizepräsident des DTSB der DDR mit den Vertretern des Deutschen Sportbundes über die Neuausrichtung des Spitzensports in Ostdeutschland. Auch Beilschmidt hat sozusagen zur Feder gegriffen, dennoch findet sich in der gesamten Broschüre nicht ein Wort zum perfiden DDR-Staats-Dopingsystem. Stattdessen schreibt der Funktionär nostalgisch verklärend über den SC Motor Jena wörtlich: "Die Athleten kamen in den Genuss einer 'Rundumbetreuung'. In der Tat stand im Sportmedizinischen Dienst neben Allgemeinmedizinern und Physiotherapeuten sogar ein Zahnarzt zur Verfügung, der ausschließlich für die beiden Sportclubs, den SC Motor und den Fußballclub Carl Zeiss Jena, zuständig war.

    Aufschlussreich auch die Beschreibung der Personalie Thieß. Außer einer kurzen und wenig aussagekräftigen Notiz, dass Professor Manfred Thieß "wegen einer eventuellen Zusammenarbeit mit dem Ministerium für Staatssicherheit" 1994 sein Präsidenten-Amt ruhen ließ, findet man nichts Konkretes zu dieser Stasi-Affäre. Thieß war der erste frei gewählte Thüringer Landessportbund-Präsident, ein treuer SED-Genosse, dessen Habilitationsschrift als Sportsoziologe an der der Uni Jena als unwissenschaftliche Auftragsarbeit entlarvt wurde, und der wegen seiner Zuträgerdienste für das Ministerium für Staatssicherheit den Hut nehmen musste. Eine unabhängige Untersuchungskommission hatte Manfred Thieß als eindeutig belastet eingestuft. Den Verlust seines Jobs an der Uni kompensierte der organisierte Sport, indem Thieß als hauptamtlicher Direktor der Thüringer Sportakademie bis zu seiner Pensionierung weiterbeschäftigt wurde.

    Der Nachfolger von Thieß als LSB-Präsident, Peter Gösel, war in der DDR ebenfalls exponierter SED-Kader, zuständig für die Organisation von Militärtransporten bei der Reichsbahn-Direktion in Erfurt.
    Mitglied und Pressewart des ersten frei gewählten LSB-Präsidums war Harry Felsch, der später als Stasi-IM, Deckname "Wartburg" aufflog, was in der Broschüre selbstredend eine Erwähnung nicht verdient. Ebenso wie der erstaunliche Umstand, dass erst im Jahre 2004 eine sogenannte "unabhängige Stasi-Kommission" des Thüringer Sports gegründet wurde, die aber bereits zwei Jahre später ihre Arbeit ergebnislos wieder einstellte.

    Mehrere Beiträge der Thüringer Jubiläums-Broschüre hat der Weimarer Sportjournalist Uwe Jentzsch verfasst, Biathlon-Reporter für die Deutsche Presse-Agentur und langjähriger Vorsitzender des Thüringer Sportjournalistenverbandes, dessen unkritische Nähe zu Athleten, Trainern und Funktionären dokumentiert ist. Nun huldigt er dopingbelasteten 'Sportgrößen' wie Skilangläufer Gerhard Grimmer, Leichtathletik-Trainer Erich Drechsler und Biathlon-Bundestrainer Frank Ullrich. Wegen der Doping-Vorwürfe gegen ihn hatte der Deutsche Skiverband 2009 eine Untersuchungskommission eingesetzt und Ullrich im Zusammenhang mit seiner Verstrickung in das damalige DDR-Dopingsystem einen "unbewusst gesteuerten Verdrängungsmechanismus" attestiert. Logisch, dass derartige Kleinigkeiten nicht der Erwähnung wert sind.

    Eine ehrliche Bestandsaufnahme hätte erwähnen müssen, dass alle wichtigen Verbände wie etwa der Thüringer Fußballverband nach Gründung des Landessportbundes 1990 von systemnahen DDR-Altkadern geführt wurden. Erster Fußballpräsident im Freistaat war Werner Triebel, der 1993 wegen seiner Stasibelastung zurücktreten musste. Auf Triebel ist eine andere Altlast gefolgt, Rainer Milkoreit. der zu DDR-Zeiten als SED-Funktionär verantwortlich für den gesamten Spitzensport im Bezirk Erfurt war. Erster Präsident des Thüringer Skiverbandes war Gerhard Grimmer, der als Oberst der Nationalen Volksarmee Chef des Armeesportklubs Oberhof war. 1995 wurde er von der linientreuen SED-Genossin Sabine Reuß abgelöst, die es inzwischen bis zur Vizepräsidentin im Deutschen Skiverband geschafft hat.

    Auch den bemerkenswerten Resozialisierungsfall eines westdeutschen Ex-Dopers wird man ergebnislos suchen. Heinz-Jochen Spilker wurde als Sprint-Bundestrainer Spilker 1994 vom Amtsgericht Hamm zu 12 000 DM Geldstrafe verurteilt, weil er seine Athletinnen Ende der 80er-Jahre mit Dopingpräparaten versorgt hatte. Nach der "Wende" siedelte Spilker nach Thüringen um und wurde Vize-Präsident des LSB, er ist juristischer Berater und kümmert sich rührend um Rechts- und Liegenschafts-Angelegenheiten des Landessportbundes.

    Unter dem Strich werden spätere Generationen wohl feststellen müssen, dass die von den Protagonisten des ehemaligen DDR-Sports vorgenommene Beschreibung der Zeit der "Wende" eine Geschichtsklitterung war, vergleichbar in Teilen gelegentlich mit dem Vergessen und Verdrängen der westdeutschen Nachkriegsgeneration gegenüber Personen und Vorgängen aus der Nazi-Zeit. Damals wie jetzt hatten sich in der Diktatur sozialisierte Personen im warmen Nest der Demokratie behaglich eingerichtet.

    Immerhin -aufgrund zahlreicher negativer Schlagzeilen in den überregionalen Medien über stasi- und dopingbelastete Seilschaften im Thüringer Sport wurde 2008 ein Forschungsprojekt zur Aufarbeitung der Sportgeschichte im Freistaat in Auftrag gegeben, an ihm arbeiten Wissenschaftler der Universität Potsdam. Mit-Auftraggeber, nachdem er die Aufarbeitung stets ignoriert hat, ist der Landessportbund Thüringen, der als erster und bisher einziger seine Geschichte wissenschaftlich erforschen lässt. Die Ergebnisse sollen im Sommer 2011 vorgestellt werden.