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Geschichtslosigkeit deutscher Sportverbände?

Vor Wochenfrist veröffentlichte der Deutsche Ski-Verband (DSV) das Ergebnis seiner monatelangen Kommissions-Untersuchung zu den Doping-Vorwürfen gegen zwei seiner Biathlon-Trainer. Das Ergebnis: Frank Ullrich darf weiter im Amt bleiben, Wilfried Bock muss gehen. Das komplette Urteil will der DSV der Öffentlichkeit vorenthalten. Doch Auszüge zeigen: Der Verband hat aus fast 20 Jahren DDR-Aufarbeitung wenig gelernt. Schlimmer noch: Er kündigt an, Aufarbeitung künftig zu limitieren.

Von Giselher Spitzer | 02.08.2009
    Die Presseerklärung des Deutschen Ski-Verbandes alarmiert den Beobachter. Das beginnt schon mit der nicht vorhandenen Unabhängigkeit der Kommission: Den Vorsitz hatte der Vizepräsident des untersuchenden Verbandes, Franz Steinle. Was Besorgnis der Befangenheit auslöst, denn aus dem Spruch ergeben sich für den DSV erhebliche personalpolitische wie arbeitsrechtliche Fragen. Dass, beispielsweise, dem Kronzeugen der Dopingvorwürfe, Ex-Biathlet Jürgen Wirth, bis heute die Einsicht in das von seinen Aussagen vor der Kommission angelegte Gesprächsprotokoll rechtswidrig vor enthalten wird, sei nur am Rande vermerkt. Und auch das Ergebnis irritiert: Denn Grundlage der Arbeit war die Ausblendung unangenehmer Fakten: Die Kommission entschied nämlich, sie wolle ...

    "keine erneute Aufarbeitung des komplexen Themas, Doping im Hochleistungssport zu DDR-Zeiten"."

    Sie begrenzte sich deshalb auf nicht näher benannte Unterlagen und Anhörungen sowie auf die Ergebnisse der nach dem Ende der DDR gebildeten Doping-Untersuchungs-Kommissionen, der sogenannten "Reiter-Kommission" und der durch Manfred von Richthofen geleiteten "Ad-hoc-Kommission". Andererseits negiert sie absichtsvoll Richthofens Schreiben vom 2. Mai 1991 an DSB-Präsident Hansen, in dem es wörtlich heißt :

    ""Nach Anhörung Steinigen und Henner Misersky zu den Trainingsmethoden im Skilanglauf und Biathlon besteht begründeter Verdacht, dass Kurt Hinze, Wilfried Bock und Frank Ullrich tatsächlich beteiligt waren an der systematischen Verabreichung von Dopingmitteln an Aktive während ihrer Zeit als Trainer in der DDR."

    Dem DSV-Verfahren liegt ein Wissensstand zu Grunde, der 18 Jahre zurückliegt. Was seitdem geschah, blieb ausgeblendet: Zum Beispiel die Erfahrungen aus Strafprozessen wegen "Kinderdopings" (ein Wort, das seitdem auch im Ausland verstanden wird) mit den entsprechenden Urteilen, Strafbefehlen und gerichtlich festgestellten Schäden durch Doping. Die umfangreiche historische Forschung wird ignoriert, die zum Teil mit Bundesmitteln erfolgte.
    Dem DSV-Abschluss-Bericht fehlt die Datenbasis. Die Kommission unterstellt seit 1985 Doping-Mitwissen bei den DDR-Biathleten und bei deren "sportlichen Umfeld", womit besonders Trainer, Funktionäre, Ärzte und Masseure gemeint sind. Die Forschung hat, im Gegenteil, ermittelt, dass Doping-Mitwissen der DDR-Sportler eben nicht die Regel war.

    DDR-Biathlon-Verbandsarzt Kämpfe berichtete dem DDR-Staatssicherheitsdienst unter dem Decknamen IMS "SCHMIED", dass man bei den Frauen sogar dazu übergegangen sei, ihnen Dopingmittel heimlich mit der Nahrung zuzuführen, weil zu viele Vorbehalte gegen Tablettenkonsum bestanden hätten. Dass es dieses kriminellen Tricks bedurfte, widerlegt die DSV-These vom allgemeinen Doping-Mitwissen.
    Und was wusste das im Kommissionsbericht benannte "Umfeld"? DDR-Trainer und -Ärzte wurden über Doping- Wirkungen und über gesundheitliche Gefahren informiert. Dies belegen geheime Richtlinien zur Fort- und Weiterbildung. Vom "Umfeld" verantwortete Dopingpraktiken sind gut belegt. Laut Verbandsarzt Kämpfe sollten ab 1984 je Biathlet und Saison zwischen 450 und 600 Milligramm Oralturinabol eingesetzt werden. In den Sportarten Skilanglauf und Nordische Kombinierten wurden zusätzlich noch andere Dopingpräparate eingesetzt über das lebertoxische Oralturinabol hinaus: Vor Wettkämpfen wurde den Läuferinnen extrem und unumkehrbar vermännlichendes Testosteron-Propionat gespritzt. Die Männer hatten vor Wettkämpfen psychoaktives Clomiphen zu schlucken, um den Testosteronwert zu halten. Das Mittel entstammt der Schwangerschaftsmedizin. Aufklärung über Risiken und Nebenwirkungen sind nicht überliefert.
    Laut DSV-Kommission "musste" das "Umfeld", ein verharmlosendes Wort für die meist ebenso autoritären wie mächtigen Spitzentrainer in DDR-Klub oder -Verband, "davon gewusst haben, dass es sich um etwas 'Verbotenes' handelte".

    Man sei davon "überzeugt, dass zumindest die Chef-Verbandstrainer näher informiert gewesen sein mussten. Solche unscharfen, kaum belastbaren Feststellungen lassen sich nur erklären, wenn sie auf Grundlage von Aussagen dopingverstrickten Personals entstanden sind. Dem juristischen und historischen Erkenntnisstand entsprechen sie jedenfalls nicht.
    Was sind nun die Konsequenzen aus den Empfehlungen der Kommission? Das Arbeitsverhältnis mit Ex-DDR-Verbandstrainer Wilfried Bock endet wegen dessen aktiver Einbindung in die Verabreichung von Dopingmitteln. Bock hatte das übrigens noch im März 2009 - ebenso wie sein früherer Co-Trainer Ullrich - abgestritten, nun aber vor der Kommission eingeräumt. Oder waren es in Wirklichkeit die längst vorliegenden Erkenntnisse über seine Rolle als Stasi-IM. Wie konnte Bock überhaupt als Stasi-IM und als Doping-Trainer, nach kurzem Untertauchen, wieder als Trainer am sächsischen Biathlon-Stützpunkt in Altenberg angestellt werden? Gegen die eindeutigen Auflagen von Bund, Land und Verband?

    Fragen über Fragen, denen sich die DSV-Kommission lieber nicht gewidmet hat; die hätten dann nämlich auch die Rolle des DSV-Sportdirektors Pfüller, des DDR-Alt-Funktionärs und Weggefährten von Bock, ins Visier nehmen müssen.
    Ullrich kann bleiben. Die Kommission schließt die Schere zwischen ihrer Annahme, alle hätten Doping-Kenntnis, und Ullrichs öffentlich erklärter Unkenntnis durch eine überraschende Konstruktion: das angebliche Unwissen wird als unbewusster "Verdrängungsmechanismus" gedeutet. Ob diese Fehlleistung Ullrichs ihn allerdings dazu qualifiziert, heute im Hochleistungssport der Bundeswehr eine leitende Funktion einzunehmen, wenn er Sportbetrug durch Doping 20 Jahre lang "verdrängt" hat? Das Bundes-Verteidigungsministerium sollte in einem transparenten Verfahren die Dopingvorwürfe prüfen: Im Fall Ullrich fallen sie nicht etwa nur auf einen mit Steuermitteln geförderten Verband zurück, sondern auf ein Ministerium, dessen Haltung in der Doping- und Stasi-Aufarbeitung von Klarheit gekennzeichnet wird
    Wichtig für die Zukunft der Aufarbeitung sind zwei Aspekte: Die Kommission behauptet, dass Ullrich als DDR-Disziplintrainer "Lauf" im Biathlon nicht die Möglichkeit gehabt habe, "aktiv zum Doping in der ehemaligen DDR beizusteuern". Damit wird aber die Verantwortung der DDR-Trainer auch in der zweiten oder dritten "Linie" völlig verkannt.

    Deren Mitwirkung am Betrug war Voraussetzung für eine "erfolgreiche" Doping-Manipulation. Mit dieser DSV-Behauptung wird vorbildliche Verweigerung von Doping-Missbrauch missachtet, so wie im Falle des dafür gemaßregelten Trainers Henner Misersky in Zella-Mehlis, der damit aber auch seine Tochter, die Ski-Athletin Antje Misersky, schützte.
    Grund zur Sorge gibt, wie am Ende des Urteilsspruchs zu Frank Ullrich der Deutsche Ski-Verband seine künftige Aufklärungspolitik bei Dopingvorwürfen definiert. Sofern bereits eine "valide Untersuchung" zu neu erhobenen Vorwürfen stattfand - und da reicht ein Kommissionsspruch aus, oder falls die sogenannte "2. Linie" der Trainer oder Funktionäre betroffen sei, werde ein Verfahren nicht neu eröffnet.

    In Sachen "2. Linie" will man allerdings dann aktiv werden, wenn "gravierende" Gesundheitsschäden nachgewiesen werden, Minderjährige betroffen sind oder ein "aktiver Beteiligungsbeitrag" einen "dringenden Tatverdacht" begründet.
    Nun denn: In der Saison 1984/85 berichtete Verbandsarzt IM Kämpfe über die erstmalige Beeinflussung mit "u.M.", also mit "unterstützende Mittel" genanntem Doping: Nicht weniger als 450 Milligramm Oralturinabol sind, wie belegt, zwischen 28. Oktober 1984 und 13. Januar 85 an sechs minderjährige Biathleten vergeben worden. Die DSV-Kommission könnte in diesem Fall von erheblichem "Minderjährigen-Doping" sofort eingreifen und damit den Verdacht widerlegen, dass es ihr um vieles geht, nur nicht um vorurteilsfreie und ergebnisoffene Aufarbeitung der dunklen Doping-Vergangenheit im deutschen Skisport und die Offenlegung ihrer Drahtzieher.