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Geschlechtergrenzen
Zwischen Mars und Venus ist noch Platz

Wie würde ein Alien mit kosmischem Weitblick unsere Erde betrachten und was würde es von der scheinbar natürlichen Einteilung des Menschen in Mann und Frau halten? Gesellschaftlich betrachtet hat das Geschlecht weiterhin immense Bedeutung, doch rechtlich und im Bereich Fortpflanzung verschwimmen die Grenzen.

Von Eva Raisig | 13.11.2016
Das selbstgemalte Schild klebt an einer roten Wand aus Holzlatten.
Die Unterscheidung von Menschen in Mann und Frau gilt vielen als historisch überholt. (imago)
"So, da sind wir."
Eine öffentliche Einrichtung in einer deutschen Großstadt. Vor der Tür zur Toilette das Piktogramm zweier Personen, eine im Kleid, eine mit Hose.
"Waschbecken, Mülleimer, Händetrockner, drei Klokabinen."
Irgendwer hat mit Edding unter das Schild geschrieben: All Genders welcome.
Eine Unisex-Toilette also. Für alle benutzbar, die mal aufs Klo müssen, unabhängig vom Geschlecht.
"Halbwegs sauber. Funktioniert auch so wie man es kennt. Also eigentlich alles ganz normal."
Eine Toilette wie jede andere.
Sollte man meinen.
"Also wenn es so weiter geht, dann darf man in Zukunft überhaupt nicht mehr sagen 'Ich bin eine Frau oder ich bin ein Mann'."
"Egal welche Regeln es geben wird, niemand kann die Natur ändern!"
Für manche, so scheint es, stellt die Unisex-Toilette in Frage, was die Welt im Innersten zusammenhält.
Oft geht es in der Argumentation um Natur, manchmal um Gott. Und die Vermutung liegt nah, dass bei dem Streit um die Unisex-Toiletten ganz andere Befindlichkeiten eine Rolle spielen.
"Ertrink doch in deinem Unisex-Klo, du Emanze!"
Und zum Beispiel die ganze Wut über Binnen-Is, Unterstriche und Sternchen in Personenzuschreibungen in der Frage kulminiert, wer hinter welcher Klotür pinkeln darf.
Werden die starren Geschlechtergrenzen zunehmend durchlässiger?
Man könnte die Frage stellen, ob bei den Anfeindungen, wenn es um das Thema Gender geht, nicht persönliche Verunsicherung ein entscheidender Faktor ist.
Oder sogar Angst. "Ich hab überhaupt keine Angst!" Oder es ließe sich fragen, warum Geschlecht überhaupt eine so große Rolle spielt in unserem Leben. "Heeey, Glückwunsch! Uuund - was wird es?"
Wir könnten aber auch die Frage stellen, ob die Unisex-Toiletten nicht ein Hinweis darauf sind, dass sich gerade etwas grundlegend ändert und die starren Geschlechtergrenzen nicht tatsächlich gerade dabei sind, merklich durchlässiger zu werden.
Eine entscheidende Rolle bei der Geschlechterfrage wird doch bestimmt die Fortpflanzung spielen. Aber der Geschlechtsakt zwischen Mann und Frau ist dazu mittlerweile ja gar nicht mehr zwingend notwendig. Die Pille hat Sex ohne Fortpflanzung möglich gemacht, die Reproduktionsmedizin Fortpflanzung ohne Sex.
Eine Frau steht an einer Anlage, an der Spermien und Eizellen eingefroren werden.
Die Reproduktionsmedizin trägt dazu bei, bisherige Geschlechtergrenzen aufzubrechen (picture alliance / dpa / Friso Gentsch)
An der Berliner Humboldt-Universität erforscht Bettina Bock von Wülfingen aus kulturwissenschaftlicher Sicht, wie reproduktionsmedizinische Verfahren den Blick auf Geschlecht, Geschlechterrollen und das traditionelle Familienbild ändern.
Autorin "Bettina Bock von Wülfingen - sitzt die hier oder oben?"
Institutsmitarbeiter: "Eigentlich oben. Ich weiß aber nicht, ob sie da ist.
Autorin: "Wir haben ein Interview, ich weiß nur nicht, wo sie genau sitzt."
Kürzlich erst haben japanische Forscher es geschafft, aus männlichen Hautzellen reife Eizellen herzustellen und zu befruchten - allerdings bei Mäusen und das Verfahren ist noch alles andere als ausgereift. Aber schon heute ermöglichen reproduktionsmedizinische Verfahren wie In-Vitro-Fertilisation und Eizellspende alternative Familienmodelle jenseits des traditionellen. Es gibt gleichgeschlechtliche Elternpaare, Kinder mit mehr als zwei Elternteilen und Personen, die nach Selbstdefinition und auch rechtlich als männlich gelten - und Kinder gebären. Bettina Bock von Wülfingen:
"Insofern kann man auf jeden Fall sagen, dass diese Technologie durch die anhängigen Debatten sehr viel aufgebrochen hat, was vorher undenkbar war und ja auch in Deutschland breit diskutiert worden ist."
Es seien aber nicht die Technologien allein, die zu dieser Entwicklung geführt hätten. Biologische Erkenntnis und medizinischer Fortschritt, sagt die Kulturwissenschaftlerin, seien immer eng mit politischen, rechtlichen und gesellschaftlichen Entwicklungen verknüpft:
"Wir haben nur noch sehr wenige rechtliche Regelungen übrig, die notwendig machen, dass wir überhaupt in zwei Geschlechter unterscheiden, dazu gehört eben das Eherecht, und sobald diese letzten Regelungen gefallen sind, ist die Frage: Wer will das überhaupt wissen? Es wäre ja auch denkbar, dass wir Menschen einfach mit Namen ansprechen statt sofort nach der geschlechtlichen Zuordnung zu suchen."
Es gibt heute durchaus Gesellschaften, in denen andere Konzepte akzeptiert sind als das binäre Geschlechtersystem aus Mann und Frau. Die Hijras in Indien sind dafür ein Beispiel, die Khusras in Pakistan oder die Two spirits in den indigenen Bevölkerungen Nordamerikas, wo die Idee eines zumindest dritten Geschlechts nicht als krankhaft, sondern als etwas durchaus Positives gesehen wird.
Überhaupt ist das starre Mann/Frau-Schema nicht zu allen Zeiten, an allen Orten, in allen Gesellschaften gleich gewesen. In der Antike, sagt Bettina Bock von Wülfingen, wurde teilweise eher zwischen aktiv und passiv unterschieden als zwischen männlich und weiblich.
Seit einer Entscheidung des Supreme Court 2014 sind die Hijras in Indien als drittes Geschlecht offiziell anerkannt und werden entsprechend in allen offiziellen Regierungsdokumenten als dritte Geschlechtskategorie aufgeführt
Seit einer Entscheidung des Supreme Court 2014 sind die Hijras in Indien als drittes Geschlecht offiziell anerkannt und werden entsprechend in allen offiziellen Regierungsdokumenten als dritte Geschlechtskategorie aufgeführt (EPA/dpa picture alliance/Money Sharma)
Jeder Mensch ist in erster Linie ein Mensch
Auch wenn es dann oft vor allem männliche Personen waren, die Bürgerrechte erhielten, während Frauen, Sklaven und andere hierarchisch niedriger einsortierte Menschen auf die eher rechtsarme Passivseite geordnet wurden. Völlig unabhängig war das also nicht von den Geschlechtern, aber auch nicht völlig deckungsgleich, so Bettina Bock von Wülfingen:
"Komplizierte Geschichte. Auf jeden Fall ist die Frage tatsächlich, wie man mit Unterschiedlichkeiten von Menschen umgeht, ohne damit Privilegien oder De-Privilegierungen zu begründen."
Auch wenn es rechtlich gesehen heute kaum noch Gründe gibt, Geschlechter zu unterscheiden, findet eine solche Unterscheidung aber doch weiterhin statt. Und die Unterschiedlichkeit wird weiter meist am Körper festgemacht. Aber eigentlich, eigentlich könnte man doch sagen, also biologisch gesehen, ist jeder Mensch in erster Linie: ein Mensch.
Von den 23 Chromosomenpaaren, die der menschliche Körper aufweist, unterscheidet sich bei Männern und Frauen nur eines - das der Geschlechtschromosomen. Die allermeisten Menschen haben entweder einen XX- oder einen XY-Chromosomensatz. Die allermeisten gelten dadurch als Frauen oder Männer:
Ein Molekülkomplex aus DNA und Protein, gerade einmal ein paar Nanometer groß - und das soll den Unterschied machen?
Anne Fausto-Sterling: "Okay I start the recording now."
Wir können die Frage auf der anderen Seite des Atlantiks stellen, an der amerikanischen Ostküste. Hier arbeitet eine Entwicklungsbiologin, die sich in ihrer Forschung seit vielen Jahren auch mit Geschlechtertheorien beschäftigt:
"My name is Anne Fausto-Sterling and for many years I've been a professor at Brown University and my field of study is biology and gender theory." Warum also, fragen wir Anne Fausto-Sterling, hat ein solch kleiner physiologischer Unterschied, derart große Auswirkungen?
"Beim Geschlecht geht es nicht nur um die Chromosomen und es geht nicht einmal vorrangig um die Chromosomen. Es gibt biologisch gesehen viele verschiedene Ebenen von Geschlecht.
Es gibt das Chromosomen-Geschlecht. Dann gibt es zum Beispiel die Sexualhormone, die in der Schwangerschaft produziert werden. Manche werden vom Fötus produziert, manche von der Mutter. Beide beeinflussen wiederum das genitale Geschlecht.
Das alles spielt sich auf unterschiedlichen biologischen Ebenen ab. Sie stehen in Verbindung zueinander, aber sie sind nicht notwendigerweise miteinander deckungsgleich.
Man kann also nicht einfach sagen, oh es gibt dieses eine winzig kleine Chromosom, das anders ist und warum hat es solche Auswirkungen. Die eigentliche Biologie ist ein ganzes Stück komplexer."
Das ganze Thema ist komplex. Es wäre gut, mit ein wenig mehr Distanz darauf zu schauen - was schwierig ist, wenn man selbst mittendrin steckt.
Der Blick des Außerirdischen auf die irdischen Geschlechtervorstellungen
Auf diesem Erkennungsschild der NASA, das an der Außenseite einer 1972 ins Weltall gestarteten Pioneer-Raumsonde angebracht wurde, sind die menschlichen Wesen Mann und Frau und ein Wasserstoff-Atom abgebildet. Zudem soll die Zeichnung außerirdischen Intelligenzen ermöglichen, die Herkunft und den Startzeitpunkt der Sonde zu bestimmen.
Auf diesem Erkennungsschild der NASA, das an der Außenseite einer 1972 ins Weltall gestarteten Pioneer-Raumsonde angebracht wurde, sind die menschlichen Wesen Mann und Frau abgebildet. Möglichen Außerirdischen sollte damit der Kontakt ermöglicht werden (NASA/dpa picture alliance)
Im März 1972 und im Februar 1973 wurden vom Weltraumbahnhof Cape Canaveral in Florida die beiden Raumsonden Pioneer 10 und Pioneer 11 ins All geschossen.
Neben wissenschaftlichen Instrumenten flog auch eine uralte Hoffnung der Menschheit mit ins All: Nicht allein zu sein im Universum. Und so hatte man an die Raumsonden je eine vergoldete und gravierte Aluminiumplakette geschraubt, die möglichen Außerirdischen, die die Sonden finden würden, von unserer Existenz erzählen sollten.
Die Gravur zeigt die Lage der Erde im Sonnensystem, die Flugbahn der Raumsonde, und sie zeigt zwei Menschen, die vor der Raumsonde stehen, einen Mann und eine Frau. Sie sind nackt und.
Moment, stopp. Warum das alles?
Weil es bei der Frage behilflich sein könnte, wie ein Blick auf Geschlecht auch aussehen könnte - ohne all die Vorannahmen, mit denen wir von klein an aufwachsen. Ursprünglich war nämlich vorgesehen, dass die beiden Personen auf der Plakette einander an den Händen halten sollten: als Symbol für die angebliche Friedfertigkeit der Menschen.
Doch dann fiel auf: Wie sollte ein Wesen aus einer anderen Welt, ohne Vorstellung vom Körper der Menschen in dem Bild zwei getrennte Personen erkennen können? Für einen Moment wurde deutlich, dass die Sicht auf uns eben eine sehr irdische ist - eine, die von menschlicher Erfahrung geprägt ist und nicht überall vorausgesetzt werden kann.
Wir könnten uns für die weitere Betrachtung deshalb den Bewohner einer fremden Welt zur Seite nehmen. Ein Alien, das nicht von vornherein davon ausgeht, dass die Dinge hier so sein müssen, wie sie uns oft erscheinen.
Außer den Chromosomen gibt es keine biologischen Geschlechtsunterschiede
Nehmen wir das Alien also mit an die amerikanische Ostküste zu Anne Fausto-Sterling.
In der Biologie, das hat sie eben schon beschrieben, gibt es unterschiedliche Definitionen von Geschlecht. Das Chromosomengeschlecht, das gonadale Geschlecht - also die inneren Fortpflanzungsorgane - das hormonelle Geschlecht und das morphologische Geschlecht, sichtbar an den Genitalien und sekundären Geschlechtsmerkmalen. Deckungsgleich, auch das haben wir eben schon gehört, sind sie nicht immer.
Wie aber würde die Biologin dem Alien, das von außen auf unsere Gesellschaft blickt, den Begriff Geschlecht erklären, wie er unter den Menschen üblicherweise im Alltag verwendet wird?
Anne Fausto-Sterling: "Well, I don't know. I would say. More colloquially, people define sex as designating one form or another form, a male form or a female form."
Computerillustration eines Y- und eines X-Cromosoms
Das Chromosomengeschlecht ist nicht immer deckungsgleich mit dem hormonellen und morphologischen Geschlecht (imago /Science Photo Library)
Umgangssprachlich werde der Begriff "Geschlecht" verwendet, um eine männliche oder eine weibliche Form zu bezeichnen. Biologische Unterschiede zwischen Männern und Frauen gibt es zweifelsohne. Aber absolute angeborene Unterschiede zu definieren sei schwierig:
"Except for maybe chromosomes, there are no differences that exist in the absence of the environmental context in which the organism exists." Außer den Chromosomen gebe es keine Geschlechtsunterschiede, die unabhängig von der Umwelt seien, in der der Organismus lebe, erklärt Anne Fausto-Sterling:
"Es gibt keine absoluten Unterschiede mit Blick auf Hormone. Der Hormonspiegel ändert sich jeden Tag, zum Beispiel je nach körperlicher Aktivität, Stress, Nahrungsaufnahme oder psychischem Zustand. Man kann in dieser hormonellen Hinsicht keinen absoluten Unterschied zwischen Männern und Frauen festlegen, man muss es individuell betrachten."
Die hormonellen Unterschiede zwischen zwei einzelnen Frauen können beispielsweise stark variieren. Zwar lässt sich eine Art durchschnittlicher Hormonhaushalt für Frauen oder Männer beschreiben, aber einzelne Personen können durchaus näher am Durchschnittswert des anderen Geschlechts liegen. Außerdem, sagt Anne Fausto-Sterling, müsse bei allen Betrachtungen immer auch der Kontext einbezogen werden, in dem der Mensch lebe:
"To even think about sex or gender in terms of absolute differences based on hormons doesn't make sense."
Auch die Biologie blickt mittlerweile also differenzierter auf das Thema Geschlecht. So alt ist das Wissen um genetische oder hormonelle Vorgänge im menschlichen Körper aber noch nicht - und unsere Sicht auf Geschlecht ist immer auch geprägt von neuen medizinischen Erkenntnissen, rechtlichen Änderungen oder gesellschaftlichen Entwicklungen.
Nur eine statistische, keine absolute Norm
Toilettentüren im DLF-Gebäude in Köln mit den Lexika-Einträgen "Mann" beziehungsweise "Frau"
Toilettentüren im DLF-Gebäude in Köln: Die binären Geschlechterkategorien werden der menschlichen Sexualität nicht gerecht (Felix von Massenbach)
Was nicht heißt, dass sich bestimmte, möglicherweise zu einfache Annahmen nicht trotzdem über lange Zeiträume halten können. Aber es ist nicht ausgeschlossen, dass auch in der Medizin das binäre Konzept aus männlich/weiblich bald flexibler gehandhabt wird, und auch Geschlechtsformen wie Intersex darin einen Platz jenseits der Pathologie finden. Anne Fausto-Sterling:
"Wenn du mit der Annahme startest, dass es nur zwei Geschlechter gibt, dann gilt eben jemand, auf den diese Grundannahme nicht zutrifft, als anomal. Die dazugehörige Norm ist einerseits etwas willkürlich, aber andererseits ist sie nicht völlig willkürlich: Sie basiert auf dem, was meistens der Fall ist, es ist also eine statistische Norm.
Was dann aber passiert, ist, dass daraus eine absolute Norm gemacht wird. Und alle Menschen, die nicht in diese Norm passen, werden nicht nur als statistische Abweichung betrachtet, sondern als etwas, das 'repariert' werden muss, um in die absolute Kategorie hineinzupassen."
Statistische Argumente erscheinen dem Alien trotzdem merkwürdig - und wenn es mit seinen drei Augen über den Globus blickt, findet es sofort zahlreiche Gegenargumente. Warum, würde es vielleicht fragen, teilt ihr Menschen euch überhaupt vorrangig in Geschlechter auf - warum nicht in Haarfarben, Körpergrößen oder Ernährungsgewohnheiten?
Wieso, würde es fragen, braucht ihr gerade die Kategorie Geschlecht? Anne Fausto-Sterling: "Ich bin mir nicht sicher, was du mit 'brauchen' meinst. So gehe ich nicht an das Thema heran. Ich betrachte Geschlecht als etwas, das wir haben, das existiert und das wir als Kategorie lernen. Ob wir es brauchen oder nicht, weiß ich also nicht, aber wir haben es.
Die Frage ist: Wie werden solche Kategorien, wie wird die Kategorie Geschlecht überhaupt Teil unseres Wissens - und das ist eine Entwicklungsfrage! Dann kannst du fragen, wie solche Kategorien gesellschaftlich gefördert und unterstützt werden oder eben nicht."
Darauf werden wir noch zurückkommen. Stellen wir die Frage nach der Bedeutung von Geschlecht und wie ein Umgang damit aussehen könnte, zunächst auch an anderer Stelle. An einer Stelle, in der die Kategorie Geschlecht ganz offensichtlich schon mehr aufgeweicht ist als an anderen Orten der Gesellschaft.
"Normzwang & Psychatrisierung stoppen" steht am Montag (26.03.2012) vor der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft in Berlin auf einem Schild. Rund 70 Menschen versammelten sich unter dem Motto "Zwangspsychiatrisierung von Alex sofort stoppen!" vor der Behörde um gegen die Zwangseinweisung eines elfjährigen Kinds zu demonstrieren, das entgegen seinem Geburtsgeschlecht als Mädchen leben will. Erst vor wenigen Wochen hatte sich der Ethikrat für eine Anerkennung Intersexueller Menschen ausgesprochen.
Demonstration für Intersexualität in Berlin, Auf dem Transparent das Transgender-Symbol (dpa picture alliance / Florian Schuh)
"Ich finde es schon gut, wenn Leute nachfragen"
Stellen wir uns deshalb für einen Moment vor, unser Alien würde mit seinem Ufo auf einer Wiese im Harz landen auf dem Gelände einer alten Burg.
Es würde neben uns herfliegen, wenn wir die steile Treppe hoch ins alte Brauhaus steigen und es würde dort auf vierzig schwitzende Menschen mit Boxhandschuhen treffen, sich davon aber nicht irritieren lassen. Im Gegenteil - dem Alien, das von Geschlecht wenig weiß, käme wahrscheinlich entgegen, dass hier einige Dinge anders laufen als im Alltag.
Denn bei diesem queerfeministischen Sportcamp, in das es da hineingeraten ist, fragen die Trainierenden beim Kennenlernen nach dem Personalpronomen, mit dem ihr Gegenüber gerne angesprochen werden möchte. Es wird nicht vorausgesetzt, dass Geschlecht etwas ist, das sich von außen ablesen lässt.
Und hier trainiert auch Francis, Pronomen: er_sie. "Also mein Pronomen, du würdest einfach sagen: er_sie hat gerade das und das gesagt, ihmihr geht es so und so. Oder halt einfach meinen Namen." Alltäglich gesehen ist das Pronomen er_sie wohl ungewöhnlich. Wieder so eine Frage der Statistik. Aber Francis' "er_sie" ist nur eine von vielen verschiedenen Möglichkeiten, sich über die beiden üblichen Personalpronomen hinaus anzureden:
"Es ist auch so eine Gewöhnungssache. Aber ich finde es schon gut, wenn Leute nachfragen, aber es kommt oft auch Widerstand, sowas wie 'sieht man doch!', wo man dann halt erst sagen muss, nee, das siehst du halt nicht."
Auch Francis ist schon von so mancher öffentlichen Toilette geflogen. Zurzeit promoviert er_sie zu der Frage, wie sich Menschen, die sich nicht in das binäre Geschlechtermodell einsortieren lassen wollen, miteinander vernetzen. Sich selbst bezeichnet Francis als genderqueer. Wie würde er_sie diesen Begriff dem Alien erklären, das uns in den Harz begleitet?
"Vielleicht, dass ich mich weder als Mann noch als Frau wirklich fühle und die beiden Kategorien nicht für mich passen und ich mich da nicht gerne einsortieren lassen will. Und Geschlecht auch als was Wechselndes, Fluides verstehe, was sich dann auch ändert je nachdem, in welchem Kontext ich mich bewege. Es wird ja bei der Geburt ganz klar gesagt, du bist das oder das und dass ich mich damit eben nicht wohlfühle."
Entscheidend ist die Geschlechtsidentität - die viel mehr ist als die äußeren Geschlechtsmerkmale. Aber wer sich mit dem biologischen Geburtsgeschlecht wohlfühlt, denkt selten darüber nach, weil es sich so normal anfühlt.
Bei der sexuellen Orientierung ist das ähnlich. Kaum ein heterosexueller Mensch wird je gefragt, wann er gemerkt hat, heterosexuell zu sein. Es wird erst Thema, wenn es nicht der Norm entspricht:
"Es wird ja oft gesagt von manchen Leuten, die sich vielleicht nicht als Trans* identifizieren, warum ist denn Geschlecht so wichtig, ist doch eigentlich egal. Ich denke, für Trans*leute wäre es auch nicht ganz so wichtig, wenn man nicht einen zweijährigen, sehr komplizierten medizinischen oder psychologischen Weg gehen müsste, wo man immer wieder auch als psychisch krank klassifiziert wird. Es wird ja auch sehr wichtig durch die ganzen Ausgrenzungen und Barrieren, die es gibt."
Schon Säuglinge können männliche und weibliche Gesichter unterscheiden
Die Geschlechterstereotype werden schon Babys aufgedrängt: Der rosa Schnuller ist für das Mädchen, der blaue für den Jungen.
Die Geschlechterstereotype werden schon Babys aufgedrängt: Der rosa Schnuller ist für das Mädchen, der blaue für den Jungen. (Patrik Pleul/dpa picture alliance)
Zuglautsprecher: "Nächste Station Golm, Ausstieg in Fahrtrichtung rechts; aussteigen!"
Um darauf zurückzukommen, was Anne Fausto-Sterling gesagt hat - dass die Geschlechterfrage vor allem eine Entwicklungsfrage ist - setzen wir uns in eine Regionalbahn und fahren von Berlin aus Richtung Westen. Das Alien reist mit Lichtgeschwindigkeit vorweg und erwartet uns schon, als wir eintreffen.
Drei Haltestellen hinter dem Potsdamer Hauptbahnhof, in Golm, hat Birgit Elsner ihr Büro. Sie ist Professorin für Entwicklungspsychologie an der Universität Potsdam und leitet dort auch das BabyLab, wo sie unter anderem die kognitive Entwicklung der frühen Kindheit untersucht.
"Die Unterscheidung von Geschlechtern passiert schon sehr früh. Man hat festgestellt, dass schon Babys in den ersten Lebensmonaten weibliche von männlichen Gesichtern unterscheiden können und auch weibliche von männlichen Stimmen unterscheiden können."
Dabei ist es sehr wahrscheinlich, dass die Babys zu diesem Zeitpunkt über ihr eigenes Geburtsgeschlecht noch nicht Bescheid wissen. Und noch weniger wahrscheinlich über ihre Geschlechtsidentität. Trotzdem: Die Kategorie Geschlecht sitzt!
Aber muss das auf der Erde immer so sein, fragt unser Alien - ist es eine angeborene irdisch-biologische Tatsache oder könnte es auch sein, dass Menschenkinder derlei einfach früh lernen? Birgit Elsner:
"Grundlegende Unterscheidungen der Geschlechter sind uns anscheinend mitgegeben von der Anlage her oder sie werden in den ersten Lebensmonaten sehr schnell erlernt. Beide Faktoren spielen wahrscheinlich zusammen."
Geschlechtshormone zum Beispiel, sagt Birgit Elsner, hätten sicherlich Einfluss darauf. Aber wie meistens beim Menschen, mischt auch schon bei den Kleinsten die Sozialisation ordentlich mit:
"Da wurde zum Beispiel Forschung gemacht, in der derselbe Säugling einmal in typisch weiblicher Weise, einmal in typisch männlicher Weise gekleidet wurden und diese Fotos Eltern gezeigt wurden, die dann über die Persönlichkeitseigenschaften des Kindes spekulieren sollten oder auch spekulieren sollten, wie sie das Verhalten der Kinder bewerten.
Und da stellte sich heraus, dass tatsächlich, wenn die Eltern annahmen, das Kind sei weiblich, haben sie anders geantwortet als wenn sie annahmen, das Kind sei männlich. Deshalb kann es sein, dass schon im Säuglingsalter, in den ersten Lebensmonaten, sich das Elternverhalten in Richtung der Geschlechterstereotype auswirkt. Selbst wenn die Eltern das gar nicht beabsichtigen."
Das hat auch mit unserem wichtigsten Alltagswerkzeug zu tun, das sich über die Jahrtausende an die Erfordernisse auf der Erde angepasst hat. In anderen Welten mag das anders sein. Birgit Elsner:
"Gerade Säuglinge in den ersten zwei Lebensjahren sind sehr stark - oder sagen wir mal das Gehirn, der geistige Apparat, das kognitive System der Kinder, ist darauf ausgelegt, in der Umwelt bestimmte Regelmäßigkeiten zu erkennen und eine Ordnung zu schaffen. Das Gehirn ordnet in Kategorien ein."
Das geht unser ganzes Leben lang so. Wir verorten uns, indem wir Kategorien bilden. Verschwimmen die vermeintlich eindeutigen Kategorien, kann das zu Verunsicherung führen.
"Ich hab keine Angst!"
Birgit Elsner: "Das Baby, der Säugling in den ersten sechs Monaten weiß ja noch gar nicht um die Bedeutung dieser Ähnlichkeitsgruppen, dieser Kategorien. Die Bedeutung dieser Kategorien wird dann erst durch die Erziehung vermittelt. Dass es dann eben bedeutsam ist, ob man ein Mann oder eine Frau ist in unserer Gesellschaft, dass es aber zum Beispiel keine Bedeutung hat, ob man blond ist oder dunkelhaarig."
Entwicklungspsychologin Birgit Elsner bei einer Buchvorstellung in Wien im November 2013
Entwicklungspsychologin Birgit Elsner bei einer Buchvorstellung in Wien im November 2013 (imago /Christian Thiel)
Kategorisierungsdrang unseres Gehirns
Nachdem Kinder im Grundschulalter besonders rigide sind, was Geschlechtervorstellungen angeht, sagt Birgit Elsner, werden wir in der Jugend in dieser Hinsicht wieder flexibler. Trotzdem können wir uns offenbar auch als Erwachsene manchmal nicht der stereotypischen Bilder erwehren, mit denen wir von klein an aufwachsen - und zwar ohne, dass uns das bewusst sein muss, sagt Juliane Degner von der Universität Hamburg, die wir an der Stelle dazu bitten. Die Sozialpsychologin untersucht, wie der Kategorisierungsdrang unseres Gehirns auch zu unbewussten Vorurteilen führen kann:
"Das hat auch nichts damit zu tun, ob ich glaube, dass das wahr ist. Diese kognitive Betrachtung sagt erstmal nur: Es gibt einen Link zwischen Wissenseinträgen im Gedächtnis. Wenn ich zum Beispiel an 'Frau' denke, dann wird automatisch alles aktiviert, was ich mit Weiblichkeit verbinde. Das hat nichts damit zu tun, dass ich denke, dass Frauen so sind oder so sein müssen, sondern es ist erstmal nur relativ passiv gespeichertes Wissen."
Mit ein bisschen Zeit und Nachdenken können wir vielen unbewussten Stereotypen im Alltag entgehen. Schwierig wird es aber eben dann, wenn solche verborgenen Gedächtniseinträge unser Handeln beeinflussen, erklärt Juliane Degner:
"Wenn ich zum Beispiel bestimmte Erwartungen an jemanden habe. Erwarte ich zum Beispiel von jemandem eine bestimmte Fähigkeit oder einen bestimmten Fleiß, dann kann sich so ein Stereotyp ganz einfach in meine Entscheidung einschleichen."
Gerade die Kategorie Geschlecht ist aber eine - das registrieren auch die Sensoren des Aliens - die mit besonders vielen Erwartungen und Vorannahmen verknüpft ist. "Männer sind ja eher rational und Frauen neigen zu Emotionalität."
Ratlos dreht das Alien seine Antennen. Denn an dieser Stelle wird ihm klar, dass es kein Zufall ist, dass auf der Erde an körperlichen Unterschieden auch gesellschaftliche Unterschiede festgemacht werden.
Dass es auch um Macht geht und es deshalb an manchen Stellen gar kein Interesse gibt, etwas an der gesellschaftlichen Struktur zu ändern. Mit Natur und Notwendigkeit, das sagt ihm sein kosmischer Weitblick, hat das aber nicht viel zu tun.
Wenn es aber nicht so sein muss und Geschlecht gleichzeitig schwer von Geschlechterrollen zu trennen ist, wie wäre es wohl, wenn ihr Menschen die Kategorie einfach abschaffen würdet? "Postgender" als Lösung des Problems?, beamt es fragend in den Harz zu Francis:
"Ich glaube, ich würde nicht sofort die Kategorie Geschlecht komplett abschaffen, weil das wahrscheinlich nichts an der strukturellen Ungleichheit oder Diskriminierung ändern würde."
Die Kategorie selbst ist nicht das eigentliche Problem. Auch unterschiedliche Körper nicht oder einzelne Chromosomen. Es sind die politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Bedingungen. Es geht also darum, sich zu fragen, warum an der Kategorie Geschlecht, wie übrigens an vielen Kategorien, gesellschaftlich offenbar noch immer viel mehr hängt als es das müsste. Dem Besucher einer anderen Welt will das einfach nicht einleuchten.
Die Frage der Geschlechter betrifft uns alle
Drew Barrymore (l) als "Gertie" und der Außerirdische "E.T." in einer Szene des gleichnamigen Fantasy-Films von Steven Spielberg. Das kleine Schrumpelwesen von einem fernen Planeten wird aus Versehen von seiner Raumschiff-Besatzung auf der Erde zurückgelassen, freundet sich mit einer Kindergruppe an und stiftet heillose Verwirrung. Sein größter Wunsch, "nach Hause" zurückzukehren, geht nach einem Telefonat mit seinem Heimatplaneten in Erfüllung. "E.T." lief am 9. Dezember 1982 in den deutschen Kinos an und war so erfolgreich, daß er über zehn Jahre Platz eins der Liste der erfolgreichsten Filme anführte.
Einem echten Außerirdischen sind unsere irdischen Geschlechterkategorien völlig fremd (dpa picture alliance)
Gestatten wir es dem Alien aber doch kurz vor seiner Heimreise, noch einen Wunsch zu vergeben, damit es nicht das Gefühl hat, die Erde tatenlos zu verlassen. Anne Fausto-Sterling:
"Ich würde mir wünschen, dass unsere Gesellschaft so strukturiert wäre, dass alle Menschen, egal wie wir sie geschlechtlich definieren oder sie sich selbst definieren, die Möglichkeit hätten, ihr ganzes Potential zu entwickeln. Und dass die Gesellschaft dieses Potential unterstützt statt es zu beschränken."
Vielleicht ließe sich dieser Wunsch aber auch ohne außerirdische Hilfe verwirklichen. Und vielleicht würde dabei die Erkenntnis helfen, dass die Grenzen zwischen den Geschlechtern durchlässiger werden - dass es Realität ist: wissenschaftlich, rechtlich, gesellschaftlich. Es geht nicht um das Verschwinden der Grenzen, es geht um ein Verschwimmen.
Möglicherweise würde es außerdem helfen zu erkennen, dass deswegen wiederum kein Mensch etwas zu befürchten hat, der sich selbst zum Beispiel eindeutig als Mann oder Frau definiert. Es muss in dem Moment um die gehen, die es betrifft.
Und zwar solange, wie weiterhin Menschen Angriffen ausgesetzt sind, weil sie nicht in das zweidimensionale Weltbild anderer passen. Solange, wie viele transsexuelle Kinder Nierenschäden davontragen, weil sie in der Schule nicht das für sie passende Klo finden.
Solange Frauen weniger verdienen als Männer und Männer ständig Gefahr laufen, nicht als ganze Kerle zu gelten. Und solange, wie Menschen, die nicht ins binäre System passen, in beinah allen Bereichen des täglichen Lebens benachteiligt werden.
Es muss also tatsächlich um die gehen, die es betrifft. Und wahrscheinlich sind wir das am Ende alle. Die Frage der Geschlechter ist längst eine danach, wie viel Freiheit wir einander zugestehen.
Bei den Unisex-Toiletten ist es doch am Ende dasselbe. Es geht um zusätzliche Klos. Um mehr Optionen. Um mehr Freiheit, ohne die anderer einzuschränken. Und das, ruft uns das Alien noch zu, bevor es losfliegt - das sei doch in jeder Welt eine gute Sache.
Es sprachen: Justine Hauer, Stefko Hanushevsky und Sylvia Systermans
Ton und Technik: Christoph Maria Münch
Regie: Claudia Kattanek
Redaktion: Christiane Knoll
Online: Felix von Massenbach
Produktion: Deutschlandfunk 2016