Ich würde gerne hier in Deutschland bleiben. Meine Söhne sind hier geboren. Wenn ich zu denen sage, ich will zurück in den Kosovo, dann sagen die: Papa, dann kannst du allein gehen. Wir bleiben hier. Sie sind hier geboren, sie kennen ganz wenig von Kosovo.
Die Pläne standen vor zwei Jahren jäh vor dem Ende. Die nordrhein-westfälische Landesregierung drängte auf die Abschiebung der Bürgerkriegsflüchtlinge aus dem Kosovo in die Heimat. Bitiks Chef Klaus Schiebler ging auf die Barrikade – der 37-jährige Mann aus dem Kosovo gilt in dem mittelständischen Metallbetrieb als unverzichtbar. Denn in Arnsberg herrscht akuter Mangel an Arbeitskräften:
Ich hab natürlich auch an meinen Betrieb gedacht. Ich habe beim Arbeitsamt gefragt. Die haben dann Leute geschickt, die waren zwei Tage da, dann wollten sie nicht mehr. Viele wollten nicht dazu lernen. Und der Herr Bitik hat mir das Gefühl gegeben, er wollte einfach. Da hab ich gedacht, Mensch, für den Mann muss du kämpfen. Da merkte ich, da hängen noch viel mehr Familien dran.
220 Familien aus dem Bürgerkriegsland drohte die Abschiebung. Doch dagegen formierte sich ein breiter Widerstand. Angeführt von Arnsbergs Bürgermeister Hans-Josef Vogel. Die 80 000-Seelen-Stadt brauche die Flüchtlinge, meint der Christdemokrat. -- Wir hatten und haben in handwerklichen Berufen Arbeitskräftemangel, der nicht aus der Region gedeckt werden kann. Deshalb haben die Flüchtlinge schnell Arbeit gefunden. Die Kinder sind hier geboren, die Familien sind Bestandteil unseres Lebens. Deshalb haben wir gesagt: Wir sehen es nicht ein, dass sie in ein Bürgerkriegsland zurück geschickt werden sollen.
In den kommenden 15 Jahren wird die Bevölkerung Arnsbergs um über zehn Prozent auf 70 000 schrumpfen. Und das wird die Stadt vor große Probleme stellen. Denn mit der Zahl der Einwohner gehen auch die Einnahmen des Stadtkämmerers zurück, die Ausgaben aber bleiben hoch. Denn die Stadt kann nicht einfach Straßen vergammeln lassen oder das Kanalnetz verkleinern.
Die Stadt Arnsberg wird massiv von der Bevölkerungsentwicklung betroffen sein. Es wird immer mehr alte Menschen und immer weniger junge Menschen geben. Die gesamte Infrastruktur, ob Schulen, Kindertagesstätten, Abwasser, etc. ist ausgerichtet auf eine bestimmte Bevölkerungszahl. Wir können die Infrastruktur aber nicht von heute auf morgen zurück bauen. Wir können ja nicht einfach ganze Stadtteile schließen. Deswegen war es für mich wichtig, dass wir mit der Zuwanderung diese Entwicklung selber abfedern.
In Arnsberg ist wie unter einem Brennglas zu beobachten, was auf die gesamte Bundesrepublik zukommt. Die Bevölkerung schrumpft in den kommenden Jahrzehnten dramatisch. Und das hat Folgen für die Staatsfinanzen und die sozialen Sicherungssysteme.
Bevölkerungswissenschaftler haben ziemlich verlässliche Prognosen für die Bevölkerungsentwicklung bis zum Jahr 2050 aufgestellt. Danach wird die Einwohnerzahl in Deutschland von derzeit 82 Millionen um 20 Millionen auf etwa 60 Millionen sinken. Der Grund: Die Geburtenzahlen sinken seit drei Jahrzehnten, und wir werden immer älter. Kritisch wird die Entwicklung vor allem, weil sich die Alterstruktur der Bevölkerung dramatisch verschiebt. Rainer Münz ist Professor an der Berliner Humboldt-Universität und einer der renommiertesten deutschen Bevölkerungswissenschaftler:
Im Prinzip ist es kein Problem, sich ein Deutschland mit weniger Menschen vorzustellen. Problem ist nur, dass in kommenden vier Jahrzehnten nur die Zahl der jungen Leute immer weniger wird, die im Erwerbsalter ist. Die Zahl der Alten wird größer. Und da stellt sich die Frage, wie gestalten wir eine Gesellschaft, in der es wenig junge und viele Alte gibt. Deswegen geht es um die Frage, wie sichern wir unser Rentensystem, wie viel Geld sollen Rentner bekommen, wie lange arbeiten wir. Wie wird die Produktivität gesichert.
Die Bevölkerung vergreist – und damit droht den Sozialsystemen der Kollaps – falls der Staat nicht durch eine offensive Einwanderungspolitik gegensteuert.
Die Bevölkerungsentwicklung ist dort nicht beeinflussbar, wo Politiker es gerne hätten, in der Familienpolitik. Wir geben mehr Kindergeld und dann gibt’s mehr Geburten, das ist vergleichsweise unwahrscheinlich. Als Spätfolge des Geburtenrückgangs in den 70ern und 80ern gibt es in den kommenden Jahrzehnten weniger Mütter und Väter. Und keine noch so großzügige Familienpolitik kann mehr Eltern herbei schaffen.
In den kommenden 50 Jahren wird die Zahl der Erwerbstätigen sinken, die Zahl der Rentner dagegen steigt. Die Folge: Immer weniger Steuer- und Beitragszahler müssen immer größere Lasten stemmen. Das eröffnet zwei wenig erfreuliche Auswege: Entweder die Beiträge für Renten- und Gesundheitskassen schnellen in die Höhe, oder der Staat begrenzt die Ausgaben.
Der Ökonom Herbert Brücker vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung hat versucht, die Folgen abzuschätzen:
Wenn wir keine Einwanderung annehmen: Dann hätten wir eine Nachhaltigkeitslücke, die wäre dramatisch. Wir geben sechs Prozent des Sozialprodukts mehr aus als wir haben. Wir müssten entweder unsere Einnahmen dramatisch erhöhen oder unsere Ausgaben dramatisch kürzen. Und zwar um sechs Prozent des Sozialprodukts.
Zu noch dramatischeren Ergebnissen kommt der Bielefelder Bevölkerungswissenschaftler Herwig Birg. Er hat die Folgen der Vergreisung für die Rentenkassen durchgerechnet. Ergebnis: Entweder das Renteniveau sinkt bis zum Jahr 2050 von derzeit 70 auf 30 Prozent, oder die Beiträge schnellen um mehr als das Doppelte in die Höhe, von derzeit 19 auf über 40 Prozent. Ein Horrorszenario.
Deutschland steckt in der demographischen Falle. Die Folgen der Überalterung drohen der Wirtschaft die Luft zum Atmen abzuschnüren, fürchtet DIW-Experte Brücker.
Die Steuern und Abgaben werden massiv steigen, das heißt, der Faktor Arbeit wird immer teuerer. Und das hat erhebliche Wohlfahrtseinbußen für die Bevölkerung insgesamt zur Folge. Man kann sich sogar vorstellen, dass die Arbeitslosigkeit steigt, obwohl wir mehr Arbeitskräfte brauchen.
Diese Gefahren sieht auch die Wirtschaft. Sie pocht daher schon seit Jahren auf eine Wende in der Einwanderungspolitik. Seit 1973 herrscht ein Anwerbestopp, Deutschland hat die Schotten dicht gemacht. Seitdem ist Einwanderung nicht mehr vorgesehen. Nur noch Familienangehörige, Aussiedler aus Osteuropa sowie Asylbewerber und Flüchtlinge dürfen ins Land. Nicht aber jene Menschen, die Deutschland aufgrund ihrer Fähigkeiten und Talente dringend bräuchte, kritisiert Christoph Kannengießer von der Bundesvereinigung der Arbeitgeberverbände. Er hat in der sogenannten Süssmuth-Kommission der Bundesregierung mitgearbeitet, die Vorschläge für das rotgrüne Einwanderungsgesetz erarbeitet hat. Sein Fazit: Ohne eine gezielte Anwerbung von Einwanderern sind die Folgen der Überalterung nicht zu lösen:
Es wäre sinnvoller, zur Kenntnis zu nehmen, dass wir eine erhebliche Einwanderung haben und auch in Zukunft in erheblichem Maße auf Einwanderung angewiesen sein werden. Und dass die Frage ist, wie steuern wir das - statt eine Diskussion zu führen, ob wir uns als Einwanderungsland verstehen. Faktisch sind wir ein Einwanderungsland, wenn auch kein klassisch gewachsenes.
Die Frage, ob Deutschland ein Einwanderungsland sei, erscheint kurios beim Blick auf die Statistiken. In den vergangenen fünf Jahrzehnten hat Deutschland über 20 Millionen Menschen aufgenommen. Nach dem Krieg Millionen von Vertriebenen aus Osteuropa, dann kamen die Gastarbeiter aus den Mittelmeerländern, später Asylbewerber und Flüchtlinge sowie Aussiedler aus Osteuropa.
Feierlich und mit Musikkapelle wurde 1964 am Bahnhof Köln-Deutz der millionste Gastarbeiter empfangen. Gleichwohl konnte von einer geordneten Einwanderungspolitik in den vergangenen Jahrzehnten nie die Rede sein. Die Arbeiter aus den Mittelmeerländern galten als Gäste auf Zeit, und das verleitete zu schwerwiegenden Fehlern. Christoph Kannengießer:
Deutschland ist eines der Länder mit der höchsten Bruttoeinwanderung in Europa. Sie lag über Jahrzehnte hinweg in der Größenordnung klassischer Einwanderungsländer wie der USA. Der Unterschied ist, dass wir in der Vergangenheit viel weniger als die klassischen Einwanderungsländer unsere ökonomischen Interessen in den Blick genommen haben bei der Art und Weise wie wir Zuwanderung organisiert haben. Das ist die eigentliche Diskussion.
Mit dem Einwanderungsgesetz, das Innenminister Schily vorgelegt hat, macht eine Bundesregierung nun erstmals den Versuch, den Zustrom an ausländischen Arbeitskräften am heimischen Bedarf, an den Interessen der deutschen Gesellschaft auszurichten. Bei aller Kritik am Detail, hat das Gesetz, das unter diskussionswürdigen Umständen im Bundesrat verabschiedet wurde, einen erstaunlichen breiten gesellschaftlichen Rückhalt erfahren, von Kirchen und Sozialverbänden, Gewerkschaften und Arbeitgebern. Die beiden Eckpunkte des Gesetzes: Die Einwanderung soll gesteuert, bei Bedarf also auch begrenzt werden. Und diejenigen, die kommen, sollen rasch integriert werden.
Bedarf besteht vor allem an hochqualifizierten Fachkräften, Nach Einschätzung des Ingenieurverbandes VDI sind 40 000 Ingenieurstellen in Deutschland unbesetzt. Es mangelt an Ärzten, Programmierern, in etlichen Branchen auch an Facharbeitern. Mit dem neuen Einwanderungsgesetz können diese Kräfte künftig gezielt angeworben werden. Ein Schritt in die richtige Richtung, meint der Bevölkerungswissenschaftler Rainer Münz:
Die Instrumente sind die richtigen Instrumente. Sie sind den erfolgreichen Einwanderungsländern abgeschaut, vor allem Kanada. Wichtig ist auch ein zweiter Punkt: Den Einwanderern soll künftig von Anfang an ein Integrationsangebot gemacht werden. Wir wissen nicht, ob dieses Signal stark genug ist, um die Leute anzusprechen, die wir haben wollen. Die hochqualifizierten Kräfte, die wir brauchen, wollen in die USA und nach Kanada. In Europa hat Großbritannien die besseren Karten. Es gibt wenige, die Deutsch lernen und daher nach Deutschland kommen wollen. Das hat seine Gründe vor allem in der Abschottungspolitik der vergangenen Jahrzehnte. Das Signal, das ausgesendet wurde, lautete: Bitte kommt nicht.
Die Erfahrungen mit der Greencard geben indes Anlass zu einer nüchternen Betrachtung. 20.000 Einlasskarten waren vorgesehen, bislang sind erst 12.000 vergeben worden. Arbeitgeber-Experte Christoph Kannengießer möchte dies jedoch nicht als einen Misserfolg werten.
Es gibt keinen Anlass, über die Greencard enttäuscht zu sein. Sie hat gezeigt, dass das sie eine Möglichkeit ist, zusätzliche Beschäftigung zu schaffen, und zwar nicht nur für jene, die zu uns kommen, sondern auch für inländische Kräfte mit geringerer Qualifikation. Die Einwanderer helfen, dass die Unternehmen wettbewerbsfähig bleiben und wachsen können.
Es hat ein internationaler Wettbewerb um die talentiertesten Köpfe begonnen, und in diesem Ringen hat Deutschland nicht die besten Karten. Der Sprache wegen, aber auch, weil nach Jahren der Abschottung das Ruder so einfach nicht herum gerissen werden kann. Heinz Putzhammer, stellvertretender Vorsitzender des Deutschen Gewerkschaftsbundes:
Es reicht nicht, zu sagen, kommt nach Deutschland, da gibt’s schöne Arbeitsplätze. Gerade bei Hochqualifizierten. Bevorzugen USA, da findet man besser bezahlten Job. Deshalb war es notwendig, nicht nur die Einwanderungsregeln neu zu fassen, sondern auch dafür zu sorgen, dass die Integration, Nicht-Diskriminierung von Ausländern zu garantieren, damit Arbeiten für Ausländer überhaupt erst attraktiv wird.
Deutschland muss attraktiver werden für Einwanderer, fordern daher die Experten. Es muss vor allem die Grundlage schaffen, für eine rasche Integration der ausländischen Fachkräfte. Das ist in der Vergangenheit versäumt worden. Die Folge: Die Arbeitslosigkeit unter ausländischen Jugendlichen ist überdurchschnittlich groß. Selbst hier geborene Einwandererkinder haben nicht selten so gravierende Sprachdefizite, dass von Chancengleichheit kaum die Rede sein kann. Und das wiederum erzeugt in Teilen der Bevölkerung das Gefühl, die neuen Nachbarn überforderten die Gesellschaft.
Was geschieht, wenn wir nichts verändern? Die Aussichten sind wenig ersprießlich: Die Zahl derjenigen, die zuwandern und anschließend wenig integriert sind, wird wachsen. Und dann wächst die Belastung der Sozialsysteme, ganz in der Tradition der vergangenen Jahre.
Versäumnisse bei der Integration mindern die Chancen der Einwanderer auf dem Arbeitsmarkt. Im Durchschnitt, so der Bielefelder Einwanderungsexperte Herwig Birg, ist die Arbeitslosigkeit unter Migranten doppelt so hoch wie unter der eingesessenen Bevölkerung. Der Gewerkschafter Heinz Putzhammer fordert daher radikale Reformen:
Es reicht nicht, Begrüßungspakete zu schnüren mit einem Deutschkurs und ein paar Broschüren über Deutschland. Wer Integration ernst meint, der muss weiter gehen. Der wird landen bei einer notwendigen Reform des Bildungswesens in Deutschland. Das fängt bei den Kindergärten an, geht die über Grundschulen bis hin zu den Universitäten. Es kann nicht mehr länger sein, dass das Bildungssystem ganz auf Deutsche zugeschnitten ist, und dann muss man noch ein paar Kurse einrichten für Ausländer. Wir haben in den großen Städten schon jetzt eine so gemischte Schulbevölkerung, dass das Schulsystem den Anforderungen überhaupt nicht mehr gerecht wird. Das ist eine Integrationsleistung, die weit über das hinaus geht, was im Gesetz verabschiedet worden ist.
Die Frage aber bleibt: Wie viel Einwanderung braucht das Land, wie viel ist verträglich angesichts von vier Millionen Arbeitslosen? Bevölkerungswissenschaftler wie Rainer Münz gehen davon aus, das in den nächsten fünf Jahrzehnten jedes Jahr 450 000 Menschen nach Deutschland einwandern müssten, um den Bevölkerungsschwund auszugleichen. Er plädiert jedoch für einen flexiblen Mechanismus, ein atmendes System, das die Bedürfnisse des Marktes und die Belastbarkeit der Gesellschaft gleichermaßen berücksichtige und entsprechend angepasst werden könne.
Bereits jetzt reisen zur Spargel- und Erdbeerernte jährlich rund 200 000 Saisonarbeiter vorwiegend aus Polen an. Mittlerweile herrscht nämlich auch in den unteren Lohngruppen Arbeitskräftemangel. Krankenhäuser suchen verzweifelt Pflegepersonal, im Dienstleistungsbereich bleiben Stellen unbesetzt.
Dieser Mangel müsse vor allem durch Reformen, etwa auf dem Arbeitsmarkt, gedämpft werden. Die Berufstätigkeit von Frauen könnte gesteigert werden, indem die Vereinbarkeit von Job und Familie verbessert werden. Unvermeidlich, so meint Arbeitgebervertreter Kannengießer, werde auch eine Verlängerung der Lebensarbeitszeit werden, um die Sozialkassen zu entlasten. Ohne fremde Hilfe, meint Kannengießer, können wir die Probleme jedoch kaum lösen.
Dort wo das nicht gelingt, ist es besser, durch gezielte Zuwanderung Engpässe zu vermeiden, als der Illusion nachzuhängen, durch Knappheiten die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen. Freie Stellen führen dazu, dass mögliche Wachstumspotentiale von Unternehmen nicht genutzt werden, und das hat negative Auswirkungen auf diejenigen, die Arbeit suchen, vor allem niedrig Qualifizierte.
Ein Problem, das auch der sauerländer Metallunternehmener Schiebler kennt. Er möchte seine Firma erweitern, eine millionenschwere Investition ist geplant. Im Februar könnte es losgehen. Die Frage, wo er zusätzliche Arbeitskräfte finden kann, ist jedoch noch ungeklärt. Einen Erfolg immerhin kann er verbuchen: Den Arbeitsplatz von Fadil Bitik muss er nicht neu besetzen, die Proteste hatten Erfolg, die Abschiebung ist vom Tisch. Wenn alles planmäßig verläuft, dann wird er schon bald eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis bekommen.
Jetzt kann ich ein ganz neues Leben führen. Vorher konnte ich gar nicht planen, konnte nur für paar Tage einkaufen. Ich wusste ja nicht, wie lange ich bleiben kann in Deutschland. Jetzt kann ich machen was ich will. Ich möchte hier bleiben. Und ein Haus bauen. Nächstes Jahr geht es los.
Die Pläne standen vor zwei Jahren jäh vor dem Ende. Die nordrhein-westfälische Landesregierung drängte auf die Abschiebung der Bürgerkriegsflüchtlinge aus dem Kosovo in die Heimat. Bitiks Chef Klaus Schiebler ging auf die Barrikade – der 37-jährige Mann aus dem Kosovo gilt in dem mittelständischen Metallbetrieb als unverzichtbar. Denn in Arnsberg herrscht akuter Mangel an Arbeitskräften:
Ich hab natürlich auch an meinen Betrieb gedacht. Ich habe beim Arbeitsamt gefragt. Die haben dann Leute geschickt, die waren zwei Tage da, dann wollten sie nicht mehr. Viele wollten nicht dazu lernen. Und der Herr Bitik hat mir das Gefühl gegeben, er wollte einfach. Da hab ich gedacht, Mensch, für den Mann muss du kämpfen. Da merkte ich, da hängen noch viel mehr Familien dran.
220 Familien aus dem Bürgerkriegsland drohte die Abschiebung. Doch dagegen formierte sich ein breiter Widerstand. Angeführt von Arnsbergs Bürgermeister Hans-Josef Vogel. Die 80 000-Seelen-Stadt brauche die Flüchtlinge, meint der Christdemokrat. -- Wir hatten und haben in handwerklichen Berufen Arbeitskräftemangel, der nicht aus der Region gedeckt werden kann. Deshalb haben die Flüchtlinge schnell Arbeit gefunden. Die Kinder sind hier geboren, die Familien sind Bestandteil unseres Lebens. Deshalb haben wir gesagt: Wir sehen es nicht ein, dass sie in ein Bürgerkriegsland zurück geschickt werden sollen.
In den kommenden 15 Jahren wird die Bevölkerung Arnsbergs um über zehn Prozent auf 70 000 schrumpfen. Und das wird die Stadt vor große Probleme stellen. Denn mit der Zahl der Einwohner gehen auch die Einnahmen des Stadtkämmerers zurück, die Ausgaben aber bleiben hoch. Denn die Stadt kann nicht einfach Straßen vergammeln lassen oder das Kanalnetz verkleinern.
Die Stadt Arnsberg wird massiv von der Bevölkerungsentwicklung betroffen sein. Es wird immer mehr alte Menschen und immer weniger junge Menschen geben. Die gesamte Infrastruktur, ob Schulen, Kindertagesstätten, Abwasser, etc. ist ausgerichtet auf eine bestimmte Bevölkerungszahl. Wir können die Infrastruktur aber nicht von heute auf morgen zurück bauen. Wir können ja nicht einfach ganze Stadtteile schließen. Deswegen war es für mich wichtig, dass wir mit der Zuwanderung diese Entwicklung selber abfedern.
In Arnsberg ist wie unter einem Brennglas zu beobachten, was auf die gesamte Bundesrepublik zukommt. Die Bevölkerung schrumpft in den kommenden Jahrzehnten dramatisch. Und das hat Folgen für die Staatsfinanzen und die sozialen Sicherungssysteme.
Bevölkerungswissenschaftler haben ziemlich verlässliche Prognosen für die Bevölkerungsentwicklung bis zum Jahr 2050 aufgestellt. Danach wird die Einwohnerzahl in Deutschland von derzeit 82 Millionen um 20 Millionen auf etwa 60 Millionen sinken. Der Grund: Die Geburtenzahlen sinken seit drei Jahrzehnten, und wir werden immer älter. Kritisch wird die Entwicklung vor allem, weil sich die Alterstruktur der Bevölkerung dramatisch verschiebt. Rainer Münz ist Professor an der Berliner Humboldt-Universität und einer der renommiertesten deutschen Bevölkerungswissenschaftler:
Im Prinzip ist es kein Problem, sich ein Deutschland mit weniger Menschen vorzustellen. Problem ist nur, dass in kommenden vier Jahrzehnten nur die Zahl der jungen Leute immer weniger wird, die im Erwerbsalter ist. Die Zahl der Alten wird größer. Und da stellt sich die Frage, wie gestalten wir eine Gesellschaft, in der es wenig junge und viele Alte gibt. Deswegen geht es um die Frage, wie sichern wir unser Rentensystem, wie viel Geld sollen Rentner bekommen, wie lange arbeiten wir. Wie wird die Produktivität gesichert.
Die Bevölkerung vergreist – und damit droht den Sozialsystemen der Kollaps – falls der Staat nicht durch eine offensive Einwanderungspolitik gegensteuert.
Die Bevölkerungsentwicklung ist dort nicht beeinflussbar, wo Politiker es gerne hätten, in der Familienpolitik. Wir geben mehr Kindergeld und dann gibt’s mehr Geburten, das ist vergleichsweise unwahrscheinlich. Als Spätfolge des Geburtenrückgangs in den 70ern und 80ern gibt es in den kommenden Jahrzehnten weniger Mütter und Väter. Und keine noch so großzügige Familienpolitik kann mehr Eltern herbei schaffen.
In den kommenden 50 Jahren wird die Zahl der Erwerbstätigen sinken, die Zahl der Rentner dagegen steigt. Die Folge: Immer weniger Steuer- und Beitragszahler müssen immer größere Lasten stemmen. Das eröffnet zwei wenig erfreuliche Auswege: Entweder die Beiträge für Renten- und Gesundheitskassen schnellen in die Höhe, oder der Staat begrenzt die Ausgaben.
Der Ökonom Herbert Brücker vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung hat versucht, die Folgen abzuschätzen:
Wenn wir keine Einwanderung annehmen: Dann hätten wir eine Nachhaltigkeitslücke, die wäre dramatisch. Wir geben sechs Prozent des Sozialprodukts mehr aus als wir haben. Wir müssten entweder unsere Einnahmen dramatisch erhöhen oder unsere Ausgaben dramatisch kürzen. Und zwar um sechs Prozent des Sozialprodukts.
Zu noch dramatischeren Ergebnissen kommt der Bielefelder Bevölkerungswissenschaftler Herwig Birg. Er hat die Folgen der Vergreisung für die Rentenkassen durchgerechnet. Ergebnis: Entweder das Renteniveau sinkt bis zum Jahr 2050 von derzeit 70 auf 30 Prozent, oder die Beiträge schnellen um mehr als das Doppelte in die Höhe, von derzeit 19 auf über 40 Prozent. Ein Horrorszenario.
Deutschland steckt in der demographischen Falle. Die Folgen der Überalterung drohen der Wirtschaft die Luft zum Atmen abzuschnüren, fürchtet DIW-Experte Brücker.
Die Steuern und Abgaben werden massiv steigen, das heißt, der Faktor Arbeit wird immer teuerer. Und das hat erhebliche Wohlfahrtseinbußen für die Bevölkerung insgesamt zur Folge. Man kann sich sogar vorstellen, dass die Arbeitslosigkeit steigt, obwohl wir mehr Arbeitskräfte brauchen.
Diese Gefahren sieht auch die Wirtschaft. Sie pocht daher schon seit Jahren auf eine Wende in der Einwanderungspolitik. Seit 1973 herrscht ein Anwerbestopp, Deutschland hat die Schotten dicht gemacht. Seitdem ist Einwanderung nicht mehr vorgesehen. Nur noch Familienangehörige, Aussiedler aus Osteuropa sowie Asylbewerber und Flüchtlinge dürfen ins Land. Nicht aber jene Menschen, die Deutschland aufgrund ihrer Fähigkeiten und Talente dringend bräuchte, kritisiert Christoph Kannengießer von der Bundesvereinigung der Arbeitgeberverbände. Er hat in der sogenannten Süssmuth-Kommission der Bundesregierung mitgearbeitet, die Vorschläge für das rotgrüne Einwanderungsgesetz erarbeitet hat. Sein Fazit: Ohne eine gezielte Anwerbung von Einwanderern sind die Folgen der Überalterung nicht zu lösen:
Es wäre sinnvoller, zur Kenntnis zu nehmen, dass wir eine erhebliche Einwanderung haben und auch in Zukunft in erheblichem Maße auf Einwanderung angewiesen sein werden. Und dass die Frage ist, wie steuern wir das - statt eine Diskussion zu führen, ob wir uns als Einwanderungsland verstehen. Faktisch sind wir ein Einwanderungsland, wenn auch kein klassisch gewachsenes.
Die Frage, ob Deutschland ein Einwanderungsland sei, erscheint kurios beim Blick auf die Statistiken. In den vergangenen fünf Jahrzehnten hat Deutschland über 20 Millionen Menschen aufgenommen. Nach dem Krieg Millionen von Vertriebenen aus Osteuropa, dann kamen die Gastarbeiter aus den Mittelmeerländern, später Asylbewerber und Flüchtlinge sowie Aussiedler aus Osteuropa.
Feierlich und mit Musikkapelle wurde 1964 am Bahnhof Köln-Deutz der millionste Gastarbeiter empfangen. Gleichwohl konnte von einer geordneten Einwanderungspolitik in den vergangenen Jahrzehnten nie die Rede sein. Die Arbeiter aus den Mittelmeerländern galten als Gäste auf Zeit, und das verleitete zu schwerwiegenden Fehlern. Christoph Kannengießer:
Deutschland ist eines der Länder mit der höchsten Bruttoeinwanderung in Europa. Sie lag über Jahrzehnte hinweg in der Größenordnung klassischer Einwanderungsländer wie der USA. Der Unterschied ist, dass wir in der Vergangenheit viel weniger als die klassischen Einwanderungsländer unsere ökonomischen Interessen in den Blick genommen haben bei der Art und Weise wie wir Zuwanderung organisiert haben. Das ist die eigentliche Diskussion.
Mit dem Einwanderungsgesetz, das Innenminister Schily vorgelegt hat, macht eine Bundesregierung nun erstmals den Versuch, den Zustrom an ausländischen Arbeitskräften am heimischen Bedarf, an den Interessen der deutschen Gesellschaft auszurichten. Bei aller Kritik am Detail, hat das Gesetz, das unter diskussionswürdigen Umständen im Bundesrat verabschiedet wurde, einen erstaunlichen breiten gesellschaftlichen Rückhalt erfahren, von Kirchen und Sozialverbänden, Gewerkschaften und Arbeitgebern. Die beiden Eckpunkte des Gesetzes: Die Einwanderung soll gesteuert, bei Bedarf also auch begrenzt werden. Und diejenigen, die kommen, sollen rasch integriert werden.
Bedarf besteht vor allem an hochqualifizierten Fachkräften, Nach Einschätzung des Ingenieurverbandes VDI sind 40 000 Ingenieurstellen in Deutschland unbesetzt. Es mangelt an Ärzten, Programmierern, in etlichen Branchen auch an Facharbeitern. Mit dem neuen Einwanderungsgesetz können diese Kräfte künftig gezielt angeworben werden. Ein Schritt in die richtige Richtung, meint der Bevölkerungswissenschaftler Rainer Münz:
Die Instrumente sind die richtigen Instrumente. Sie sind den erfolgreichen Einwanderungsländern abgeschaut, vor allem Kanada. Wichtig ist auch ein zweiter Punkt: Den Einwanderern soll künftig von Anfang an ein Integrationsangebot gemacht werden. Wir wissen nicht, ob dieses Signal stark genug ist, um die Leute anzusprechen, die wir haben wollen. Die hochqualifizierten Kräfte, die wir brauchen, wollen in die USA und nach Kanada. In Europa hat Großbritannien die besseren Karten. Es gibt wenige, die Deutsch lernen und daher nach Deutschland kommen wollen. Das hat seine Gründe vor allem in der Abschottungspolitik der vergangenen Jahrzehnte. Das Signal, das ausgesendet wurde, lautete: Bitte kommt nicht.
Die Erfahrungen mit der Greencard geben indes Anlass zu einer nüchternen Betrachtung. 20.000 Einlasskarten waren vorgesehen, bislang sind erst 12.000 vergeben worden. Arbeitgeber-Experte Christoph Kannengießer möchte dies jedoch nicht als einen Misserfolg werten.
Es gibt keinen Anlass, über die Greencard enttäuscht zu sein. Sie hat gezeigt, dass das sie eine Möglichkeit ist, zusätzliche Beschäftigung zu schaffen, und zwar nicht nur für jene, die zu uns kommen, sondern auch für inländische Kräfte mit geringerer Qualifikation. Die Einwanderer helfen, dass die Unternehmen wettbewerbsfähig bleiben und wachsen können.
Es hat ein internationaler Wettbewerb um die talentiertesten Köpfe begonnen, und in diesem Ringen hat Deutschland nicht die besten Karten. Der Sprache wegen, aber auch, weil nach Jahren der Abschottung das Ruder so einfach nicht herum gerissen werden kann. Heinz Putzhammer, stellvertretender Vorsitzender des Deutschen Gewerkschaftsbundes:
Es reicht nicht, zu sagen, kommt nach Deutschland, da gibt’s schöne Arbeitsplätze. Gerade bei Hochqualifizierten. Bevorzugen USA, da findet man besser bezahlten Job. Deshalb war es notwendig, nicht nur die Einwanderungsregeln neu zu fassen, sondern auch dafür zu sorgen, dass die Integration, Nicht-Diskriminierung von Ausländern zu garantieren, damit Arbeiten für Ausländer überhaupt erst attraktiv wird.
Deutschland muss attraktiver werden für Einwanderer, fordern daher die Experten. Es muss vor allem die Grundlage schaffen, für eine rasche Integration der ausländischen Fachkräfte. Das ist in der Vergangenheit versäumt worden. Die Folge: Die Arbeitslosigkeit unter ausländischen Jugendlichen ist überdurchschnittlich groß. Selbst hier geborene Einwandererkinder haben nicht selten so gravierende Sprachdefizite, dass von Chancengleichheit kaum die Rede sein kann. Und das wiederum erzeugt in Teilen der Bevölkerung das Gefühl, die neuen Nachbarn überforderten die Gesellschaft.
Was geschieht, wenn wir nichts verändern? Die Aussichten sind wenig ersprießlich: Die Zahl derjenigen, die zuwandern und anschließend wenig integriert sind, wird wachsen. Und dann wächst die Belastung der Sozialsysteme, ganz in der Tradition der vergangenen Jahre.
Versäumnisse bei der Integration mindern die Chancen der Einwanderer auf dem Arbeitsmarkt. Im Durchschnitt, so der Bielefelder Einwanderungsexperte Herwig Birg, ist die Arbeitslosigkeit unter Migranten doppelt so hoch wie unter der eingesessenen Bevölkerung. Der Gewerkschafter Heinz Putzhammer fordert daher radikale Reformen:
Es reicht nicht, Begrüßungspakete zu schnüren mit einem Deutschkurs und ein paar Broschüren über Deutschland. Wer Integration ernst meint, der muss weiter gehen. Der wird landen bei einer notwendigen Reform des Bildungswesens in Deutschland. Das fängt bei den Kindergärten an, geht die über Grundschulen bis hin zu den Universitäten. Es kann nicht mehr länger sein, dass das Bildungssystem ganz auf Deutsche zugeschnitten ist, und dann muss man noch ein paar Kurse einrichten für Ausländer. Wir haben in den großen Städten schon jetzt eine so gemischte Schulbevölkerung, dass das Schulsystem den Anforderungen überhaupt nicht mehr gerecht wird. Das ist eine Integrationsleistung, die weit über das hinaus geht, was im Gesetz verabschiedet worden ist.
Die Frage aber bleibt: Wie viel Einwanderung braucht das Land, wie viel ist verträglich angesichts von vier Millionen Arbeitslosen? Bevölkerungswissenschaftler wie Rainer Münz gehen davon aus, das in den nächsten fünf Jahrzehnten jedes Jahr 450 000 Menschen nach Deutschland einwandern müssten, um den Bevölkerungsschwund auszugleichen. Er plädiert jedoch für einen flexiblen Mechanismus, ein atmendes System, das die Bedürfnisse des Marktes und die Belastbarkeit der Gesellschaft gleichermaßen berücksichtige und entsprechend angepasst werden könne.
Bereits jetzt reisen zur Spargel- und Erdbeerernte jährlich rund 200 000 Saisonarbeiter vorwiegend aus Polen an. Mittlerweile herrscht nämlich auch in den unteren Lohngruppen Arbeitskräftemangel. Krankenhäuser suchen verzweifelt Pflegepersonal, im Dienstleistungsbereich bleiben Stellen unbesetzt.
Dieser Mangel müsse vor allem durch Reformen, etwa auf dem Arbeitsmarkt, gedämpft werden. Die Berufstätigkeit von Frauen könnte gesteigert werden, indem die Vereinbarkeit von Job und Familie verbessert werden. Unvermeidlich, so meint Arbeitgebervertreter Kannengießer, werde auch eine Verlängerung der Lebensarbeitszeit werden, um die Sozialkassen zu entlasten. Ohne fremde Hilfe, meint Kannengießer, können wir die Probleme jedoch kaum lösen.
Dort wo das nicht gelingt, ist es besser, durch gezielte Zuwanderung Engpässe zu vermeiden, als der Illusion nachzuhängen, durch Knappheiten die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen. Freie Stellen führen dazu, dass mögliche Wachstumspotentiale von Unternehmen nicht genutzt werden, und das hat negative Auswirkungen auf diejenigen, die Arbeit suchen, vor allem niedrig Qualifizierte.
Ein Problem, das auch der sauerländer Metallunternehmener Schiebler kennt. Er möchte seine Firma erweitern, eine millionenschwere Investition ist geplant. Im Februar könnte es losgehen. Die Frage, wo er zusätzliche Arbeitskräfte finden kann, ist jedoch noch ungeklärt. Einen Erfolg immerhin kann er verbuchen: Den Arbeitsplatz von Fadil Bitik muss er nicht neu besetzen, die Proteste hatten Erfolg, die Abschiebung ist vom Tisch. Wenn alles planmäßig verläuft, dann wird er schon bald eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis bekommen.
Jetzt kann ich ein ganz neues Leben führen. Vorher konnte ich gar nicht planen, konnte nur für paar Tage einkaufen. Ich wusste ja nicht, wie lange ich bleiben kann in Deutschland. Jetzt kann ich machen was ich will. Ich möchte hier bleiben. Und ein Haus bauen. Nächstes Jahr geht es los.