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Geschundene grandiose Stadt

New Orleans ist bekannt für seinen Jazz, Mardi Gras oder auch für die kreolische Kultur. Überschattet wird die Stadt im US-Bundesstaat Louisiana jedoch von den Folgen des Hurrikans Katrina sowie der Ölpest am Golf von Mexiko. Die Schäden sind bis heute zu sehen.

Von Harald Brandt | 31.07.2011
    Das Vogelgezwitscher kommt vom Band, auch die Musik, aber der Flughafen ist echt. Während ich darauf warte, dass mein Gepäck auf dem Laufband erscheint, wird mir bewusst, dass ich im Süden bin. Die Menschen wirken entspannt und der Louis Armstrong New Orleans International Airport hat etwas angenehm altmodisches und improvisiertes. Auch der Fahrer des Shuttles, der die Reisenden zu den verschiedenen Hotels in Downtown bringt, ist ein lockerer Typ. Der junge Afroamerikaner unterhält den ganzen Bus mit dem neusten Klatsch aus New Orleans und liefert jede Menge praktische Informationen über die green streetcar, die grüne Straßenbahn, die von der zentralen Canal Street durch den Garden District bis zum Audobon Aquarium und der Tulane Universität fährt. Ich bin der Einzige, der am O'Keefee Plaza Hotel aussteigt.

    Als Reisender muss man immer auf Überraschungen gefasst sein. Mein Hotel liegt zwar zentral im Businessdistrict , ist aber nicht viel mehr als eine Absteige für Wochenendurlauber, die es zu Beginn der Karnevalssaison in New Orleans "mal so richtig krachen" lassen wollen.

    Dafür lassen sich die Fenster öffnen - ein Luxus in den USA - und die Sonnenstrahlen, die für wenige Minuten durch die Lücke zwischen zwei Hochhäusern gegenüber direkt auf mein Bett fallen, werden nicht durch die schmutzigen Scheiben gefiltert.

    Im French Market, den überdachten Markthallen am östlichen Rand der historischen Altstadt von New Orleans, treffe ich Audrey. Sie ist Medium und bedient sich der Tarotkarten, um für ein paar Dollar die Zukunft vorherzusagen. Nachdem ich die Karten gemischt und zweimal abgehoben habe - konzentriere dich ganz auf deine Frage, sagt Audrey - gebe ich ihr meine rechte Hand, die sie für die Dauer der Konsultation nicht mehr loslassen wird. Wie ist die Zukunft des Golfs von Mexico, will ich von ihr wissen, wie lange wird es dauern, bis sich die Region von den Folgen der schweren Ölpest im Jahr 2010 erholt hat ? Zwischen April und Juli 2010 waren nach dem Sinken der von BP betriebenen Bohrplattform Deepwater Horizon etwa 780 Millionen Liter Rohöl aus dem Bohrloch in 1500 Meter Tiefe in den Golf geströmt. Die Karten sehen gut aus, meint Audrey, zumindest, was die Umwelt betrifft. Allerdings wird es mindestens zehn Jahre dauern, bis alles wieder im Lot ist. Das Gleichgewicht wird durch die Karte der Kaiserin symbolisiert, die einen Fuß auf der Erde und einen Fuß auf dem Mond hat. Also ... kosmisches Gleichgewicht. Wir müssen sicherstellen, dass so etwas nicht noch einmal passiert, sagt die Kartenleserin und wirkt dabei weniger wie ein Medium denn wie eine ganz normale Bürgerin des Bundesstaates Louisiana, die einfach nur schockiert ist, über das Ausmaß der Katastrophe. So schlimm war es noch nie, murmelt sie und dreht eine weiter Karte um. Die Ölindustrie wird weitermachen, aber sie werden sehr vorsichtig sein, ich sehe keine Konflikte in der Zukunft. Diese Karte ist der König des Pentagramms, sie symbolisiert wieder die Erde, aber auch die Finanzen, das Öl und verantwortliches Handeln. Es wird mindestens noch ein halbes Jahr dauern, bis neue Bohrungen im Golf von Mexico erlaubt werden.

    Mit ihrer Vorhersage über die neuen Tiefseebohrungen hat sich die Wahrsagerin geirrt. Schon Ende März 2011 wurde der Industrie wieder grünes Licht für die Ausbeutung der riesigen Öl-und Gasvorkommen im Golf von Mexico gegeben. Dass es zehn Jahre dauern könnte, bis sich das Ökosystem des Golfs von den Folgen der letzten Ölpest erholt hat, ist dagegen sicherlich richtig. Moon Walk heißt dieser Teil der Uferpromenade zwischen dem French Quarter und dem Mississippi. Während ich dem Anlegemanöver eines alten Schaufelraddampfers zusehe, denke ich daran, dass die Stadt New Orleans, die 1718 unter dem Namen La Nouvelle Orleans von den Franzosen gegründet wurde, in ihrer relativ kurzen Geschichte schon von vielen Katastrophen heimgesucht worden ist. Aber die großflächige Absenkung des ganzen Mississippi-Deltas, die zum Teil auch auf das Konto der Ölindustrie geht, macht die ganze Region für die Folgen des Klimawandels verwundbarer und gefährdet die Existenz der ehemaligen Hauptstadt von Louisiana. Als in Folge des Wirbelsturms Katrina im Sommer 2005 die Deiche brachen, ergossen sich die Wasser des Lake Pontchartrain im Norden von New Orleans in die unter dem Meeresspiegel liegenden Stadtbezirke und verwandelten die Straßen in Wasserwege, die nur noch mit dem Boot zu befahren waren. In der historischen Altstadt und auch im Finanzdistrikt sind die Schäden repariert, man sieht kaum noch Spuren der Jahrhundertflut. Weiter im Norden dagegen, in den sozial schwächeren Public Housing Areas, sind die Auswirkungen des Wirbelsturms deutlich sichtbar und werden erst nach und nach beseitigt.

    Viele der früheren Bewohner sind nicht mehr zurückgekehrt - die neuen
    Häuser, die hier entstehen, können sie sich nicht mehr leisten.

    Zum Glück gibt es doch einige Musiker, die nach dem Wirbelsturm wieder in die Stadt zurückgekommen sind. Obwohl gerade sie von den sozialen Folgen der Katastrophe besonders betroffen waren. An der Ecke Rue Royale/Rue St Louis spielt ein Straßenorchester unter dem Vordach eines der alten, im kreolischen Stil erbauten Häuser des French Quarter. Die Musiker sind so gut, dass es mir schwerfällt, mich von ihnen zu trennen, aber ich habe eine Verabredung mit dem jungen Maler Brian Cunningham in einer Galerie, die er zusammen mit einer Freundin ein paar Schritte weiter in der Rue Royale betreibt.

    Brians Bilder greifen die grellen Motive der Werbebanner auf, die in älteren amerikanischen Comics auf den hinteren Seiten zu finden waren. Totenköpfe, von Röntgenstrahlen durchleuchtete Pinup girls und das ganze Sammelsurium von magischen Objekten, die man in den einschlägigen Geschäften von New Orleans finden kann. Das sind Pulver für Liebestränke und alle möglichen Rezepte, um sein Schicksal zum besseren zu wenden oder um einen Fluch loszuwerden. Vor 18 Jahren entdeckte Brian in seiner Heimatstadt Detroit eine Voodoopuppe in einem Laden für Devotionalien und die Suche nach dem Hersteller brachte ihn nach New Orleans. Etwa 14 Prozent der Bevölkerung praktizieren Voodoo als Religion, schätzt Brian. Aber diese Rituale würden eher im Verborgenen praktiziert, sie seien durchaus seriös und hätten wenig mit dem Hoodoo gemeinsam, der populären Form alltäglicher Zauberei, die eher für Touristen bestimmt ist . Im Hinterzimmer der Galerie hat sich Brian Cunningham ein Malatelier eingerichtet, die aufwendig gearbeiteten, mit religiösen Motiven verzierten Rahmen aus Holzabfällen, fertigt er aber immer noch in seiner alten Heimat Michigan an.

    Am westlichen Ende der Baratarya Bay, etwa zwei Autostunden von New Orleans entfernt, befindet sich die Barriereinsel Grand Isle, die wie ein Schutzschild vor der Küste liegt und das Marschland Louisianas vor der verheerenden Kraft der tropischen Wirbelstürme schützt. Am 28. und 29. August 2005 zog Katrina über die Insel hinweg, zerstörte Campingplätze und Häuser und beschädigte sogar die Brücke zum Festland. Gerade als sich die Bewohner der Insel von den wirtschaftlichen Folgen des Wirbelsturms erholt hatten, kam das Öl. Heute, ein Jahr nach der schwersten Ölpest in der Geschichte der USA sind die Strände wieder sauber, aber die Bewohner von Grand Isle wissen, dass bisher nur die sichtbaren Spuren der Umweltkatastrophe beseitigt worden sind. Wissenschaftler haben großflächige Ölablagerungen am Meeresboden gefunden, die um so dicker werden, je näher man an das Bohrloch in 1500 Meter Tiefe kommt.

    "Das wird bestimmt Auswirkungen auf die Fische haben", meint June Brignac, die Besitzerin des Wateredge Beach Resort, die den Großteil ihrer Zimmer an Ölarbeiter vermietet.

    Ihre Situation ist typisch für viele Menschen an der Golfküste, die ihre Einnahmen ganz aus dem Tourismus ziehen. Die restlichen Ölarbeiter, die noch mit der Reinigung der Strände beschäftigt sind, sichern ihr Einkommen, aber die normalen Touristen bleiben weg.

    Zwei Tage später bin ich auf Dauphin Island im Bundesstaat Alabama. Auch diese Insel ist eine lang gestreckte Sandbarriere, die die weite Bucht von Mobile vor Wind und Wellen schützt. Mobile Bay ist die zweitgrößte Wasserscheide im Golf von Mexico. Der mächtige Süßwasserstrom aus dem Norden habe Dauphin Island zwar vor den schlimmsten Folgen der Ölpest bewahrt, meint Carole Clark, allerdings dazu beigetragen, das Öl nach Westen, also nach Louisiana umzuleiten. Die resolute Amerikanerin, die auf Dauphin Island eines der wenigen Bed&Breakfast betreibt, wartet immer noch auf Entschädigungen aus dem milliardenschweren Hilfsfonds, den der Ölmulti BP nach der Explosion der Deepwater Horizon eingerichtet hat, um wenigstens die schlimmsten wirtschaftlichen Folgen abzumildern.

    Zwölf große Charterboote gibt es auf der Insel, die an die 50 Leute aufs Meer bringen können, erzählt mir Carol Clark, die früher als Krankenschwester in Guatemala gearbeitet hat. Obwohl die Fische im Golf von Mexico offiziell wieder für den Konsum freigegeben sind, bezahle BP den Bootskapitänen immer noch Geld, um die Schiffe im Hafen zu halten. Das hätten ihr die Eigentümer selbst gesagt, als sie versuchte für ihre Gäste eine Angeltour zu organisieren.

    "Es beeinträchtigt mein Geschäft, wenn keine Boote rausfahren", meint Carol Clark mit einem resignierten Lächeln.
    "Ich kriege nämlich kein Geld, um meine Zimmer nicht zu vermieten."

    Dauphin Island ist ein idealer Ausgangspunkt für die Hochseefischerei . Man braucht nur etwa eine Stunde um die Gründe zu erreichen, wo man Drückerfische, Blaubarsche, und andere Tiefseefische angeln kann. Carol Clark und ihr Ehemann Georges, ein pensionierter Polizist aus Chicago hoffen, dass im April 2011 wenigstens einige Vogelkundler wieder auf die Insel kommen. Dauphin Island liegt auf der Hauptmigrationsroute von Südamerika, die Vögel sind 800 Meilen über offenes Wasser geflogen, und die Insel ist der erste Ort, wo sie frisches Wasser und Nahrung finden. Es sind über 250 Arten, die auf ihrer Wanderung von Süd-nach Nordamerika hier Zwischenstation machen.

    Nachdem ich meinen Mietwagen bei der Leihfirma im Warehouse District von New Orleans abgegeben habe, setze ich mich in die Straßenbahn und fahre zurück in die Altstadt. Im Blue Nile, einer Musikkneipe in der Frenchman Street will ich Jonathan Henderson treffen, einen Aktivisten der Umweltschutzorganisation Gulf Restauration Network, die seit vielen Jahren für den Erhalt des Ökosystems am Mississippi-Delta kämpft. Die Fenster stehen offen, aus den Gärten dringen Blütendüfte in die alten Waggons der St. Charles Streetcar und an den Haltestellen kann man mit den Passanten auf der Straße ein paar Worte tauschen. Es lässt sich gut leben hier. Nur die Frage, warum der Ölmulti BP den Fischern an der Golfküste immer noch Geld bezahlt, damit sie ihre Schiffe im Hafen lassen, lässt mir keine Ruhe. Sie hat mich auf der ganzen Rückfahrt von Dauphin Island nach New Orleans beschäftigt.

    "Vielleicht hat British Petrol Angst davor, dass die Fischer ohne nennenswert Fang zurückkommen", meinte Jonathan Henderson am Telefon.
    "Das würde nämlich bedeuten, dass die Reproduktion durch das Öl beeinträchtigt wurde. Oder sie wollen verhindern, dass die Leute missgestaltete Tiere sehen. Die gibt es leider schon ... "

    Im Blue Nile findet ein Benefizkonzert für die Gulf Restoration Network und die Organisation Sweet New Orleans statt, die nach dem Wirbelsturm Katrina vor allen Musikern geholfen hat, wieder auf die Beine zu kommen. Viele Künstler haben durch die Flut alles verloren, meint Jonathan Henderson, ihre Häuser, ihre Instrumente, ihre Probenräume. Sweet New Orleans bemüht sich, diesen Menschen wieder eine Perspektive zu geben und damit die Kultur in der Stadt zu halten, während sich die Gulf Restoration Network um den Schutz der Golfküste kümmert. Uns bleiben weniger als zehn Jahre, um die Feuchtgebiete, also die Sümpfe und das Marschland wieder intakt zu setzen, sagt Jonathan Henderson, der während der Ölpest fast jeden Tag mit dem Helikopter oder auf Fischerbooten an der Küste unterwegs war.

    "Wenn wir die Küste nicht erhalten können, dann verlieren wir auch die Musik und die Kultur und die Meeresfrüchte und zum Schluss vielleicht auch New Orleans selbst. Wenn das natürliche Puffersystem der Feuchtgebiete seine Funktion nicht mehr erfüllt und die Küste immer näher rückt, dann braucht es keinen Wirbelsturm wie Katrina, um die Stadt unter Wasser zu setzen. Dann reicht schon ein ganz normales tropisches Tiefdruckgebiet. Deshalb haben sich die Musiker mit den Umweltschützern verbündet ... "

    Nach dem Konzert im Blue Nile gehe ich über den Moon Walk langsam in mein Hotel zurück. Dichter Nebel liegt über dem Mississippi, das gegenüberliegende Ufer ist verschwunden, so als gäbe es schon keine Küste mehr. Ein Pärchen kommt mir entgegen und begrüßt mich.

    "Ist das nicht fantastisch?", fragt die junge Frau im Vorbeigehen, "so habe ich New Orleans noch nie gesehen !"

    "Es ist wunderschön", entgegne ich, und sie dreht sich noch einmal um und fragt : "So schön wie ich, nicht wahr ?"