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Geschundenes Humanum

Lasst mich erzählen, wie mein Fahrradmechaniker Harry Widmer junior ein ziemlich guter Mensch wurde - und spätestens ab dem sechzehnten Alterjahr, ein Wüstling."

Eva Schobel |
    Mit schwungvollem Erzählgestus beginnt der aktuelle Roman des 42-jährigen Schweizer Autors Alex Capus Glaubst Du, daß es Liebe war? Darf man heute noch oder schon wieder so frisch und scheinbar naiv von der Leber weg erzählen, ist es literarisch statthaft die potentielle Käuferschicht mit einem Titel zu locken, als wäre es kein mit höheren literarischen Weihen abgesegnetes Buch, sondern eine Schnulze von Udo Jürgens? Die Leser- und v.a. Leserinnenschaft reagiert offenbar dankbar auf das verführerische Angebot, fast 30.000 Bücher sind mittlerweile über den Ladentisch, davon können viele vom Feuilleton hofierte Autoren nur träumen. Die Kritik bleibt - wie nicht anders zu erwarten - bei fast allen Texten von Alex Capus gespalten. Für die einen ist er ein altbackener Plauderer auf dem besten Weg zum gediegenen Entertainer in den Fußstapfen Vico Torrianis, einer, der allerdings zeitgemäßer wirkt und den unverdienten Erfolg nicht zuletzt seinem marktgerechten Aussehen als blondgelockter Strahlemann verdankt. Er sieht aus, wie Thomas Gottschalk gerne aussehen würde, urteilte eine von Capus Werk hingerissene Interviewerin, die ihr Diktum allerdings vor allem in den Verrissen wiederfinden wird. Für die andern ist er ein Meister der subtilen Erzählkunst, einer der sich durch raffinierte Handlungsführung und luzide Beobachtungsgabe auszeichnet.

    Zweifellos ist Capus ein Autor, den Sprachreflexion und -experiment, kurz das, was ein Rezensent, die Don’ts und Musts der Moderne nennt, nur mäßig interessieren. Ein bekennender Erzähler, der in seinen Geschichten das geschundene Humanum aufzubewahren versucht. Konsequenterweise beruft er sich auf das Handwerksbewußtsein amerikanischer und angelsächsischer Autoren, an denen man im deutschen Sprachraum traditioneller Weise jenen Unterhaltungswillen goutiere, den man bei hiesigen Schriftstellern nicht gut heiße. Besonders wichtig ist ihm aber der Hinweis auf sein großes Vorbild Anton Tschechow.

    Ich wünsch mir, daß meine Leser genauso Vertrauen zu mir haben, wie ich zu Tschechow, der ist mein großer Bruder, an den ich mich immer vertrauensvoll wende.

    Eine Wahlverwandtschaft, die vielleicht nicht unmittelbar einleuchten mag, auf den zweiten Blick aber durchaus plausibel erscheint. Mit Tschechow teilt der Autor sein Faible für das Alltagsleben der sogenannten kleinen Leute, das Sensorium für deren banale Tragödien, den Respekt für den aussichtlosen Kampf der Looser um Würde in einer würdelosen Umwelt, den Sinn fürs widersinnige Detail, und nicht zuletzt die Fähigkeit, seine Protagonisten mit einigen Federstrichen zu charakterisieren.

    René zum Beispiel, ein unvergeßliche Figur aus Capus’ vorletztem Roman "Mein Studium ferner Welten". Ein Kellner in einem provinziellen Bahnhofslokal, der seine spärlichen Gäste gern warten läßt. Denn René hat Wichtigeres zu tun als abgeschmackten Cafe und abgestandenes Bier zu servieren. Tag für Tag protokolliert er in karierte Schulhefte alle Schrecknisse der Menschheit, durchpflügt die Zeitungen auf der Suche nach Unfällen, Verbrechen und Naturkatastrophen, liest, was andere überlesen und fügt es in sein Archiv des menschlichen Leidens - denn wer würde sich darum kümmern, wenn René es nicht tut? Man glaubt diesen René zu kennen, wenn es ihn nicht gibt, dann mußte er erfunden werden.

    Auch Kurt Sandweg, Waldemar Velte und Dorli Schupp, die Protagonisten aus Capus dokumentarischem Krimi "Fast ein bißchen Frühling", nehmen leibhaftige Gestalt an. Zwei arbeitslose Ingenieure, sympathische Mordbuben aus Wuppertal, die sich ihre Flucht aus Nazideutschland durch einen Banküberfall verdienen wollten, bei dem sie versehentlich den Filialleiter erschossen haben. Sie kommen bis Basel und verlieben sich dort in eine Schallplattenverkäuferin, mit der sie die gezählten Tage ihres Lebens verbringen.

    Na ich versuche schon, den Menschen zu mögen und auch die Objekte meiner Betrachtung zu mögen, der große Dokumentarfilmer Freddy Murer ….. oft vorgeworfen wir den, daß ich zu wenig Distanz `markiert hätte zu diesen jugendlichen Gewaltverbrechern ...... daß es nicht gut sei, Menschen zu töten.

    Harry Widmer junior, der Anti-Held aus Capus’ letztem Roman "Glaubst du, daß es Liebe war?” unterscheidet sich allerdings von typischen Figuren in anderen Texten des Autors. Er ist weder ein verliebter Mörder wie die Protagonisten des Bankräuberromans "Fast ein bißchen Frühling", einer, der das Gute will, aber das Böse schafft, noch ein unschuldiger Verlierer am Rande der Gesellschaft, wie so manches Objekt seines "Studiums ferner Welten". Harry Widmer ist schlicht und einfach ein durchschnittlicher Filou, den der Autor dazu verdonnert hat, fast gegen seine verantwortungslose Natur eine Entwicklung durchzumachen.

    Als wir ihn kennenlernen, treibt er seinen Vater aus dessen Fahrradhandlung, seine Mutter in den Selbstmord und ruiniert den schicken Laden "Harrys Crazy Bike-corner", den er aus Vaters solidem Geschäft gemacht hat. Aber dann tritt Nancy, eine thailändische Bardame in sein Leben. Genauer gesagt tritt sie nicht, sondern schwebt mit angeborener Grazie an dem plumpen Mann und seinen Fahrrädern vorbei. Eine angedeutete Begegnung mit Depotwirkung.

    Ein Vorschein auf das, was kommen wird. Wie keine andere bisher, versteht es die souveränes Desinteresse vorspiegelnde Schönheit aus Thailand, ihren Lover zu fesseln. Ein Klischee vielleicht. Aber Capus gelingt es, das Dasein dieser Dame nicht romantisch zu verklären, sondern mit profundem Lebensstoff zu unterlegen. Eine Ausländerin, die hart darum kämpfen muß, nicht als sexuelles Freiwild betrachtet zu werden. Eine Frau, die schwer arbeitet, um im Wohlstandsparadies Schweiz ihre Existenz zu sichern. Harry scheint unhinterfragt glücklich mit seiner Exotin, übersteht sogar drei gemeinsame Urlaubswochen mit Lust und Anstand. Wenn ihr gegen Ende dieser Reise nur nicht unausgesetzt schlecht würde!

    Harry ist schwer verschuldet, die andern Schweinehunde in seiner Kleinstadt outen sich als unerbitttliche Gläubiger und fordern in einer akkordierten Aktion ihr Geld zurück. In dieser Situation kann ein Provinzcasanova, selbst wenn er sich versehentlich verliebt hat, nicht auch noch Vater werden. Er unterschiebt Nancy bei einem Schwangerschaftstest seinen eigenen, unverdächtigen Urin, verkauft, was in seinem Laden nicht niet- und nagelfest ist und sucht das Weite.

    Wie alles, was Capus schreibt, ist diese Geschichte also fast wahr. Gespeist aus den Erfahrungen in seiner Heimatstadt Olten, in der jeder jeden kennt. Wie alle Literatur bezieht aber auch diese ihre Legitimität letztlich nicht aus Fakten, sondern aus Fiktion. Harry findet sich in einem kleinen Nest in Mexiko am pazifischen Ozean wieder. Ein Unort, an dem sich die Frauen, anders als Nancy, zur Touristensaison für die Gringos prostituieren, um während der Winterflaute wieder mit einem Zugereisten wie "Haroldo El Suizo" Vorlieb zu nehmen. Haroldo gelingt es, sich in dem Nest zu etablieren. Er befreundet sich mit dem Reichsten des Dorfs, dem Besitzer einer Billardhalle, macht eine Surfschule auf, interessiert sich für die Geschichten der Einheimischen, bleibt durch ein Abonnement der Schweizer Lokalzeitung aber an sein altes Leben gebunden. Dann widerfährt ihm das, was man eine schleichende Katharsis nennen könnte.

    Ein befreundeter Tourist, der in dem Ort hängengeblieben ist, da ihn seine ergrimmte Ehefrau auf der Heimfahrt kurzerhand samt Wohnwagen abgekoppelt hat, verunglückt tödlich. Ein kleiner, philosophisch begabter Junge sagt Haroldo seine Meinung, die große Außenseiterin des Dorfs, eine Thailänderin, rückt ihm den Kopf zurecht und lehrt ihn Thailändisch. Man merkt schon, er kann seine Nancy nicht vergessen. So findet sich Harry nach vielen Jahren des Exils eines Tages in seiner alten Heimat wieder, zahlt seine Schulden und geht alle Wege, die er gehen muß. Zum Grab seiner Eltern, zur Bar, in der Nancy gearbeitet hat und schließlich an jene Ecke, wo einst "Harrys Crazy bike-corner" war.

    Ein Buch voller überraschender Wendungen, mit einem verblüffenden Ende, das zum Wohle potentieller Leser nicht verraten werden soll. Eine Geschichte in feiner Balance zwischen Tragischem und Komischem, Fernweh und Heimweh, die sich bei zweiter Lektüre als vielschichtiger erweist als bei der ersten. Ein Autor, der empfohlen werden kann, wenn man die Grundvoraussetzung menschenfreundlichen Erzählens akzeptiert.

    Alex Capus
    Glaubst du, dass es Liebe war?
    Residenz Verlag, 189 S., EUR 19,90