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Geschwisterliebe und Geschwisterhass

Früher war Adèle eine Frau im Männerkörper, heute haben ihr Mediziner den passenden Frauenkörper gegeben. Ihr Bruder hat diesen Wandel nicht verstanden und sich von ihr abgewandt. Die französische Schriftstellerin Emmanuelle Pagano erzählt in "Der Tag war blau" eine Geschichte über Geschwisterliebe und Geschwisterhass, über sexuelle Identität und über Einsamkeit.

Von Elke Biesel | 15.08.2008
    Zehn Jahre schon ist Adèle die Schulbusfahrerin des Dorfes. Und niemand ist bisher ihrem Geheimnis auf die Spur gekommen. Niemand erinnert sich an sie, die doch genau dort, auf der Hochebene, aufgewachsen ist. Der Grund ist einfach: Damals war Adèle noch ein kleiner Junge, der ältere von zwei Brüdern, ein Mädchen in einem männlichen Körper. Heute ist sie eine Frau, der die Medizin den passenden Körper gegeben hat.

    Dass das Problem der sexuellen Identität nie aufdringlich in den Vordergrund rückt, mag daran liegen, dass es eher beiläufig ins Buch gerutscht ist. Die Autorin Emmanuelle Pagano ging einer ganz anderen Frage nach:

    "Warum ich dieses Buch geschrieben habe? Weil ich wissen wollte, was es bedeutet, einen Bruder zu haben. Ich habe nur eine Schwester, also habe ich mir diese Frage gestellt."

    Emmanuelle Paganos ältere Kinder, ein Junge und ein Mädchen, haben sie auf das Bruder-Thema gestoßen. Angefangen hat alles mit einem kleinen Gedicht: "Bis zur Haltestelle des Schulbusses setze ich meine Schritte in die Fußstapfen meines Bruders." Als Pagano diese Zeilen ihrer Tochter Lola las, begann in ihrem Kopf die Idee zum vorliegenden Roman zu reifen. Sie wollte die Beziehung zwischen Bruder und Schwester besser verstehen lernen. Rasch bot sich der Schauplatz 'Schulbus' - schon angedeutet in Lolas Zweizeiler - als ergiebiges Forschungsfeld.

    Erst ein Schulfreund, den sie lange nicht gesehen hatte, brachte das Thema "Transsexualität" ins Spiel. Dieser Schulfreund hatte wie Adèle seine Identität gewechselt und brauchte eine Zeugin für die rechtmäßige Änderung des Ausweises. Aus dem "Er" wurde eine "Sie". Sie erzählte Pagano auch von den Problemen, die sie seit ihrer Operation mit einem Bruder hatte, der ihre weibliche Identität nicht akzeptieren konnte.

    "Irgendwann ist mir klar geworden, dass ich die Geschichte meiner Freundin integrieren muss. Ihre Transsexualität nimmt Gestalt an durch die Schwierigkeiten, die sie mit ihrem Bruder hatte. Plötzlich war ich voll in meinem Thema."

    Durch Adèles Geschlechterwandel bekommt das Bruder-Thema Brisanz und wird doppelt gespiegelt. Denn der jüngere, Axel, sträubt sich vehement dagegen, den älteren gegen eine Schwester einzutauschen. In der Zeit ihrer langsamen Verwandlung ist er Adèle so nah wie kein anderer Mensch, doch gerade die geschwisterliche Liebe verstärkt in ihm Gefühle von Peinlichkeit, Ablehnung und Wut. Es beginnt ein Spiel von Abstoßung und Vertrautheit, das Pagano durch die Genauigkeit ihrer Beschreibung lebendig werden lässt.

    "Ich versuche dem Körper so nahe wie möglich zu kommen. Wenn er einfach funktioniert, nimmt man ihn kaum wahr, aber in Extremsituationen - das muss nicht der Schmerz sein, das kann auch Mutterschaft oder Sexualität sein - wird einem der Körper bewusst."

    In allen Romanen Paganos spielt der Körper als Begrenzung und Herausforderung eine Rolle. In "Der Tag war blau" hat er einen direkten Bezug zu der Landschaft. Die Berge, der Schnee, der Wind sind wie weitere Hauptpersonen des Romans. Sie spiegeln sich in den Figuren von Adèle und ihrem Bruder Axel. Der ist ein professioneller Bergsteiger, zuständig für die Wartung der Schnee- und Geröllnetze. Axel übernimmt die Rolle des Bezwingers, der die Natur in seine Gewalt zu bringen versucht. Adèle hingegen ist ganz dem Wetter ausgeliefert. "Sie ist die Landschaft, die Axel umgibt", sagt Pagano und nimmt damit Bezug auf einen Satz des Philosophen Gilles Deleuze: "Ein Mann begehrt nicht die Frau, sondern die Landschaft, die sie in sich trägt."

    "Der Bezug zum Ort ist auch eine Frage, die das Buch stellt. Was bedeutet es, an einem bestimmten Ort zu leben? Ich glaube, dass es die Art zu leben, ja sogar das Denken beeinflusst. Je nach Ort, geht man anders, hat nicht den gleichen Rhythmus."

    Emmanuelle Paganos Erzählrhythmus ist ruhig, sie nimmt sich Zeit für Beschreibungen, findet immer neue Worte für die Bilder aus Schnee, Nebel und Dunkelheit.

    Zu den überzeugenden Szenen des Buches gehören ihre Schilderungen der Kinder und Jugendlichen, die sich regelmäßig in Adèles Bus treffen. Nur wenige Sätze reichen Pagano, um sie zu charakterisieren und den schmerzhaften Wandel anzudeuten, in dem sich manche befinden. Die Häutungen der Pubertät sind auch ein Spiegel für die Wandlungen in Adèles Leben.

    Als sie sich schließlich in Tony verliebt, einen Jäger aus dem Dorf, strebt der Roman auf seinen Höhe- und Wendepunkt zu. Adèle und ihre Kinder suchen in einer einsamen Höhle Schutz vor der Kälte, in dieser Intimität abseits des Dorfes wird das Geheimnis gelüftet. Welche Konsequenzen daraus erwachsen, bleibt jedoch offen.

    Fragen nach gesellschaftlicher Akzeptanz oder möglicher Diskriminierung stellt die Autorin nicht. Pagano enthält sich jeder Wertung, sie beschreibt lediglich und spricht durch die Gedanken und Gesten ihrer Figuren. Wichtig sei es ihr gewesen, Adèle als eine Frau wie viele andere zu zeigen, sagt die Autorin. Eine Frau, die ihr Problem gelöst hat und ein normales Leben führen will.

    Ob es ihr das gelingen kann in ihrem Umfeld, darauf gibt Pagano keine abschließende Antwort. Aber hat sie zumindest eine Antwort gefunden auf die Eingangsfrage ihres Romans: Was es nämlich heißt, einen Bruder zu haben?

    "Nein, jedes Mal wenn ich mir eine Frage stelle, die mich zum Schreiben anstiftet, finde ich keine Antworten. Aber ich schaffe es immerhin, die Frage gut zu stellen. Ich glaube, die Frage ist jetzt klar."

    Das Thema "Transsexualität" in einen Roman einzubauen, ist kein leichtes Unterfangen. Es lauern die Fallen der Bekenntnisliteratur. Doch die französische Autorin Emmanuelle Pagano ist ihnen erfolgreich ausgewichen. Mit großer Selbstverständlichkeit und Einfühlungsvermögen erzählt sie Adèles Geschichte.

    Emmanuelle Pagano: Der Tag war blau
    Wagenbach, übersetzt von Nathalie Mälzer-Semlinger, 171 Seiten, 17,90 Euro