Dienstag, 19. März 2024

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Gesellschaft im Ausnahmezustand
Unsere Alltagsnormalität ist "sehr stark gestört"

In der Coronakrise sei es zu einer Denormalisierung des Alltags gekommen, sagte der Normalitätsforscher Jürgen Link im Dlf. Da Notstandsmaßnahmen teilweise diktatorisch seien, sollten sie aber möglichst schnell beendet werden - denn sie bestätigten protonormalistische oder autoritäre Menschentypen.

Jürgen Link im Gespräch mit Doris Schäfer-Noske | 02.05.2020
Ein Mann überquert mit einem Fahrrad eine leere Straße
Menschenleere Straßen: Unsere Welt ist nicht mehr, wie sie noch vor wenigen Wochen war (dpa / picture alliance / Peter Kneffel)
Doris Schäfer-Noske: Gibt es in der Corona-Krise überhaupt so etwas wie Normalität?
Jürgen Link: Also unsere erste Vorstellung von Normalität, das ist unser subjektives Gefühl, besonders im Alltag. Das könnte man mal eine "Pauschalnormalität" nennen und die ist sicherlich sehr stark gestört, wenn nicht zerschlagen. Besonders merkt man das vielleicht am Fußball. Also, man kann fast sagen: Kein Fußball, keine Normalität. Ich nenne das "Denormalisierung", das ist das Gegenteil von Normalisierung. Und deshalb auch die Frage: Gibt es heute überhaupt noch Normalität? Oder ist alles denormalisiert? Nein, es gibt durchaus noch Normalität, als Beispiel kann man die Digitalisierung nehmen. Normale Prozesse sind Wachstumsprozesse, die sich zyklisch reproduzieren. Und das tut die Digitalisierung im Moment, eigentlich sogar super-normal. Wir haben also, eigentlich müssten wir nicht von einer Normalität reden, sondern im Plural von Normalitäten.
Doris Schäfer-Noske: Sie haben schon von dem subjektiven Gefühl gesprochen. Und da ist es ja so, dass sich das, was wir als normal empfinden, zurzeit sehr schnell ändert. Denn an das Abstandhalten, an den Anblick von Masken beim Menschen auf den Straßen haben wir uns ja schon fast wieder ein bisschen gewöhnt. Ändern sich Normalitäten also in der Krise schneller als sonst?
Jürgen Link: So lange die Krise akut ist, haben wir Denormalisierung, Verlust von Normalität, das ist keine Änderung der Normalität, was sich ändert, ist die Realität. Aber eine neue Realität heißt noch längst keine neue Normalität.
Die Mitte zwischen zwei Extremen
Doris Schäfer-Noske: Was ist denn eigentlich Normalität? Ist es ein Durchschnittswert?
Jürgen Link: Ja, da würde ich jetzt vom subjektiven Gefühl etwas weggehen. Zum Gegenteil, nämlich zu fragen, hat das nicht eine objektive Basis und das ist in der Tat der Fall. Moderne Normalitäten setzen "verdatete" Gesellschaften voraus. Das sind Gesellschaften, die es zum Beispiel im Mittelalter gar nicht gab. Gesellschaften, die sich routinemäßig und flächendeckend statistisch selbst transparent machen, und zwar eben auf all diesen verschiedenen Sektoren. Wir haben jetzt eben den medizinischen Sektor und sehen da die Zahlen, die Kurven, die Statistiken. Wir werden ja davon von morgens bis abends damit gefüttert. Aber natürlich auch auf dem Wirtschaftssektor und auf allen möglichen politischen Ebenen bis hin zum Sex machen sich ebenfalls "verdatete" Gesellschaften statistisch transparent, und das erlaubt ihnen, die Massenverteilung zu kalkulieren, zu analysieren und dann eventuell zu ändern durch Umverteilung.
Das kennen wir also besonders von den sozialen Normalitäten. "Mittelklasse", das heißt: Mitte zwischen zwei Extremen. Frau Merkel steht immer unter einem Schild mit der Aufschrift: "Die Mitte", damit sagt sie: "Ich bin an der Spitze der Normalverteilung.". Also diese moderne Normalität ist immerhin schon 200 bis 300 Jahre alt. Die kann man aber so ein bisschen ordnen zwischen zwei extremen Polen, die ich nenne den Protonormalismus und den flexiblen Normalismus, wobei der Protonormalismus eben ein enges Normalitätsspektrum hat. Man kann das sehr gut an der Sexualität erklären: Homosexualität ist im Protonormalismus anormal und im flexiblen Normalismus normal. Dem entsprechen zwei verschiedene Subjekt-Typen: Der protonormalistische ist autoritär und sieht überall Anormalitäten, die er bekämpfen muss, und der flexible Subjekt-Typ, der ist von vornherein auf Pluralismus und auf gewisse Toleranzen eingestellt und hat ein sehr breites Normalitätsspektrum.
Coronavirus
Übersicht zum Thema Coronavirus (imago / Rob Engelaar / Hollandse Hoogte)
Notstandsmaßnahmen teilweise "diktatorisch"
Doris Schäfer-Noske: In der Corona-Krise gelten ja neue Normen, und wir müssen zurzeit ganz oft gehorchen, was aber zumindest bis jetzt relativ problemlos klappt. Was macht das denn mit den Menschen in einer Demokratie und mit der Demokratie selbst?
Jürgen Link: Ja, da müssen wir aufpassen, wenn eine starke Denormalisierung eingetreten ist, wie es jetzt zweifellos der Fall ist, dann setzt der Normalismus in seinem Management Notstandsmaßnahmen ein, die teilweise diktatorisch sind. Da wird dann auch immer geredet von: "Wir sitzen alle in einem Boot". "Wir sind jetzt alle gleich" und so weiter. Und das ist natürlich Wasser auf die Mühlen des protonormalistischen Typs. Dieser autoritäre Typ fühlt sich dann gleich richtig in seinem Geschäft. Dieser Typ spürt Anormalitäten überall auf und bekämpft diese auch, eventuell durch Denunziation oder ähnliche Dinge. Und da müssen wir aufpassen, dass so was nicht irgendwie auf Dauer gestellt wird. Ich habe immer gesagt, dieses große "Wir", da müssen wir sehr vorsichtig sein. Wir müssen unser kleines, pluralistisches "Wir" unbedingt aufrechterhalten, und wir müssen sehen, dass diese Notstandsmaßnahmen möglichst schnell beendet werden und nicht auf Dauer gestellt werden.
"Es muss eine neue Normalität her"
Doris Schäfer-Noske: Es zeichnen sich ja auch einige Konflikte da schon ab zwischen dem autoritären Typ und dem Typ, den Sie auch als flexiblen Typ bezeichnen.
Jürgen Link: Genau. Und wenn man jetzt mal so ein bisschen vorausschaut: Im Moment sind wir ganz auf den Kurven, Normalitäten, Denormalisierung des medizinischen Sektors. Aber das wechselt jetzt mehr und mehr zum wirtschaftlichen Sektor über. Da stehen wir vor ganz verschiedenen Möglichkeiten oder Tendenzen. Die erste Tendenz ist die sogenannte V-Formation. Also haben wir es wieder mit Kurven, mit normalistischen Kurven zu tun. Das würde bedeuten, es geht zwar steil runter, aber dann geht es genauso stark wieder hoch. Und dann sind wir wieder in der alten Normalität zurück. Das ist im Moment, was die Wirtschaftsverbände in ihrer großen Mehrheit fordern, insbesondere auch die Autolobbys. Die wollen einfach zur alten Normalität zurück und wollen die sogar noch verstärken, indem sie sagen, "wir können uns das jetzt nicht mehr länger leisten mit diesem ganzen Diesel-Gequatsche und so". Die haben natürlich das Argument für sich, das ansonsten L-Formation drohen würde. Das hieße die Kurve ginge scharf runter. Und dann bleibt es unten, etwa wie während der Depression der 1930er Jahre, das wäre natürlich fürchterlich. Nun sollen wir jetzt zwischen diese Alternativen gestellt werden. Inzwischen gibt es aber viele Menschen, die sagen, es gibt nicht nur diese beiden Alternativen, sondern es muss eine neue Normalität her, die nachhaltig ist. Und wir wollen gar nicht zu dieser alten Normalität zurück. Wie man das erreichen könnte, ist natürlich ein ganz, ganz weites Feld, da können wir jetzt nicht in die Einzelheiten gehen.
Doris Schäfer-Noske: Das heißt, wir kommen nicht zurück zur alten Normalität, sondern es ist eigentlich wünschenswert, dass jetzt umgedacht wird. Wobei wir natürlich auch unter Zeitdruck stehen.
Jürgen Link: Ja, genau, so ist das.
Jürgen Link (ehemaliger Professor für Literaturwissenschaft und Diskursforschung an den Universitäten Bochum und Dortmund, emeritiert 2005) hat sich immer wieder mit Theorien zur Normalität beschäftigt. Sein Buch unter dem Titel: "Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird" erschien bereits 1997.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.