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Gesellschaft in der Midlifecrisis

"Szenen aus dem Landleben" heißt das Stück "Onkel Wanja" von Anton Tschechow im Untertitel. Aber die Anspielung auf eine Idylle, die hier anklingt, stimmt nicht: Niemand rebelliert wirklich gegen sein Unglück, gegen die Verhältnisse - Tschechows "Onkel Wanja" ist eine große Resignation. Jürgen Gosch, der Seelenentblößer, hat das Stück in Berlin jetzt auf die Bühne des Deutschen Theaters gebracht.

Von Karin Fischer |
    Es ist schon erstaunlich: Bei vielen Tschechow-Stücken würde man sich nach den ersten paar Seiten am liebsten die Kugel geben - so sinnlos und gelangweilt, so hybride oder abgestumpft ist die Gesellschaft, in die man da lesend hinein geraten ist. Und dann passiert etwas eigentlich ganz Normales, Banales: Besuch kommt, ein Fest ist anberaumt, und diese vorbürgerlichen Nichtstuer lassen die Hölle auf Erden los - in einer Dramatik, dass einem Hören und Sehen vergeht. Das kann man immer noch mit leichter Hand inszenieren und so aufhübschen, dass es nicht weh tut. Der Onkel Wanja von Barbara Frey für München mit Sunni Melles, 2004 zum Berliner Theatertreffen eingeladen, war so einer. Jürgen Gosch geht den anderen Weg.

    Er verschärft die Situation, indem er seinen Figuren von vornherein keinen Ausweg lässt. Johannes Schütz hat wieder einen hohen, aber nicht sehr tiefen Kasten auf die Bühne gebaut, diesmal in dunkelsenfgelb, was aussieht wie noch nicht ganz getrocknete Töpfermasse. Schließlich lebt man auf einem Gut in der Pampa, die Wälder rundum sind fast alle abgeholzt. Dieser Kasten wird dazu noch erbarmungslos ausgeleuchtet, kein Entrinnen ist in Sicht, die Schauspieler drücken sich an die Schmalseite, wenn sie nicht dran sind. Das Spiel ist, bis auf den Samowar, jeglicher gesellschaftlicher Konvention entkleidet. Vielmehr erzählt Gosch eine wirkliche End-Zeit-Geschichte, in der die Tragik der Menschen und wie sie an sich selbst scheitern, ganz tief ausgelotet wird und gerade deshalb Raum bleibt für eine Absurdität, die an Beckett erinnert.

    Die Guts-Gesellschaft, die hier eine sehr arme in schlecht sitzenden alten Anzügen mit Kassengestellbrillen ist, wird gestört vom Besuch des Professors im Ruhestand und seiner zweiten Frau Elena. Sie ist die Billiardkugel, die den festgefügten Rahmen aus Arbeit, Mühe und Sorgen durcheinander bringt. Alle lieben sie, nur um am Ende genauso arm und um noch eine Illusion ärmer, zurück zu bleiben. Wie der Arzt Astrow, der nicht lieben kann und auch Elena nicht geliebt hätte mit seinen armseligen Patienten und einem Traum vom wieder aufgeforsteten russischen Wald. Jens Harzer, der als Gast aus München kommt, trägt einen absurd langen abstehenden Schnurrbart und hält den Astrow wunderbar in der Schwebe. Er ist ein bisschen Loser, ein bisschen Öko-Sponti, ein bisschen illusionsloser Arbeiter, ein bisschen zukunftsgläubiger Intellektueller, ein bisschen ehrlicher Spinner - und der Einzige, der beträchtlichen selbstironischen Abstand haben darf.

    Constanze Becker ist eine spröde Elena, die die Männer nicht mit selbstbewusster Koketterie, sondern durch ihre tiefstimmige, gelangweilte Schlaksigkeit reizt. Ein stolzes Tier, das, so glauben sie, geschossen werden will. Doch Elena ist schon waidwund angekommen, wie die erbärmliche nächtliche Szene zeigt: so grausam, egoistisch und widerlich war der alte Professor lange nicht zu sehen. Wie er vor Schmerzen schreit und Elena doch nur benutzt, spielt Christian Grashof so, dass man sich wünscht, nie selbst alt zu werden. Und der Satz, den Onkel Wanja sagt, gilt hier für alle: "Meine Gefühle gehen flöten wie ein Sonnenstrahl, der in ein schwarzes Loch fällt."

    Die bemitleidenswertesten Figuren aber sind Onkel Wanja und seine Nichte Sonja. Meike Droste ist zauberhaft als junges Gör, verantwortungsbewusste Frau und unglücklich Liebende. Ulrich Matthes dagegen wirkt zwar luschig, ist aber voller unterdrückter Wut. Er verkörpert hier, was Gosch grundsätzlich will: Figuren wie "nackt und bloß" zu zeigen, oft ja im ganz wörtlichen Sinne, hier aber schlimmer: gehäutet, nicht seziert. Wenn Wanja ständig nach Elena greift, ohne sie je zu erreichen; wenn er über seine tote Schwester weint und dabei mit Sonja ein verzweifelt unglückliches Paar abgibt; wenn Sonja ihn am Schluss tröstet mit der unfassbaren Rede davon, dass es im Leben die Arbeit, aber hier auf Erden weder Erfüllung noch Erlösung geben kann - dann sind das die wirklichsten Menschen und dann ist das das wahrhaftigste Spiel, das derzeit auf deutschen Bühnen zu sehen ist. Auch wenn es völlig unspektakulär aussieht wie das Leben in Echtzeit, dass da im Deutschen Theater in den letzten Minuten gezeigt wird. Tschechows vielfach wiederholter Satz: "Du musst Mitleid haben!" ist die Botschaft an uns heute, die unter die Haut geht.

    Weil Jürgen Gosch aber auch Spaß haben mag, wird aus dem Tschechow-Endspiel doch manchmal ein Vor-Spiel, mit Slapstick-Einlagen, die Lacher bringen, aber zu dick auftragen. Etwa wenn der Professor aus dem Stock, auf den er sich stützt, eine komisch-akrobatische Nummer macht. Aber das sind Kleinigkeiten, Erlösungsgeschenke wohl auch an die Zuschauer, die nicht ungetröstet nach Hause gehen sollen. Ohne die sie vielleicht schon viel früher geweint hätten.