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Gesellschaftlicher Scharfblick

In Arthur Schnitzlers "Der einsame Weg" geben sich die Egomanen ein Stelldichein. Der noch immer gültige Text zeigt in der Bühnenfassung von Jens-Daniel Herzog: Theater muss nicht immer wieder neu erfunden werden.

Von Rosemarie Bölts |
    Johnny Cash singt mit brüchiger Stimme aus dem Off "Hurt", und auf der Drehbühne des Münchner Residenztheaters reiht sich dazu im Takt ein Egomane an den anderen. Verloren drehen sich die Protagonisten im Kreis. "Der einsame Weg", hier ist er ganz schön abgekapselt, jeder geht ihn für sich, in kastenförmig weißen Raumelementen mit unendlich großen Öffnungen ins: Nichts. Viel Platz für den ganzen Seelenmüll, der da über zwei Stunden ausgekippt wird. Der wehmütige Sound mit der kaputten Stimme von Johnny Cash nimmt genau den Ton auf, der diese Inszenierung von Jens-Daniel Herzog im Münchner Residenztheater durchgehend auszeichnet. Die Erwachsenen vertuschen, verdrängen und reden ständig und allzu gern viel Drumherum. Verzweifelt darüber sind nur die Kinder Felix und Johanna. Durch das seelische Labyrinth der Elterngeneration fühlen sie sich völlig orientierungslos in "die weite Welt" ausgesetzt, von der Johanna schwärmt:

    "Gefahr zum Beispiel, das war ein Tiger mit weit aufgerissenem Rachen. Oder Liebe – das war ein Knabe mit blonden Locken, der vor einer Dame kniete. Oder, oder der Tod, genau! Der Tod, das war so'n schöner Jüngling mit schwarzen Flügeln, ein Schwert in der Hand. Und Ruhm, das war voll von Trompeten! Wir waren uns ganz sicher, aber heute, heute geht das nicht mehr! Das, das funktioniert nicht mehr, das bedeutet nicht mehr dasselbe wie früher: Liebe – Tod – Ruhm – und die weite Welt!"

    Verdrehte Welt, in der die Kinder die Leere der Erwachsenen ausfüllen und ihnen im Alter die Stütze sein sollen, die die Erwachsenen selber nicht zu geben bereit sind. Nichts stimmt mehr. Wenn die etwas flippige Tochter Johanna sich dem gegelten, zynischen Schnösel-Dichter von Sala an den Hals wirft. Oder wenn ihr Bruder Felix erfährt, dass er gar nicht der Sohn des verbürgerlichten "Kunstbeamten" Wegrat, sondern des verkrachten Künstlers Fichtner ist, dann führt die Verweigerung jeglicher Verantwortung unweigerlich in den Abgrund. Aber immer mit der Nonchalance des porösen Bürgertums, das der Dichter von Sala zum Beispiel gegenüber dem Pferdeschwanzträger-Macker Fichtner repräsentiert:

    "Wenn Sie eine Frau an Ihrer Seite hätten, wären Sie nicht allein? Kinder und Enkel lebten – und Sie wären es nicht? Wenn Sie sich Ihren Ruhm, Ihren Reichtum, Ihr Genie bewahrt hätten, Julian Fichtner, wären Sie's nicht? Den Weg hinab gehen wir alle allein."

    "Und Sie, Sala, Sie glauben, dass Sie keines Menschen bedürfen."

    "Ich war immer für eine gemessene Entfernung, dass die anderen das nicht merken, das ist ja nicht meine Schuld."

    "Hahaha, haben Sie allerdings Recht. Sie haben nie ein Wesen auf Erden geliebt!"

    "Möglich. Und Sie?"

    Wenn die Männer also zynisch, verklemmt, kleinmütig, größenwahnsinnig und einfach gefühllos ihren Mitmenschen gegenüber sind und die Frauen den vermeintlich besseren Part haben, indem sie wenigstens noch leiden können oder sich der Anstrengung des Lebens durchs Sterben entziehen, dann kann man leichthin der kolportierten Meinung folgen, das Stück basiere auf einem Selbstporträt des Frauenverbrauchers und Sigmund-Freud-Verstehers Arthur Schnitzler. 100 Jahre alt und sprachlich brillant, Bildungstheater, das an einem vorüberzieht wie auf den projizierten Videoeinspielungen das Herbstlaub. Oder aber man ist tief getroffen von der Aktualität dieses gesellschaftlichen Scharfblicks. Die Egomanie wird hier nämlich so perfekt inszeniert und beiläufig gespielt, als passierte es hier und heute, mitten unter uns. Und das nicht nur, weil Felix eine Bundeswehruniform trägt und der überkorrekte Herr Doktor einen korrekten Lodenjanker.

    Ein noch immer gültiger Text über ein mehr denn je gültiges Ego-Schema der Gesellschaft. Theater muss nicht immer wieder neu erfunden werden. Diese Inszenierung beweist es: Das Schauspiel muss nur ernst genommen werden. Dann zeigt es, ganz im Schnitzler'schen Sinne, Wirkung.

    Informationen:
    Bayerisches Staatsschauspiel