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Gesellschaftsphänomen
Schmerz als Leidenschaft der Seele

Schmerz und Lust liegen oftmals dicht beieinander. Anders sieht das bei chronischen Schmerzen aus. Der Mediziner und Wissenschaftsjournalist Harro Albrecht hat ein 600 Seiten dickes Buch über das Leiden geschrieben. Er nennt es eine Befreiungsgeschichte.

Von Harro Albrecht | 13.03.2015
    Eine Frau hält den Kopf in den Händen.
    Im Mittelalter verband die Kirche Moral, Sünde und gottgefälliges Leben mit Schmerz und auf diese Weise mit der Psyche, dem Leben in der Gemeinschaft und dem Körper. (imago / Science Photo Library)
    Autsch. Wenn wir mit dem Fuß gegen die Duschwanne stoßen oder mit der Hand auf eine heiße Herdplatte fassen, tut es weh. Den akuten Schmerz kennt jeder. Und das ist gut so. Wir brauchen ihn. Nur wer Schmerzen spürt, kann Gefahren für Leib und Leben aus dem Wege gehen. Aber Schmerz ist mehr als eine Reaktion des Körpers auf eine Schädigung, lautet die Botschaft von Harro Albrecht in seinem Buch "Schmerz – eine Befreiungsgeschichte."
    "Die ganze Person mit ihrer ganzen Geschichte begegnet dem Schmerz nicht passiv, sondern sie verarbeitet ihn aktiv. Schon im akuten Schmerz gibt die persönliche Stressverarbeitung den Ton an."
    Neurobiologisches Ereignis
    Schmerz ist kein rein neurobiologisches Ereignis, das mit den Methoden der Naturwissenschaft vollständig erklärbar ist. Wer Schmerz verstehen will, muss seine psychologische und seine soziale Seite kennen, erläutert der Mediziner und Wissenschaftsjournalist Harro Albrecht.
    "Schon die antiken Griechen hatten den Schmerz als Leidenschaft der Seele bezeichnet und auf diese Weise gleich mehrere Aspekte des Symptoms angesprochen. Im Mittelalter verband die Kirche Moral, Sünde und gottgefälliges Leben mit Schmerz und auf diese Weise mit der Psyche, dem Leben in der Gemeinschaft und dem Körper."
    Wir hingegen haben den Schmerz weitgehend aus unserem Leben verdrängt. Heute ist dafür allein die naturwissenschaftlich orientierte Medizin zuständig. Sie hat gefälligst für ein schmerzfreies Leben zu sorgen. Ein paar Pillen, eine Spritze oder eine Operation - und alles wird gut. Aber, was bei akutem Schmerz oft hilft, führt bei chronischen Schmerzen nicht selten in eine Sackgasse. Nur wenn sich Fachleute verschiedener Disziplinen zusammentun, können sie einen Ausweg finden.
    "Die Therapie soll sich nicht nur auf den Körper des Patienten beschränken, sondern auf sein soziales Umfeld, wie er lebt, was er denkt und was der Schmerz für ihn bedeutet."
    Medizin kann es nicht alleine richten
    Es gibt bereits Schmerzkliniken, die das berücksichtigen – auch in Deutschland. Neurologen, Orthopäden, Psychologen und Physiotherapeuten arbeiten hier zusammen. Harro Albrecht sieht darin einen wegweisenden Ansatz. Aber die Medizin alleine kann es und soll es nicht richten.
    "Der Glaube an die Lösung aller Leiden durch die Medizin ist zum Problem geworden. Gute Antworten liegen jenseits des Gesundheitssystems. Nach der geistig-religiösen, der materialistischen und der neurobiologischen Phase wäre jetzt die Stunde der Gemeinschaft als Therapeutikum. Geselligkeit statt Aspirin."
    Leicht verständlich und unterhaltsam lenkt Harro Albrecht die Gedanken seiner Leser weg vom Schmerz hin zum sozialen Umfeld. Historische Rückblicke wechseln sich ab mit unterhaltsamen Reportagen und ergreifenden Patientengeschichten. Mehrfach wiederholt er seine Thesen – etwas weniger hätte auch gereicht.
    Chronischer Schmerz kann jeden treffen. Am besten, man liest die Befreiungsgeschichte bevor der Schmerz beginnt.
    Ohne Schmerzen geht es nicht. Und auch die beste Medizin garantiert kein schmerzfreies Leben.
    Schmerz und Lust liegen dicht bei einander. Das lässt sich auch jenseits sexueller Spiele genießen – durch den Verzehr würziger Speisen.
    Das Buch "Schmerz – eine Befreiungsgeschichte" von Harro Albrecht ist im Pattloch-Verlag erschienen. Es umfasst 606 Seiten für 24 Euro 99.