Archiv


Gesichter und Stimmen der Flüchtlinge

In "Shanghai Geschichten - Die jüdische Flucht nach China" gibt Steve Hochstadt anhand der Schilderungen von Zeitzeugen auf sehr persönliche Weise Einblick in eine einzigartige Exilerfahrung. Georg Armbrüster, wissenschaftlicher Mitarbeiter des Dokumentations- und Kulturzentrums Deutscher Sinti und Roma, der seit 1994 auch zum Thema "Jüdisches Leben in der chinesischen Emigration" forscht, hat das Buch gelesen.

    "Unsere jüdischen Freunde sind zu uns zurückgekehrt, nicht um hier inmitten einer verarmten, verängstigten, bedrückten Bevölkerung nun selbst ein sorgenfreies Leben zu führen, sondern um mit uns unsere Nöte, unseren Kummer, unsere Sorgen, unseren Hunger zu teilen. Dafür seien sie herzlich bedankt."

    Mit diesen Worten begrüßte der stellvertretende Oberbürgermeister Groß-Berlins, Ferdinand Friedensburg, am 21. August 1947 in einem Berliner Aufnahmelager nahezu 300 ehemalige NS-Flüchtlinge. Nach einem langjährigen, zumeist entbehrungsreichen Exil in Shanghai hatten sie sich zu einer Rückkehr in ihre Heimatstadt entschlossen. Insgesamt fanden in Shanghai kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs über 15.000 Juden aus Deutschland und Österreich ein unfreiwilliges Refugium. Angesichts der restriktiven Asylpraxis anderer Länder war es einzig die so genannte offene Stadt am Ostchinesischen Meer, die ihnen Schutz bot.

    "Dieses Buch ist meinen Großeltern und Eltern gewidmet. Sie waren alle nach Shanghai gefahren und brachten von dort Geschichten, Fotos und Objekte zurück, mit denen ich aufwuchs. Amalia und Josef Hochstädt hatten Wien 1939 verlassen, sie lebten zehn Jahre lang in Shanghai. Meine Großmutter war meine erste Erzählerin, mein Leben lang hörte ich ihre Familiengeschichten, auch als ich sie dann mit einem Tonband konfrontierte."

    Sein Eintauchen in die eigene Familiengeschichte gab Steve Hochstadt schließlich den Anstoß, sich auch wissenschaftlich mit dem Exil in Shanghai zu beschäftigen. Mit seiner aktuellen Neuerscheinung verleiht der amerikanische Historiker den einzigartigen Erfahrungen und Erlebnissen der Shanghai-Flüchtlinge auf behutsame Weise Gesichter und Stimmen. Aus mehr als 100 Interviews hat er 12 Zeitzeugen ausgewählt, die nach dem Krieg einen Neuanfang in Deutschland beziehungsweise Österreich versuchten. Sie berichten über ihre Verfolgung und Flucht während des Nationalsozialismus, über das Leben in China und die Zeit nach dem Krieg. Dank der vorsichtigen Bearbeitung der aufgezeichneten Gespräche ist die Lektüre voller Nähe und Authentizität. Rita Opitz etwa, die im Dezember 1938 im Alter von sechs Jahren zusammen mit ihren Eltern nach Shanghai flüchtete, berichtet:

    "Meiner Mutter ist es eigentlich zu verdanken, dass wir nach Shanghai so schnell ausgewandert sind. Meine Mutter hat die Auswanderungspapiere besorgt, da hat dann die Verwandtschaft zusammengelegt, damit wir die Schiffskarten und so bezahlen konnten. Aufgrund dieser Papiere wurde mein Vater entlassen aus Sachsenhausen. Da habe ich ihn nicht wiedererkannt. Sie hatten ihn kahl geschoren und er sah ziemlich mitgenommen aus. Was im einzelnen in Sachsenhausen mit ihm passiert ist, darüber hat er nie gesprochen."

    Insbesondere nach dem November-Pogrom 1938 entwickelte sich die chinesische Millionenstadt für kurze Zeit zu einem der wichtigsten Zufluchtorte deutscher Juden. Anders als in den klassischen Zufluchtsländern finden sich unter ihnen allerdings kaum große Namen aus Politik, Kunst oder Wissenschaft. Nach Shanghai retteten sich vor allem die kleinen Leute. Die meisten waren gezwungen, sich in Hongkew niederzulassen, einem Stadtviertel, das infolge des japanisch-chinesischen Krieges 1937 erheblich zerstört worden war. In leeren Gebäuden wurden eiligst - wie es damals hieß - Heime errichtet, in denen Tausende ein notdürftiges Zuhause fanden. Doch die elenden Wohnquartiere waren nur eine Belastung unter vielen. Hinzu kamen enorme wirtschaftliche, sprachliche und klimatische Schwierigkeiten. Dies spiegelt sich auch in den Erinnerungen von Ilse Krips wider, die als 20-Jährige nach Shanghai geflüchtet war:

    "Mein Mann hat alles versucht, um zu Geld zu kommen. Es gelang ihm nirgendwo. Es ging ja immer ums Essen. Man hat immer Hunger gehabt, man hat kaum was zu essen gehabt. Wir haben im Heim manchmal Gemeinschaftsessen bekommen, das war so katastrophal und schlecht, Datteln mit Hirse, die waren voller Maden."

    Trotz des beschwerlichen Alltags entwickelte sich ein umfangreiches soziales und kulturelles Leben. Bald erschienen mehrere deutschsprachige Zeitungen, wurden Konzerte und Theaterabende veranstaltet. Es entstanden eine deutsch-jüdische Einheitsgemeinde, eine jüdische Schule und zahlreiche Vereine. Diese Entwicklung hin zu einem Stück Normalität endete jedoch bereits am 18. Februar 1943. An diesem Tag verkündete die japanische Besatzungsbehörde die Errichtung einer "Designated Area" in Hongkew für die "staatenlosen Flüchtlinge". Für viele bedeutete dies eine tiefe Zäsur. Hier erzählt Helga Beutler, die im Mai 1939 mit 14 Jahren nach Shanghai gekommen war, von einem durchaus typischen Erlebnis:

    "Einmal wollte ich raus aus dem Ghetto. Da hab ich versucht einen Pass zu kriegen. Ich war auf dieser Passstelle zu Herrn Ghoya. Das war so ein ganz kleiner Knirps. Und hatte ich das vorgetragen, hat er mich angeguckt und mich angeblafft, hat sich auf einen Stuhl gestellt, hat mir eine gescheuert, und dann konnt' ich wieder gehen. Keinen Pass gekriegt."

    Infolge der japanischen Proklamation waren ungefähr 8000 Menschen gezwungen gewesen, ihre außerhalb der "Designated Area" gelegenen Wohnungen aufzugeben und sich in einem Viertel mit einer Fläche von nur 1,5 Quadratkilometern niederzulassen, in dem bereits über 100.000 Chinesen auf engstem Raum lebten. Die Situation der Flüchtlinge veränderte sich erst wieder mit dem Einzug der US-Truppen nach der japanischen Kapitulation. Für die große Mehrheit gab es indessen zunächst keine Möglichkeit, in ihr Wunschland - also etwa in die USA oder nach Palästina - weiter zu wandern. Trotz verzweifelter Hilferufe an die internationale Öffentlichkeit sollte es bis Ende der 40er Jahre dauern, dass sich die westlichen Regierungen um eine Lösung bemühten. Eine neue Perspektive eröffnete dabei insbesondere die Gründung Israels, wo sich mehrere tausend Shanghai-Flüchtlinge niederließen. Wie ein Nachruf auf die Jahre des Exils klingt heute der folgende Auszug aus einer Sonderveröffentlichung anlässlich der großen Repatriierungsaktion im Sommer 1947:

    "An die Kinder! ... Und trotzdem sollt Ihr Shanghai nicht vergessen, wo Ihr bestenfalls Reisfelder, Pagoden und Dschunken gesehen habt. Ihr sollt diese Stadt nicht vergessen, die Euch so Manches geboten hat, um das Euch die gleichaltrigen Kinder in Europa beneiden. Denn für sie waren diese Jahre - Jahre des Schreckens. Ihr sollt den Chinesen immer dankbar sein, dass sie uns zu einer Zeit aufgenommen haben, zu der die übrige Welt für uns schon gesperrt war."

    Ein vergleichbares Ereignis wie die Rückkehr der rund 300 NS-Flüchtlinge am 21. August 1947 nach Berlin hat es in der deutschen Nachkriegsgeschichte nicht wieder gegeben. Sie ist deshalb ein wichtiges, heute fast vergessenes Kapitel des Neubeginns jüdischen Lebens in Deutschland. Umso verwunderlicher ist es, dass sich die Exilforschung erst sehr spät für das Thema Shanghai interessiert hat und die Zahl deutschsprachiger Publikationen hierzu bis heute vergleichsweise gering ist. Mit "Shanghai Geschichten - Die jüdische Flucht nach China" setzt Steve Hochstadt nun ein neuerliches Zeichen. Die in dem Buch präsentierten Schilderungen geben auf sehr persönliche Weise Einblick in eine einzigartige Exilerfahrung. Dabei erlauben die nach zentralen Gesichtspunkten sortierten Berichte wie zum Beispiel die Flucht aus Deutschland, das Einleben in Shanghai oder das Dasein im Ghetto interessante Vergleiche. Erfreulicherweise zählen zu diesen inhaltlichen Leitmotiven auch die langfristigen Auswirkungen der Exiljahre auf das Leben der zwölf Zeitzeugen - ein Aspekt, der bis dato oftmals ausgeblendet blieb. Die aktuelle Neuerscheinung von Steve Hochstadt bietet mithin einen lebendigen Zugang zu wichtigen Fragestellungen, die mit dem Exil in Shanghai verknüpft sind und liefert ganz nebenbei neue wissenschaftliche Erkenntnisse.

    Steve Hochstadt: Shanghai-Geschichten. Die jüdische Flucht nach China
    Aus dem Amerikanischen von Gerda Neu-Sokol.
    Hentrich & Hentrich Verlag, Teetz, 2007
    260 Seiten, 24 Euro