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Gesichtserkennungs-App Clearview
Privatsphäre ade

Das Start-Up Clearview hat eine Gesichtserkennungs-App entwickelt. Grundlage dafür sind angeblich über drei Milliarden Fotos, die aus dem Internet heruntergeladen wurden. Nach Ansicht von Experten könnte solch ein Programm unkalkulierbare Folgen haben.

Von Sinje Stadtlich | 05.02.2020
Ein Gesicht wird mit symmetrischen Linie und Punkten vermessen, im Hintergrund ist Computercode zu sehen
Hunderte US-Polizeibehörden arbeiten bereits mit der Gesichtserkennungs-App Clearview zusammen. (imago images / Ikon Images)
Die Recherche begann mit einem Tipp, den "New York Times"-Reporterin Kashmir Hill im November vergangenen Jahres bekam. Es solle da eine Firma geben, die eine revolutionäre Gesichtserkennungs-App entwickelt habe. Hill versuchte die Firma zu erreichen, auf allen Wegen, wochenlang - vergeblich.
Dann begann sie, mit Polizeidienststellen zu sprechen - die ihr bestätigten, mit Clearview zu arbeiten. Die Polizisten konnten ein beliebiges Foto einer verdächtigen Person in die App laden und bekamen dann alle Bilder im Internet angezeigt, auf denen dieselbe Person zu sehen war. Es funktioniere großartig, berichteten sie. Hill wollte das selbst sehen.
"Ich bat verschiedene Polizisten, die App mit meinem Foto zu testen. Und dann wurde es immer irgendwie komisch. Sie sagten, es gäbe keine Treffer, und sprachen dann nicht mehr mit mir. Bis mir irgendwann ein Polizist erzählte: Nachdem er mein Foto hochgeladen habe, habe er Anrufe von Clearview bekommen, warum er das Foto einer Journalistin benutze, er solle nicht mit Medien sprechen. Da wurde mir klar, dass die Firma, die mir die ganze Zeit nicht antwortete, sehr wohl überwachte, mit wem ich sprach."
Clearview begeht Tabubruch
Schließlich bekam Kashmir Hill doch ein Interview mit Clearview-Gründer Hoan Ton-That. Er gab unumwunden zu, dass Clearview sich die Fotos einfach von diversen Internet-Seiten herunterlade. Über die sozialen und politischen Folgen seines neuesten Produktes habe er noch nicht nachgedacht.
"Als Reporterin, die seit über zehn Jahren über Privatsphäre berichtet, habe ich immer erwartet, dass wir irgendwann flächendeckende Gesichtserkennung haben werden. Aber für mich war es schockierend zu sehen, dass es diese winzige kleine Firma ist, die das entwickelt, von der niemand je gehört hat und die dann nicht mit der Presse spricht, aber eine Journalistin überwacht. Das hat mich alarmiert und ich denke, dass jetzt ein Tabu gebrochen ist. Andere Firmen werden folgen."
Bisher standen der Polizei für Gesichtserkennung nur offizielle Quellen zur Verfügung wie Fahndungsfotos oder Bilder aus Blitzer-Kameras. Mit Clearview vergrößert sich der Pool nun allerdings dramatisch: Partybilder auf Facebook, Sport-Videos auf Youtube, Nutzer-Profile auf LinkedIn.
Bilder aus den Sozialen Netzwerken herunterzuladen, widerspricht deren Nutzungsbedingungen. Weswegen Twitter mittlerweile Clearview ermahnt hat, das Herunterladen zu stoppen. Ob Clearview auch gegen US-Gesetze verstößt, ist selbst unter Experten umstritten.
Eric Goldman, Jura-Professor an der Santa Clara University: "Grundsätzlich haben die Internetfirmen viele juristische Möglichkeiten, das Herunterladen zu verhindern. Allerdings hilft das eigentlich nur, wenn es gerade passiert und nicht schon abgeschlossen ist. Außerdem gab es im letzten Jahr eine beunruhigende Gerichtsentscheidung in den USA, dass LinkedIn nicht die Möglichkeit hat, das Herunterziehen persönlicher Informationen von ihrer Seite zu verhindern. Diese Entscheidung könnte in Zukunft den Schutz von Privatsphäre in den sozialen Medien erschweren."
Vielfältige Möglichkeiten des Missbrauchs
Clearview wirbt massiv damit, wie gut die App helfe, Verbrechen aufzuklären. Täter und Opfer zu finden, die die Polizei sonst nicht hätte identifizieren können. Der Justizministier von New Jersey hat Clearview allerdings mittlerweile für die Polizei verboten.
Die Möglichkeiten des Missbrauchs sind vielfältig, erklärt IT-Sicherheits-Experte Bruce Schneier: "Wenn die chinesische Regierung eine solche Technologie in die Hände bekommt, hat sie ein Mittel für soziale Kontrolle. Der mögliche Missbrauch aller dieser Identifikations-Technologien besteht einfach darin, dass ganze Bevölkerungen damit komplett überwacht werden können."
In einigen Städten wie San Francisco ist Gesichtserkennung schon rechtswidrig. Nach der Clearview-Enthüllung häufen sich die Forderungen nach weiteren Verboten. Kashmir Hill von der New York Times war überwältigt von den politischen und medialen Reaktionen auf ihre Geschichte.
"Die Geschichte wurde weltweit aufgegriffen. Viele lokale Medien in den USA haben ihre Polizeistationen zu der App befragt. Es gab wirklich viele Reaktionen. Und Geschichten über Privatsphäre wecken nicht oft so ein Interesse. Die Menschen sind eigentlich sehr defätistisch, was das angeht. Aber diese Geschichte scheint einen Nerv getroffen zu haben. Sie hat zu einer echten Diskussion darüber geführt, welche Privatsphäre wir haben möchten."