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Gesprächsmarathon auf der Krim

Die Ostpolitik von Willy Brandt blieb während seiner gesamten Kanzlerschaft umstritten. Als Brandt im September 1971 auf Einladung des Generalsekretärs der KPdSU nach Oreanda am Schwarzen Meer flog, versuchte er im Gespräch mit Leonid Breschnew die Chancen für ein europäisches Sicherheitssystem auszuloten.

Von Wolfgang Stenke | 16.09.2006
    "In wenigen Minuten wird der Bundeskanzler mit einer Maschine der Luftwaffe in die Sowjetunion reisen. Ziel des Fluges dieser Boeing - es ist übrigens das erste Mal nach dem Zweiten Weltkrieg, dass eine Maschine der Luftwaffe in die Sowjetunion fliegt - ist Oreanda, ein kleiner Ort auf der Krim."

    Der Kanzler, dessen Maschine vom Köln-Bonner Flughafen zu einem Treffen mit Leonid Breschnew in dessen Sommerresidenz startete, war Willy Brandt. Im Spätsommer des Jahres 1971 wollte er im Gespräch mit dem Generalsekretär der KPdSU sondieren, ob und wie man die sozialliberale Ost- und Entspannungspolitik weiterentwickeln könne. Das Kernstück dieser Politik bildete der 1970 unterzeichnete Moskauer Vertrag zwischen der Bundesrepublik und der Sowjetunion, dem Abkommen mit Polen und der CSSR folgten.

    Willy Brandt an die Adresse der Opposition, die wiederholt kritisiert hatte, er habe sich weder mit ihr noch den westlichen Bündnispartnern abgestimmt:

    "Diese Zusammenarbeit richtet sich gegen niemanden. Das hat sich in den zurückliegenden Jahren erwiesen. Es hat sich auch erwiesen, dass sie schon gar nicht die Freundschaft zu unseren Verbündeten beeinträchtigt. Aber sie kann helfen, den Frieden in Europa sicherer zu machen und die Folgen der Spaltung unseres Kontinents zu erleichtern."

    In den ersten Jahren von Brandts Kanzlerschaft begann der Entspannungskurs gegenüber dem Ostblock Wirkung zu zeigen. Willy Brandt vor dem Abflug nach Oreanda:

    "Der erfolgreiche Abschluss des Viermächteabkommens über Berlin hat gezeigt, dass Entspannung doch nicht nur eine Wunschvorstellung ist, sondern dass dieser Begriff mit konkretem Inhalt erfüllt werden kann."

    Das wenige Tage vor Brandts Krim-Besuch paraphierte Abkommen war ein Kompromiss, der den Zugang nach West-Berlin sichern und Behinderungen des Transitverkehrs abstellen sollte. Moskau erkannte die Bindungen zwischen West-Berlin und der Bundesrepublik an, hielt aber ansonsten am Status quo fest. Über Einzelheiten sollten die Deutschen untereinander verhandeln. Ein schwieriges Unterfangen, auch wenn der Betonkopf Walter Ulbricht 1971 dem flexibleren Erich Honecker hatte weichen müssen.

    So war die Situation, als Brandt und Breschnew am 16. September 1971 im Seebad Oreanda zu einem Gedankenaustausch zusammenkamen. 16 Stunden lang beredeten sie die Lage. Breschnew war konziliant, wollte aber von den Beschwerden der bundesdeutschen Seite über die Haltung der DDR in der Berlin-Frage wenig hören. Aufgeschlossen reagierte er auf Vorstellungen über die Reduzierung von Truppen und Rüstungen - jedenfalls im Prinzip.

    Willy Brandt auf einer Pressekonferenz nach der Rückkehr von der Krim:

    "Wir stimmten in dem Ziel überein, in den Jahren, die vor uns liegen, mehr Sicherheit durch Abbau der Konfrontation zu erreichen. Aber das schwierige Thema - warum sollte ich das nicht hinzufügen? - konnte nur andiskutiert werden. Es gab zu verschiedenen Teilfragen ähnliche Vorstellungen, ja sogar übereinstimmende Elemente, aber beide werden, wie sich das aus der Natur der Sache ergibt, im Einzelnen mit ihren Verbündeten sprechen, und die beiden Regierungen werden durch ihre Außenminister hierzu in Verbindung bleiben."

    Brandts Vorstellungen zielten langfristig darauf, die deutsche Frage offen zu halten, auch wenn die Realität der Teilung unabweisbar blieb. In Anerkennung der Fakten plädierte er für die Aufnahme der DDR in die Vereinten Nationen - trotz Mauer und Schießbefehl. Im Bundestag schlugen ihm deshalb scharfe Kritik und Verdächtigungen entgegen. Rainer Barzel, Fraktionschef der oppositionellen CDU/CSU, im September 1971 nach Brandts Rückkehr von der Krim:

    "Niemand hier hat das Recht und keiner hat das politische Mandat, endgültig die Spaltung Deutschlands zu bestätigen. Jeder andere Maßstab ist inhuman und opportunistisch."

    Drei Monate später bekam Brandt für seine Entspannungspolitik den Friedensnobelpreis.