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Gestern und heute

Am Opernhaus Zürich hat die Ballett-Spielzeit angefangen. Ballettchef Heinz Spoerli hat sich da - zum ersten Mal in seiner Karriere - mit Musik von Leos Janácek auseinandergesetzt: "Lettres intimes" heißt Spoerlis neue Choreografie. Kombiniert war diese Uraufführung mit zwei populären Tanzstücken aus den 80er-Jahren.

Von Wiebke Hüster | 30.08.2009
    Es war der amerikanischen Postmoderne ein wichtiges Anliegen, den Tanz von den Theaterbühnen herunterzuholen, den Tänzern die Schläppchen und Spitzenschuhe auszuziehen, die Perücken und Tutus, und sie abzuschminken. Sie sollten endlich nicht mehr aussehen wie Prinzessinnen, griechische Götter, oder gefiederte Fabelwesen. Sie sollten aussehen wie das New Yorker Publikum, für das sie auf Straßen und Plätzen in Lofts und Museen tanzten – nur besser. "Terpsichore in Sneakers" hieß das Buch der 80er-Jahre, in dem beschrieben wurde, warum die Muse des Tanzes nun in Adidas oder Nike-Schuhen herumstapfte, statt ihre Füße weiterhin in zierlichen Bourrées aufzusetzen. Inwiefern es allein das Stehen, geschweige denn das Gehen, Springen, und Rennen veränderte, dicke Gummisohlen zwischen sich und dem Bühnenboden zu spüren, zeigt wohl kein Stück so hinreißend wie Twyla Tharps 1986 entstandenes "In the Upper Room".

    Die gleichnamige Auftragskomposition des großen Minimalisten Philip Glass ist in neun Sektionen unterteilt. Tharp schickt eingangs zwei Tänzerinnen zu einem Dauerlauf auf der Stelle hinaus – nach einem Witz der Choreografin ihre Drachenhunde aus Porzellan, wie sie die Eingänge chinesischer Tempel bewachen. Immer komplexer werden die klassischen und modernen Sequenzen miteinander verwoben, immer neue Formationen von Tänzerinnen auf Spitze und solchen in Sneakers führt die von dichten Nebeln verhüllte Bühnenmitte dem Publikum vor Augen.

    Das Zürcher Ballett hat so seine Schwierigkeiten damit, fabelhaft gelöst und gut gelaunt wirken eigentlich nur die drei Männer, deren Aufgabe es ist, die klassischen Ballerinen zu bändigen: Arman Grigoryan, Iker Murillo und Vitali Safronkine. Yen Han hingegen, Spoerlis hübsche Paradeballerina, wirkt mit ihren gezierten Händen und ihrem leicht verstörten Lächeln wie in den falschen Film geraten. Aber auch bei den Männern gibt es Probleme: Stanislav Jermakov – eben noch ganz gelassen und ironisch in Hans van Manens "Sarkasmen", ein halb nackter Provokateur, der weiß, wie gut er als Sexobjekt wegkommt – demselben fantastischen Jermakov ist der Witz von Tharps Etüden offensichtlich nicht ganz klar.

    Aber wie der estnische Tänzer van Manens knappe, erotisch aufgeladene Zerstörung von Ballerinenklischees interpretierte, war ein Lehrstück in illegitimen Beobachtungsinteressen – für die Frauen im Publikum.

    Zu diesen sehr unterschiedlichen, aber jedenfalls ironischen, und reflektierten Choreografien aus den 80er-Jahren will Heinz Spoerlis vorangestellte eigene Uraufführung zu Leos Janaceks Quartett "Lettres Intimes" nicht recht passen. Ein Liebespaar mit Schwierigkeiten wird von einer Gruppe von fünf Frauen und sechs Männern begleitet. Man begegnet einander vor Florian Ettis immer wieder grellrot aufleuchtendem expressionistischem Bühnenhimmel auf einer steilen Schräge. Hier fällt der Protagonist denn auch am Ende erschöpft zu Boden. Ist er tot oder nur liebeskrank? Man weiß es nicht. Man hat ein musikalisch feinfühlig choreografiertes Ballett gesehen. Aber so wie die Tänzer unter enormem Druck stehen, weil die schwierigen Übergänge und verklausulierten Bewegungen Spoerlis sich nur mit extremer innerer Anspannung tanzen lassen, so gerät auch dem Zuschauer in der Angestrengtheit des Unternehmens der Sinn des Ganzen irgendwie aus den Augen.

    Natürlich kann nicht jedes Stück wie van Manens "Sarkasmen" in die simple aber einleuchtende Pointe "Sex" münden. Es muss auch ernste Ballette geben. Aber wenn es nicht Sex ist, das haben wir bei Woody Allen gelernt, so wüsste man doch gerne, was dann das Problem ist.