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Gesundheit von Migrantenkindern stärken

Kinder aus eingewanderten Familien leiden in Deutschland oftmals an Krankheiten, die nur sie betreffen. Und das ist keineswegs kein Randproblem, denn dreißig Prozent der Kinder und Jugendlichen in Deutschland haben einen Migrationshintergrund.

Von Klaus Herbst |
    Emigranten besitzen ein ganz eigenes Leidens- und Krankheitsverhalten, ebenso einen völlig anderen kulturellen Hintergrund. Wenn beispielsweise ein türkisches Mädchen in die Disco geht oder sich piercen lässt, passiert es oft, dass sich die gesamte Familie ihm heftig entgegenstellt. Dies kann bei empfindlichen Kindern zu ernsthaften Erkrankungen führen, sagt Professor Michael Weiss.

    "Wir erleben häufiger, dass sich diese religiöse, kulturelle familiäre Spannung auch äußert, indem solche Konflikte vielleicht zunächst nicht an die Oberfläche kommen, sondern dann auch bis zur Entstehung von Bauchschmerzen oder somatischen Beschwerden mit chronischen Kopfschmerzen zunächst ein Hirntumor gesucht wird oder ein Magengeschwür vermutet wird und vielleicht ein Internist gesucht wird, bis dann in irgendeiner längeren, dann auch meist klinischen Exploration mit einem Psychologen, einem Pädagogen, mit Ko-Therapeuten, die hinzukommen zu den Medizinern, man an die Ursache stößt."

    Diesen Kindern und Jugendlichen medizinisch zu helfen, ist Aufgabe der Migrantenmedizin. Selbst wenn die Kinder in Deutschland gesund sind, kann schon ein harmloser Türkeiurlaub zu Riesenproblemen führen, weiß der Chefarzt der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin der Stadt Köln.

    "Auch in diesen Familien kommt der sechswöchige Heimaturlaub in der Türkei vor. Dort wird man dann vielleicht mit der modernen Kleidung und mit der modernen Musik in eine fundamentalistische Umwelt gelangen, und dann entstehen ausgesprochen, oder das ist ja eine Belastung vor allen Dingen nicht ausgesprochen, Zurückweisungen, Irritationen und Verwunderungen. Man kann sich dem mit chronischer Krankenbetreuung auch widmen, muss aber natürlich auch erst mal die körperlichen Ursachen klären, um dann in solche Bereiche auch weiter vorzustoßen."

    Am schlimmsten wirken sich, je nach Herkunft der Kinder, genetische Erkrankungen aus. Professor Hansjosef Böhles ist Direktor des Zentrums für Kinder- und Jugendmedizin der Universität Frankfurt:

    "Da ist jemand in der dritten Generation in Deutschland, verhält sich aber in Bezug auf die Heirat noch genauso wie vor drei Generationen. Das Hauptproblem sind deshalb weiterhin die genetischen Erkrankungen, durch diese Häufung von Verwandtenehen. Im türkischen Bereich sind das so gerne 20 bis 30 Prozent, über die gesamte Türkei genommen über den Bereich Arabische Halbinsel geht das sprungartig auf sechzig bis siebzig Prozent hoch. Die verschiedenen Stämme, die haben dann teilweise massive Häufungen einzelner Erkrankungen, weil sie natürlich genetisch verwandt miteinander geblieben sind. Es gehört dann immer dazu der Herkunftsbereich."

    Die Mukopolysaccharidose ist ein Beispiel für eine schwere genetische, sogenannte Speichererkrankung. Der kindliche Körper ist nicht in der Lage, giftige Substanzen abzubauen. Dies führt zu geistiger Schwäche und zu einer schweren Verhaltensänderung. Die Kinder sind dermaßen wild und ungezügelt, dass sie in einem deutschen Haushalt mit vielen Möbeln, Geschirr und Apparaten gar nicht gefahrlos leben können. Ihre Eltern sind unglaublich gefordert und gestresst, und es gibt nicht einmal Heilung. Insgesamt ist es für die Mediziner in Deutschland oft ungemein schwierig, Migrantenkinder angemessen zu behandeln. Schon eine ganz normale ärztliche Untersuchung gestaltet sich meist äußerst kompliziert.

    "Ein großes Problem für uns ist das extrem ausgeprägte Schamgefühl orientalischer Personen, das bereits bei Kindern dann wahrzunehmen ist. Zum Beispiel kann es extrem schwierig sein, ein dreijähriges muslimisches Mädchen zu untersuchen. Das gilt für den gesamten Körper. Mein Erlebnis der letzten Woche war ein 13-jähriger arabischer Junge. Der kam, um seine Entwicklung beurteilen zu lassen. Beginnende Pubertät beim Knaben sieht man an den sich vergrößernden Hoden. Die muss ich dann natürlich ansehen, ja? Und das war kaum möglich."

    Sehr oft kommt es zu Verständigungsschwierigkeiten. Wenn Eltern jeden Blickkontakt mit dem Arzt vermeiden, ist das keineswegs ein Signal für Langeweile oder Desinteresse. Im Gegenteil, in bestimmten Kulturen ist es ein Zeichen von Hochachtung. Viele Kinderärzte wissen das aber nicht. Hier besteht noch viel Erklärungsbedarf.

    "Ich empfinde mich selbst mit meiner Arbeit in diesem Bereich als ein Dolmetscher. Das bedeutet, wir sind die Vermittler. Wir können bei der einen und bei der anderen Seite für Verständnis werben, eventuell erklärend aufgrund unserer Erfahrung einen Beitrag leisten und Verhaltensweisen, die uns sonst nicht verständlich wären, weil wir sie erlebt haben, einem anderen erklären. Ich denke das ist der einfachste und praktikabelste Beitrag."