Die Säuglingsstation der Astrid-Lindgren-Kinderklinik in Stockholm: An diesem Morgen herrscht helle Aufregung bei den diensthabenden Ärzten und Hebammen, denn die meisten Kollegen sind im Urlaub und junge Leistungsempfänger wie Agnes nehmen darauf keine Rücksicht. Agnes kam im Sommer und 16 Wochen zu früh auf die Welt. Bei ihrer Geburt wog sie gerade einmal 570 Gramm. Die Oberärztin Ann Edner hat nun eine kleine Patientin mehr in ihrer Obhut, die künstlich beatmet und rund um die Uhr beobachtet werden muss.
Wir haben viele Kinder hier und zu wenig Betten. Gerade haben wir ein sehr kleines Kind aufgenommen; das war schon eingeplant. Aber nun müssen wir unsere etwas größeren Patienten in andere, womöglich weit entfernte Kliniken verlegen. Wir haben kein Personal und wir haben keinen Platz hier.
Die Ärztin verbringt täglich mehrere Stunden am Telefon, um irgendwo draußen im Land einen noch freien Pflegeplatz zu finden. In den meisten Fällen erfolgt die aufwendige und nicht ungefährliche Verlegung dann gegen den ausdrücklichen Wunsch der Eltern. Ann Edner macht die Politik für die unwürdigen Zustände verantwortlich: bei massiven Einsparungen im Gesundheitswesen sei überall im Land eine Intensiv-Pflegestation nach der anderen geschlossen worden. Deshalb liegen auch bei der Mutter der kleinen Agnes die Nerven blank. In den letzten Wochen hatte sie es mit immer wieder neuen Ärzten, Krankenschwestern und Pflegern zu tun.
Das Wichtigste sollte doch sein, dass unsere Tochter die bestmögliche Versorgung erhält. Davon kann aber keine Rede sein, wenn das Personal ständig wechselt. Das ist nicht gut - für uns nicht, für Agnes und auch nicht für die Ärzte. Ich sehe mich selbst als einen robusten Mensch, aber hätten sie mir gesagt: "Wir müssen sie wegschicken" - ich glaube nicht, dass ich das ertragen hätte.
Engpässe drohen den Schweden buchstäblich von der Wiege bis zur Bahre, denn ihr Gesundheitssystem steht seit rund zehn Jahren unter Sparzwang. Im Sommer, pünktlich zu Ferienbeginn, bricht der Betrieb in den Notaufnahmen der Krankenhäuser wegen Überfüllung und Personalmangels zusammen. Und nicht jeder Kranke hat Anspruch auf umgehende Behandlung. Wer etwa eine Hüftprothese braucht, Zahnersatz oder einen Herzschrittmacher landet erst einmal in der Warteschlange. Krebspatienten müssen mitunter monatelang auf eine Bestrahlung warten.
In den siebziger und achtziger Jahren sorgte der schwedische Staat für seine Bürger in nahezu allen Lebenslagen und mit einem äußerst vielfältigen Angebot an sozialen Leistungen. Doch die umfassende medizinische Versorgung und immer neue Wohlfahrtsprogramme waren auf Dauer nicht zu finanzieren. Die Staatsverschuldung kletterte ins Unermessliche. Als Anfang der neunziger Jahre noch eine tiefe Wirtschaftskrise hinzukam, wurden weitreichende Korrekturen der staatlichen Wohlfahrt unausweichlich.
Die Politiker verordneten insbesondere dem Gesundheitswesen eine drastische Diät. Jedes vierte Krankenhaus wurde geschlossen, reichlich Personal entlassen, ein Drittel der Betten eingespart. Und der Staat nimmt auch die Patienten mit beachtlichen Beiträgen in die Pflicht. Wer krank ist, dem wird ein Karenztag vom Gehalt abgezogen. Kürzungen gibt es auch beim Krankengeld. Für jeden Arztbesuch zahlen die Schweden überdies eine Selbstbeteiligung von 11 bis 15 Euro. Für den Termin beim Facharzt sind sogar bis zu 30 Euro fällig. Medikamente gibt es grundsätzlich nur mit Zuzahlung.
Die Schweden fügen sich diesen Zumutungen ohne Murren. Wie viele andere auch, sieht der Soziologe und Leiter des Stockholmer Instituts für Zukunftsforschung, Joakim Palme, die Krise heute als Glücksfall, weil sie den Anreiz gab, die längst überfälligen Reformen anzupacken.
Eine wichtige Erklärung ist, dass die Krise der Staatsfinanzen für alle offensichtlich war. Allen politischen Parteien war klar, dass es beachtlicher Anstrengungen bedurfte. Das System wurde von Grund auf umgebaut, und die Einschnitte trafen alle Gruppen in der Gesellschaft gleichermaßen. Steuern wurden erhöht und Leistungen gekürzt. Wegen der hohen Selbstkosten ziehen es viele Schweden heute vor, nicht so oft zum Arzt zu gehen. Aber auch wenn einige schlechter dastehen, so ist die Akzeptanz doch noch immer groß. Denn nun ist ja auch eine gewisse Kontrolle da, gegen die Ausnutzung des Systems.
Absolut gerechnet geben die Schweden pro Kopf nur 70 Prozent dessen aus, was deutsche Bürger für Medikamente und Arztbesuche aufwenden. Und anders als in Deutschland wird die Gesundheits- und Krankenpflege in Schweden zu großen Teilen aus Steuermitteln finanziert. Die Verteilung der Gelder obliegt den 20 Provinziallandtagen, die auch als Träger und Betreiber der Krankenhäuser und Gesundheitszentren auftreten. Um den Wettbewerb zu beleben und die Kosten weiter zu senken, setzen vor allem die lokalen Politiker in den von bürgerlichen Parteien regierten Städten und Gemeinden zunehmend auch auf private Leistungsanbieter.
14 000 Kronen - das sind rund 1 500 Euro - verdient eine schwedische Krankenschwester als Grundgehalt. Schlechte Bezahlung und harte Arbeitsbedingungen haben vor allem in den abgelegenen ländlichen Gebieten dramatische Folgen: Jährlich können Hunderte Stellen im Gesundheitswesen nicht besetzt werden. Weshalb sich das Land auch nicht scheut, deutsche Ärzte und Krankenschwestern kräftig zu umwerben und ihnen alle erdenklichen Hilfen für die Übersiedlung anzubieten.
Unter deutschen Ärzten haben sich die Vorteile eines Schwedenaufenthaltes herumgesprochen: Ein kostenloser dreimonatiger Sprachkurs, geregelte Arbeitszeiten und ein Land voller Naturschönheiten. 400 Ärzte sind allein in den letzten zwei Jahren dem Ruf gefolgt und in den Norden gezogen. Der Narkosearzt Andreas Möhlendick preist in perfektem Schwedisch die Vorzüge seiner neuen Stelle auf der Intensivstation eines Bezirkskrankenhauses im südschwedischen Skövde:
Meiner Meinung nach sind die Arbeitsbedingungen in Deutschland sehr schlecht und in absehbarer Zeit sehe ich in meinem Beruf kein Licht am Horizont. In Deutschland haben wir rund 80 Stunden in der Woche gearbeitet. Das ist nicht gut auf lange Sicht.
Die Kollegen waren hilfreich und sind dankbar für die Verstärkung. Auch die Patienten haben kein Problem damit, dass sie ein junger Deutscher in den Schlaf versetzt, sagt Möhlendick. Allein in Skövde arbeiten inzwischen 6 deutsche Ärzte. Ohne sie wäre der Betrieb in der Klink wohl längst zusammengebrochen.
Ungeachtet der sozialen Einschnitte wird das Modell des fürsorglichen Staates von den regierenden Sozialdemokraten vom Grundsatz her nicht in Frage gestellt. "Am Wohlfahrtsstaat halten wir fest", bekräftigt der Regierungschef Göran Persson bei jeder Gelegenheit. So gönnen sich die Schweden weiterhin den Luxus, Kindern und Jugendlichen bis zu einem Alter von 19 Jahren eine kostenlose Zahnbehandlung anzubieten. Rentner zahlen für Kronen, Brücken oder Implantate nur bis zu einer Maximalbelastung von 850 Euro, der Rest wird von der Kasse übernommen.
Auch deshalb zeigte der Sparkurs im schwedischen Gesundheitswesen nur kurzfristig Erfolg. Zwar sanken die Ausgaben zwischenzeitlich auf rund 8 Prozent des Volkseinkommens. Inzwischen aber steigen sie wieder kräftig an. Das hat zum einen demographische Gründe. Nach allgemeiner Auffassung hat Schweden die älteste Bevölkerung der Welt und immer mehr rüstige Rentner verursachen immer höhere Kosten im Gesundheitswesen.
Als fatal erweist sich zudem, dass die Zahl jener Schweden dramatisch zunimmt, die aus gesundheitlichen Gründen der Arbeit fern bleiben. An jedem Arbeitstag sind rund eine halbe Million Berufstätiger krank gemeldet. Mit einem Krankenstand von 10 Prozent nimmt das Königreich inzwischen eine bedenkliche Spitzenposition in Europa ein.
Die Folgen: In diesem Jahr werden allein die öffentlichen Aufwendungen für das Krankengeld voraussichtlich bei rund 5 Milliarden Euro liegen und das vorgesehene Budget um eine halbe Milliarde Euro übersteigen. Aufgrund der wachsenden Kosten hatte Schweden im Frühjahr erstmals seit mehreren Jahren wieder ein Defizit in den Staatsfinanzen verzeichnet.
An dieser Entwicklung sind die Ärzte nicht ganz unbeteiligt, die gestresste Arbeitnehmer immer öfter und für lange Zeit krankschreiben. Die 28-jährige Maria Nilsson aus dem nordschwedischen Överkalix etwa wird seit drei Jahren von einer Behörde an die andere weitergereicht. Zuletzt war sie als Reinigungskraft in einer Schule angestellt. Seit die Ärzte bei der jungen Frau eine seltene Nervenerkrankung diagnostizierten, schaukelt ihr Dasein zwischen Arbeitslosigkeit und Krankschreibung hin und her.
Man wird von einem zum anderen geschickt und fühlt sich ausgeliefert. Ich merke keinen großen Unterschied ob ich krankgeschrieben bin, arbeitslos oder in der Kur. Jetzt ist sogar von Frührente die Rede. Dabei bin ich erst 28 - Frührente ist doch nichts für mich!
Jürgen Linder, Dozent und Oberarzt an der Psychiatrischen Abteilung der Uniklinik Karolinska Institutet in Stockholm, hat die quälenden Folgen einer Langzeitkrankschreibung in einer viel beachteten Studie untersucht. Die erzwungene Untätigkeit zerstört soziale Bindungen, mindert die Kreativität und lässt viele Patienten in tiefe Depressionen fallen, sagt Linder.
Von den Patienten, die eigentlich spätestens nach einem Jahr wieder arbeiten könnten, haben gerade einmal 6 Prozent überhaupt eine Behandlung bekommen. Also, da gibt es sehr lange Wartezeiten. Dabei ist doch bekannt, dass es immer schwieriger wird, das Muster zu durchbrechen, je länger die Krankschreibung andauert.
Wer nicht behandelt, der schadet nicht nur den Patienten, sondern auch der Volkswirtschaft, meint Linder. Und zusätzliche Mittel für eine bessere Hilfe würden sich durchaus lohnen, denn in jeder Sekunde steigen die Gesundheitskosten um rund 30 Euro, rechnet er vor.
Gesundheitsexperten und Haushaltspolitikern bereitet die Kostenexplosion durch Langzeitkranke und Frühpensionäre gewaltiges Kopfzerbrechen. Alle Hoffnungen der regierenden Sozialdemokraten ruhen deshalb auf ihrem Minister für Beschäftigung, Hans Karlsson. Der Premier Göran Persson hat den früheren Gewerkschaftsunterhändler mit der schier unlösbaren Aufgabe betraut, den Krankenstand im Lande bis 2008 zu halbieren.
Mit einem 11-Punkte-Programm "für eine bessere Gesundheit im Arbeitsleben" will Karlsson die ärgsten Übel kurieren: Zum einen soll es für die privaten und öffentlichen Arbeitgeber wirtschaftliche Anreize geben, um vorbeugende Maßnahmen gegen Erkrankungen einzuleiten. Eine staatliche Behandlungsgarantie für Operationen und Rehabilitation soll zum anderen die langen Wartezeiten verkürzen. Weil viele schlecht bezahlte Angestellte im öffentlichen Dienst oft keine anderen Symptome zeigen, als tiefe Erschöpfung, wird zudem der staatlich subventionierte Übergang zur Teilzeitarbeit diskutiert. Hans Karlsson:
Wir haben einen Entwurf vorgelegt, der darauf zielt, das ganze Verfahren für Krankmeldungen zu verbessern, die Wartezeiten zu vermindern und bessere Kontrollen einzuführen. Und ich will betonen, dass die Arbeitgeber viel mehr tun müssen, damit die Menschen schnell zurückkehren können. Wir haben gute Arbeitsbedingungen in Schweden, aber das heißt nicht, dass jeder Arbeitsplatz auch zugeschnitten ist auf Leute, die gerade ein Problem mit der Gesundheit haben. Und da muss man auch darüber reden können.
Karlsson will vor allem die Arbeitgeber an den Kosten für die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall stärker als bisher beteiligen. Der schwedische Arbeitgeberverband protestiert und hat sich aus den Gesprächen mit der Regierung und den Sozialpartnern zurückgezogen. Den Arbeitgebern allein den Schwarzen Peter zuzuschieben, ist für den Leiter des staatlichen Konjunkturinstitutes, Ingemar Hansson, ohnehin zu kurz gedacht.
Die Halbierung des Krankenstandes ist ein sehr ehrgeiziges Ziel. Ich glaube nicht, dass es ausreichend wird, dass man die Arbeitgeber einen Teil der Kosten zahlen lässt. Das Problem ist doch, dass unser System im wesentlichen auf dem verschreibenden Arzt beruht, dem Arbeitnehmer und zu einem gewissen Teil auch dem Arbeitgeber. Nicht einer von denen muss bezahlen. Der Staat zahlt das. Und das kann ja nicht gut gehen.
Der Staat muss zahlen, aber zur Kasse gebeten werden vor allem Arbeitslose, Kranke und Familien mit Kindern. So hat die Regierung Persson nach dem Kassensturz im Frühjahr angekündigt, dass aus der versprochenen Anhebung des Kinder- sowie des Krankengeldes nichts wird. Vor den Wahlen im letzten September hat sich das noch ganz anders angehört. Bis zu einem Monatsgehalt von 3 600 Euro sollten 80 Prozent des Lohnes weiter gezahlt werden. "Das ist prinzipiell ein wichtiges Anliegen für uns", hatte Persson versichert. Und 2003 sollte das Versprechen eingelöst werden.
Nicht nur die Gewerkschaften sprechen jetzt vom Wahlbetrug. Auch die schwedischen Grünen und die Reformkommunisten der Linkspartei, die im Parlament mit der sozialdemokratischen Minderheitsregierung zusammen arbeiten, vermissen ein klares Konzept bei der Sanierung der Staatsfinanzen. Bessere Löhne seien die Voraussetzung für eine langfristig erfolgreiche Reform des Gesundheitswesens, meinen die Parteien. Doch bei einem landes-weiten Streik der Angestellten im Öffentlichen Dienst in diesem Sommer konnten sich die Gewerkschaften mit ihrer Forderung nach einer Gehaltssteigerung von 5 Prozent nicht durchsetzen. Die Regierung zeigte sich unbeeindruckt, obwohl eine deutliche Mehrheit der Schweden in Umfragen Verständnis für das Anliegen der Streikenden zeigte.
Mangelnde Effizienz des Gesundheitssystems führt nach Ansicht der Kritiker zu unnötigen Kosten, hier liegen enorme Sparpotentiale, hoffen sie. Das gilt besonders für die Leistungen von Ärzten und Krankenhäusern, meint auch die Abgeordnete des Stockholmer Stadtrates, Chris Heister. Seit den Wahlen vom letzten September ist ihre konservative Sammlungspartei, die bislang die Hauptstadt regiert und mit umfassenden Privatisierungen experimentiert hatte, in die Opposition verbannt.
Wer die sozialdemokratische Gesundheitspolitik tagtäglich am eigenen Leib erfährt, der weiß, dass sie es nicht schaffen werden, den Menschen umgehend Hilfe anzubieten. Wer das will, der muss eben auch private Alternativen ermöglichen.
Ein Beispiel ist das St. Göran-Krankenhaus, im gepflegten Stadtteil Kungsholmen im Westen Stockholms gelegen und eine der wenigen privat geführten Kliniken im Land. Für jeden medizinischen Fall zahlt die Stadt nur eine pauschale Summe. Bleiben die Patienten zu lange im Krankenhaus, verdirbt das die Bilanz. "Für uns heißt es dann, den Eingriff - etwa eine Hüftgelenksoperation - und die anschließende Versorgung des Patienten mit weniger Geld zu bewerkstelligen, als uns zugeteilt wurde", sagt der Sprecher der Klinik, Tomas Philipp.
Zum Beispiel sollte der Patient so schnell wie möglich auf die Operation vorbereitete werden: Röntgenaufnahmen, Gewebeproben, Absprachen mit dem Narkosearzt - all das möglichst am selben Tag. Und wenn immer möglich, sollten die Leute gleich nach der Operation nach Hause gehen.
"Und es geht", versichert Philipp: Die Patienten sind zufrieden, obwohl die Klinik ihre Dienste um gute 10 Prozent preiswerter anbietet als die staatlichen Krankenhäuser. Mit dem Kurs der Rationalisierung glauben inzwischen auch viele Sozialdemokraten die Zauberformel gefunden zu haben, nach der weltweit alle suchen: Mit moderner Technik und besserer Organisation sollte es gelingen, die Patienten früher zu entlassen, ohne ihnen zu schaden, mehr zu leisten, ohne zusätzliches Personal einzustellen - kurzum eine bessere Medizin anzubieten, für weniger Geld.
Hat das schwedische Modell einer umfassenden steuerfinanzierten Versorgung also doch noch eine Überlebenschance? Noch einmal Joakim Palme vom Institut für Zukunftsforschung:
Das ist eine offene Frage. Ich würde nicht behaupten wollen, dass wir in Schweden eine Lösung für alle Probleme haben, aber wir haben die Herausforderungen einer alternden Gesellschaft frühzeitig erkannt und ich denke, das schwedische Modell ist zumindest ein spannendes Experiment, von dem sich andere etwas abschauen können. Dies zumal die öffentlich finanzierten Systeme im internationalen Vergleich preiswerter und auch effektiver sind als privatfinanzierte Lösungen, wie es sie zum Beispiel in Amerika gibt.
Wir haben viele Kinder hier und zu wenig Betten. Gerade haben wir ein sehr kleines Kind aufgenommen; das war schon eingeplant. Aber nun müssen wir unsere etwas größeren Patienten in andere, womöglich weit entfernte Kliniken verlegen. Wir haben kein Personal und wir haben keinen Platz hier.
Die Ärztin verbringt täglich mehrere Stunden am Telefon, um irgendwo draußen im Land einen noch freien Pflegeplatz zu finden. In den meisten Fällen erfolgt die aufwendige und nicht ungefährliche Verlegung dann gegen den ausdrücklichen Wunsch der Eltern. Ann Edner macht die Politik für die unwürdigen Zustände verantwortlich: bei massiven Einsparungen im Gesundheitswesen sei überall im Land eine Intensiv-Pflegestation nach der anderen geschlossen worden. Deshalb liegen auch bei der Mutter der kleinen Agnes die Nerven blank. In den letzten Wochen hatte sie es mit immer wieder neuen Ärzten, Krankenschwestern und Pflegern zu tun.
Das Wichtigste sollte doch sein, dass unsere Tochter die bestmögliche Versorgung erhält. Davon kann aber keine Rede sein, wenn das Personal ständig wechselt. Das ist nicht gut - für uns nicht, für Agnes und auch nicht für die Ärzte. Ich sehe mich selbst als einen robusten Mensch, aber hätten sie mir gesagt: "Wir müssen sie wegschicken" - ich glaube nicht, dass ich das ertragen hätte.
Engpässe drohen den Schweden buchstäblich von der Wiege bis zur Bahre, denn ihr Gesundheitssystem steht seit rund zehn Jahren unter Sparzwang. Im Sommer, pünktlich zu Ferienbeginn, bricht der Betrieb in den Notaufnahmen der Krankenhäuser wegen Überfüllung und Personalmangels zusammen. Und nicht jeder Kranke hat Anspruch auf umgehende Behandlung. Wer etwa eine Hüftprothese braucht, Zahnersatz oder einen Herzschrittmacher landet erst einmal in der Warteschlange. Krebspatienten müssen mitunter monatelang auf eine Bestrahlung warten.
In den siebziger und achtziger Jahren sorgte der schwedische Staat für seine Bürger in nahezu allen Lebenslagen und mit einem äußerst vielfältigen Angebot an sozialen Leistungen. Doch die umfassende medizinische Versorgung und immer neue Wohlfahrtsprogramme waren auf Dauer nicht zu finanzieren. Die Staatsverschuldung kletterte ins Unermessliche. Als Anfang der neunziger Jahre noch eine tiefe Wirtschaftskrise hinzukam, wurden weitreichende Korrekturen der staatlichen Wohlfahrt unausweichlich.
Die Politiker verordneten insbesondere dem Gesundheitswesen eine drastische Diät. Jedes vierte Krankenhaus wurde geschlossen, reichlich Personal entlassen, ein Drittel der Betten eingespart. Und der Staat nimmt auch die Patienten mit beachtlichen Beiträgen in die Pflicht. Wer krank ist, dem wird ein Karenztag vom Gehalt abgezogen. Kürzungen gibt es auch beim Krankengeld. Für jeden Arztbesuch zahlen die Schweden überdies eine Selbstbeteiligung von 11 bis 15 Euro. Für den Termin beim Facharzt sind sogar bis zu 30 Euro fällig. Medikamente gibt es grundsätzlich nur mit Zuzahlung.
Die Schweden fügen sich diesen Zumutungen ohne Murren. Wie viele andere auch, sieht der Soziologe und Leiter des Stockholmer Instituts für Zukunftsforschung, Joakim Palme, die Krise heute als Glücksfall, weil sie den Anreiz gab, die längst überfälligen Reformen anzupacken.
Eine wichtige Erklärung ist, dass die Krise der Staatsfinanzen für alle offensichtlich war. Allen politischen Parteien war klar, dass es beachtlicher Anstrengungen bedurfte. Das System wurde von Grund auf umgebaut, und die Einschnitte trafen alle Gruppen in der Gesellschaft gleichermaßen. Steuern wurden erhöht und Leistungen gekürzt. Wegen der hohen Selbstkosten ziehen es viele Schweden heute vor, nicht so oft zum Arzt zu gehen. Aber auch wenn einige schlechter dastehen, so ist die Akzeptanz doch noch immer groß. Denn nun ist ja auch eine gewisse Kontrolle da, gegen die Ausnutzung des Systems.
Absolut gerechnet geben die Schweden pro Kopf nur 70 Prozent dessen aus, was deutsche Bürger für Medikamente und Arztbesuche aufwenden. Und anders als in Deutschland wird die Gesundheits- und Krankenpflege in Schweden zu großen Teilen aus Steuermitteln finanziert. Die Verteilung der Gelder obliegt den 20 Provinziallandtagen, die auch als Träger und Betreiber der Krankenhäuser und Gesundheitszentren auftreten. Um den Wettbewerb zu beleben und die Kosten weiter zu senken, setzen vor allem die lokalen Politiker in den von bürgerlichen Parteien regierten Städten und Gemeinden zunehmend auch auf private Leistungsanbieter.
14 000 Kronen - das sind rund 1 500 Euro - verdient eine schwedische Krankenschwester als Grundgehalt. Schlechte Bezahlung und harte Arbeitsbedingungen haben vor allem in den abgelegenen ländlichen Gebieten dramatische Folgen: Jährlich können Hunderte Stellen im Gesundheitswesen nicht besetzt werden. Weshalb sich das Land auch nicht scheut, deutsche Ärzte und Krankenschwestern kräftig zu umwerben und ihnen alle erdenklichen Hilfen für die Übersiedlung anzubieten.
Unter deutschen Ärzten haben sich die Vorteile eines Schwedenaufenthaltes herumgesprochen: Ein kostenloser dreimonatiger Sprachkurs, geregelte Arbeitszeiten und ein Land voller Naturschönheiten. 400 Ärzte sind allein in den letzten zwei Jahren dem Ruf gefolgt und in den Norden gezogen. Der Narkosearzt Andreas Möhlendick preist in perfektem Schwedisch die Vorzüge seiner neuen Stelle auf der Intensivstation eines Bezirkskrankenhauses im südschwedischen Skövde:
Meiner Meinung nach sind die Arbeitsbedingungen in Deutschland sehr schlecht und in absehbarer Zeit sehe ich in meinem Beruf kein Licht am Horizont. In Deutschland haben wir rund 80 Stunden in der Woche gearbeitet. Das ist nicht gut auf lange Sicht.
Die Kollegen waren hilfreich und sind dankbar für die Verstärkung. Auch die Patienten haben kein Problem damit, dass sie ein junger Deutscher in den Schlaf versetzt, sagt Möhlendick. Allein in Skövde arbeiten inzwischen 6 deutsche Ärzte. Ohne sie wäre der Betrieb in der Klink wohl längst zusammengebrochen.
Ungeachtet der sozialen Einschnitte wird das Modell des fürsorglichen Staates von den regierenden Sozialdemokraten vom Grundsatz her nicht in Frage gestellt. "Am Wohlfahrtsstaat halten wir fest", bekräftigt der Regierungschef Göran Persson bei jeder Gelegenheit. So gönnen sich die Schweden weiterhin den Luxus, Kindern und Jugendlichen bis zu einem Alter von 19 Jahren eine kostenlose Zahnbehandlung anzubieten. Rentner zahlen für Kronen, Brücken oder Implantate nur bis zu einer Maximalbelastung von 850 Euro, der Rest wird von der Kasse übernommen.
Auch deshalb zeigte der Sparkurs im schwedischen Gesundheitswesen nur kurzfristig Erfolg. Zwar sanken die Ausgaben zwischenzeitlich auf rund 8 Prozent des Volkseinkommens. Inzwischen aber steigen sie wieder kräftig an. Das hat zum einen demographische Gründe. Nach allgemeiner Auffassung hat Schweden die älteste Bevölkerung der Welt und immer mehr rüstige Rentner verursachen immer höhere Kosten im Gesundheitswesen.
Als fatal erweist sich zudem, dass die Zahl jener Schweden dramatisch zunimmt, die aus gesundheitlichen Gründen der Arbeit fern bleiben. An jedem Arbeitstag sind rund eine halbe Million Berufstätiger krank gemeldet. Mit einem Krankenstand von 10 Prozent nimmt das Königreich inzwischen eine bedenkliche Spitzenposition in Europa ein.
Die Folgen: In diesem Jahr werden allein die öffentlichen Aufwendungen für das Krankengeld voraussichtlich bei rund 5 Milliarden Euro liegen und das vorgesehene Budget um eine halbe Milliarde Euro übersteigen. Aufgrund der wachsenden Kosten hatte Schweden im Frühjahr erstmals seit mehreren Jahren wieder ein Defizit in den Staatsfinanzen verzeichnet.
An dieser Entwicklung sind die Ärzte nicht ganz unbeteiligt, die gestresste Arbeitnehmer immer öfter und für lange Zeit krankschreiben. Die 28-jährige Maria Nilsson aus dem nordschwedischen Överkalix etwa wird seit drei Jahren von einer Behörde an die andere weitergereicht. Zuletzt war sie als Reinigungskraft in einer Schule angestellt. Seit die Ärzte bei der jungen Frau eine seltene Nervenerkrankung diagnostizierten, schaukelt ihr Dasein zwischen Arbeitslosigkeit und Krankschreibung hin und her.
Man wird von einem zum anderen geschickt und fühlt sich ausgeliefert. Ich merke keinen großen Unterschied ob ich krankgeschrieben bin, arbeitslos oder in der Kur. Jetzt ist sogar von Frührente die Rede. Dabei bin ich erst 28 - Frührente ist doch nichts für mich!
Jürgen Linder, Dozent und Oberarzt an der Psychiatrischen Abteilung der Uniklinik Karolinska Institutet in Stockholm, hat die quälenden Folgen einer Langzeitkrankschreibung in einer viel beachteten Studie untersucht. Die erzwungene Untätigkeit zerstört soziale Bindungen, mindert die Kreativität und lässt viele Patienten in tiefe Depressionen fallen, sagt Linder.
Von den Patienten, die eigentlich spätestens nach einem Jahr wieder arbeiten könnten, haben gerade einmal 6 Prozent überhaupt eine Behandlung bekommen. Also, da gibt es sehr lange Wartezeiten. Dabei ist doch bekannt, dass es immer schwieriger wird, das Muster zu durchbrechen, je länger die Krankschreibung andauert.
Wer nicht behandelt, der schadet nicht nur den Patienten, sondern auch der Volkswirtschaft, meint Linder. Und zusätzliche Mittel für eine bessere Hilfe würden sich durchaus lohnen, denn in jeder Sekunde steigen die Gesundheitskosten um rund 30 Euro, rechnet er vor.
Gesundheitsexperten und Haushaltspolitikern bereitet die Kostenexplosion durch Langzeitkranke und Frühpensionäre gewaltiges Kopfzerbrechen. Alle Hoffnungen der regierenden Sozialdemokraten ruhen deshalb auf ihrem Minister für Beschäftigung, Hans Karlsson. Der Premier Göran Persson hat den früheren Gewerkschaftsunterhändler mit der schier unlösbaren Aufgabe betraut, den Krankenstand im Lande bis 2008 zu halbieren.
Mit einem 11-Punkte-Programm "für eine bessere Gesundheit im Arbeitsleben" will Karlsson die ärgsten Übel kurieren: Zum einen soll es für die privaten und öffentlichen Arbeitgeber wirtschaftliche Anreize geben, um vorbeugende Maßnahmen gegen Erkrankungen einzuleiten. Eine staatliche Behandlungsgarantie für Operationen und Rehabilitation soll zum anderen die langen Wartezeiten verkürzen. Weil viele schlecht bezahlte Angestellte im öffentlichen Dienst oft keine anderen Symptome zeigen, als tiefe Erschöpfung, wird zudem der staatlich subventionierte Übergang zur Teilzeitarbeit diskutiert. Hans Karlsson:
Wir haben einen Entwurf vorgelegt, der darauf zielt, das ganze Verfahren für Krankmeldungen zu verbessern, die Wartezeiten zu vermindern und bessere Kontrollen einzuführen. Und ich will betonen, dass die Arbeitgeber viel mehr tun müssen, damit die Menschen schnell zurückkehren können. Wir haben gute Arbeitsbedingungen in Schweden, aber das heißt nicht, dass jeder Arbeitsplatz auch zugeschnitten ist auf Leute, die gerade ein Problem mit der Gesundheit haben. Und da muss man auch darüber reden können.
Karlsson will vor allem die Arbeitgeber an den Kosten für die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall stärker als bisher beteiligen. Der schwedische Arbeitgeberverband protestiert und hat sich aus den Gesprächen mit der Regierung und den Sozialpartnern zurückgezogen. Den Arbeitgebern allein den Schwarzen Peter zuzuschieben, ist für den Leiter des staatlichen Konjunkturinstitutes, Ingemar Hansson, ohnehin zu kurz gedacht.
Die Halbierung des Krankenstandes ist ein sehr ehrgeiziges Ziel. Ich glaube nicht, dass es ausreichend wird, dass man die Arbeitgeber einen Teil der Kosten zahlen lässt. Das Problem ist doch, dass unser System im wesentlichen auf dem verschreibenden Arzt beruht, dem Arbeitnehmer und zu einem gewissen Teil auch dem Arbeitgeber. Nicht einer von denen muss bezahlen. Der Staat zahlt das. Und das kann ja nicht gut gehen.
Der Staat muss zahlen, aber zur Kasse gebeten werden vor allem Arbeitslose, Kranke und Familien mit Kindern. So hat die Regierung Persson nach dem Kassensturz im Frühjahr angekündigt, dass aus der versprochenen Anhebung des Kinder- sowie des Krankengeldes nichts wird. Vor den Wahlen im letzten September hat sich das noch ganz anders angehört. Bis zu einem Monatsgehalt von 3 600 Euro sollten 80 Prozent des Lohnes weiter gezahlt werden. "Das ist prinzipiell ein wichtiges Anliegen für uns", hatte Persson versichert. Und 2003 sollte das Versprechen eingelöst werden.
Nicht nur die Gewerkschaften sprechen jetzt vom Wahlbetrug. Auch die schwedischen Grünen und die Reformkommunisten der Linkspartei, die im Parlament mit der sozialdemokratischen Minderheitsregierung zusammen arbeiten, vermissen ein klares Konzept bei der Sanierung der Staatsfinanzen. Bessere Löhne seien die Voraussetzung für eine langfristig erfolgreiche Reform des Gesundheitswesens, meinen die Parteien. Doch bei einem landes-weiten Streik der Angestellten im Öffentlichen Dienst in diesem Sommer konnten sich die Gewerkschaften mit ihrer Forderung nach einer Gehaltssteigerung von 5 Prozent nicht durchsetzen. Die Regierung zeigte sich unbeeindruckt, obwohl eine deutliche Mehrheit der Schweden in Umfragen Verständnis für das Anliegen der Streikenden zeigte.
Mangelnde Effizienz des Gesundheitssystems führt nach Ansicht der Kritiker zu unnötigen Kosten, hier liegen enorme Sparpotentiale, hoffen sie. Das gilt besonders für die Leistungen von Ärzten und Krankenhäusern, meint auch die Abgeordnete des Stockholmer Stadtrates, Chris Heister. Seit den Wahlen vom letzten September ist ihre konservative Sammlungspartei, die bislang die Hauptstadt regiert und mit umfassenden Privatisierungen experimentiert hatte, in die Opposition verbannt.
Wer die sozialdemokratische Gesundheitspolitik tagtäglich am eigenen Leib erfährt, der weiß, dass sie es nicht schaffen werden, den Menschen umgehend Hilfe anzubieten. Wer das will, der muss eben auch private Alternativen ermöglichen.
Ein Beispiel ist das St. Göran-Krankenhaus, im gepflegten Stadtteil Kungsholmen im Westen Stockholms gelegen und eine der wenigen privat geführten Kliniken im Land. Für jeden medizinischen Fall zahlt die Stadt nur eine pauschale Summe. Bleiben die Patienten zu lange im Krankenhaus, verdirbt das die Bilanz. "Für uns heißt es dann, den Eingriff - etwa eine Hüftgelenksoperation - und die anschließende Versorgung des Patienten mit weniger Geld zu bewerkstelligen, als uns zugeteilt wurde", sagt der Sprecher der Klinik, Tomas Philipp.
Zum Beispiel sollte der Patient so schnell wie möglich auf die Operation vorbereitete werden: Röntgenaufnahmen, Gewebeproben, Absprachen mit dem Narkosearzt - all das möglichst am selben Tag. Und wenn immer möglich, sollten die Leute gleich nach der Operation nach Hause gehen.
"Und es geht", versichert Philipp: Die Patienten sind zufrieden, obwohl die Klinik ihre Dienste um gute 10 Prozent preiswerter anbietet als die staatlichen Krankenhäuser. Mit dem Kurs der Rationalisierung glauben inzwischen auch viele Sozialdemokraten die Zauberformel gefunden zu haben, nach der weltweit alle suchen: Mit moderner Technik und besserer Organisation sollte es gelingen, die Patienten früher zu entlassen, ohne ihnen zu schaden, mehr zu leisten, ohne zusätzliches Personal einzustellen - kurzum eine bessere Medizin anzubieten, für weniger Geld.
Hat das schwedische Modell einer umfassenden steuerfinanzierten Versorgung also doch noch eine Überlebenschance? Noch einmal Joakim Palme vom Institut für Zukunftsforschung:
Das ist eine offene Frage. Ich würde nicht behaupten wollen, dass wir in Schweden eine Lösung für alle Probleme haben, aber wir haben die Herausforderungen einer alternden Gesellschaft frühzeitig erkannt und ich denke, das schwedische Modell ist zumindest ein spannendes Experiment, von dem sich andere etwas abschauen können. Dies zumal die öffentlich finanzierten Systeme im internationalen Vergleich preiswerter und auch effektiver sind als privatfinanzierte Lösungen, wie es sie zum Beispiel in Amerika gibt.