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Gesungener Roman

Der Komponist Detlev Glanert hat am Staatstheater Nürnberg eine neue "fantastische Oper" auf den Weg gebracht. Mit dem "Holzschiff" geht die Reise ins Nichts und einer Katastrophe entgegen - mit furioser Musik.

Von Frieder Reininghaus | 10.10.2010
    Es geht hinaus auf hohe See und eigentlich mit dem Segelschiff Lais. Doch zuerst geht zwischen Ellena und ihrem Partner Gustav die Post ab. Der Liebhaber und Blinde Passagier wird in Detlev Glanerts Komposition von einer Sopranistin bestritten - in Nürnberg von Anna Lapkovskaja. Ohnedies zielt die Transposition des Romans "Fluss ohne Ufer" auf Entgrenzungen – geografisch, handlungslogisch, menschlich-allzu-menschlich.

    Johann Kresnik zeigt die vom Libretto reichlich vorgesehenen und von der Partitur drastisch ausgeschmückten Aspekte der körperlichen Liebe mit der gebotenen Deutlichkeit – also handgreiflich und umwerfend. Zunehmend gewaltförmig, blutig und vor allem theaternackt.

    Glanerts sieben Interludien gaben dem Regie führenden Choreografen auch Gelegenheit, die Breakdancer zu positionieren beziehungsweise die Damen und Herren des Balletts in Aktion zu setzen: wie sie im Schneewindgestöber verwirbelt werden, sich als Schiffsschrauben drehen oder im Orkan außer Rand und Band geraten, ist ebenso sehenswert wie die Sturmmusik hörenswert. Die Zwischenspiele führen dem ersten Höreindruck nach nicht zur Zergliederung des aus Episoden gefügten Werks, sondern scheinen die Momente des Kompakten und den konzis gedrängten musikdramatischen Grundzug eher noch zu unterstreichen. Die Balance von ruhiger Gesangslineatur, die auf einem farbig bewegten Orchestersatz schwebt, und rhythmisch heftig akzentuierten, gewaltig strudelnden und crescendierenden Instrumentalpassagen mit intervenierendem Gesang scheint Glanert beim "Holzschiff" gelungen.

    Der Hormonforscher und Schriftsteller Hans Henny Jahnn, Sohn eines norddeutschen Schiffbauers und selbst als Orgelbauer mit dem holz- und metallverarbeitenden Handwerk verbunden, befasste sich verschiedentlich mit Motiven der mehr oder minder christlichen Seefahrt - auch der vor 50 Jahren in Hamburg geborene Glanert bereits 1995 mit der Thornton-Wilder-Oper "Der Engel auf dem Schiff".

    Der konkreten Fundierung auf die Hafen- und Meereswelt verweigert sich auch die Inszenierung nicht: Kresnik zeigt, kaum dass sich eingangs die tiefen Streicher in kleinen Intervallschritten zu erheben begannen, wie der Frachteigner, der "Supercargo", die auf schwarzen Schleppen hereingeschleppten Kisten versiegelt, dann die Mannschaft und den Kapitän terrorisiert. Dessen Tochter läuft mit dem Wellengang zu hoher Lust auf.

    Doch Gustav will Ellenas naturtrüben Naturtrieb nicht bedienen. Das lüsterne Wesen kommt abhanden: wie oder warum klärt die enigmatische Szenenfolge nicht, auch wenn die Mannschaft das Schiff so heftig nach ihr durchsucht, bei dieser Gelegenheit nicht nur geheime Verschläge aufstemmt, sondern auch die Außenwand, sodass es zum Wassereinbruch und zum Gau für die "Lais" kommt.

    Heidi Elisabeth Meier, die Sängerin der Ellena-Partie, ohnedies von Anfang auch als Leichtmatrose Alfred präsent, bleibt der Handlung bis zum Schiffbruch und über diesen hinaus erhalten und profiliert sich singulär. Die Libido des Liebhabers überträgt sich dann auf den Doppelgänger (anders als in der literarischen Vorlage erscheint der Matrose Alfred jedoch nicht als der Mörder).

    Wie die Sopranistin Meier dreimal an Schlüsselstellen des Einakters "Gefahr", "Gefahr", Gefahr" singt (und wie dies die eingeblendete Großaufnahme des Kopfs der Sängerin unterstreicht), gehört zu den einprägsamsten Momenten der laufenden Theatersaison.

    Die Reise – diese offensichtlich unsinnige Seefahrt ins Nichts – gelangt schließlich zu einer Umwertung gewisser Werte: gleichsam positiv zum Coming out der Homosexualität nach dem auch beziehungsmetaphorisch zu begreifenden "Schiffbruch". Dass sich in Nürnberg über das homophone Lob der Gleichgeschlechtlichkeit hinaus eine "fantastische Oper" konstituiert, ist nicht zuletzt dem Kapellmeister Guido Rumstadt zu verdanken, der sich mit den Philharmonikern wie selbstverständlich durch die wechselnden Gezeiten des Tonsatzes arbeitet (man ahnt freilich, wie herausfordernd schwer die Partien sind). Ein besonderes Lob verdient auch die Mannschaft, die chorisch allen Wettern standhält.
    Infos:
    Staatstheater Nürnberg