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Getanzter Brahms

Schon als 17-jähriger Ballettschüler war Martin Schläpfer begeistert von Johannes Brahms' "Deutschem Requiem". 35 Jahre später hat der Ballettdirektor und Chefchoreograf das Stück in Tanz verwandelt.

Von Nicole Strecker |
    Die Theologie als Trost-Therapie, die Religion als große Hoffnungserzählung – so sah sie Johannes Brahms, als er sein Deutsches Requiem nicht für die Toten, sondern für die Lebenden schuf. Und so psychologisch forscht nun auch Choreograf Martin Schläpfer in Brahms sakrosankter Komposition mit einem Tanz zwischen Hoffen und Zagen:

    Schlaffe, schwere Oberkörper, aber rastlos trappelnde Füße. Die Männer heben die Frauen mit liebevoller Behutsamkeit – fast wie Mütter ihre Kinder. Doch die Körper der Frauen sind so verdreht und verrenkt als wären sie längst erstarrte Leichen eines Schlachtfeldes.
    Die Existenz als endloses einerseits-andererseits, das auch die Körper der Tänzer und die Bewegungen selbst spaltet – das ist ein Leitmotiv des Abends, das nirgends deutlicher wird als im zarten Solo von Bewegungswunder Marlucia do Amaral: Für ein paar Minuten lang trägt die Tänzerin einen einzelnen Spitzenschuh – nur einen, der andere Fuß bleibt nackt. Sie tupft den Schuh hingebungsvoll auf den Boden auf, doch dann zieht sie den bloßen Fuß schnell hinterher – halb tanzt, halb hinkt sie, zeigt Schönheit und Schmerz zugleich, den Spitzenschuh als Sehnsuchtssymbol für Virtuosität und die Verletzlichkeit des Körpers.

    Schon immer hat Martin Schläpfer in seinem Tanz gezeigt, dass Freiheit und Leichtigkeit erst Widerständen abgerungen werden müssen. In seinem Requiem nun prägt der Trotz die Form: Barfuß wird hier auf einer schwarz-gummierten Fläche von Bühnenbildner Florian Etti getanzt, und fast so zäh wie heißer Teer klebt der Boden an den bloßen Füßen der Tänzer. Er bremst sie in den Drehungen, im Lauf, erzeugt quietschende, patschende Geräusche, spiegelt aber auch ihre Körper wie ein nachtdunkler Fluss. Im Hintergrund der Bühne steht ein leerer Glaskubus, halb Vakuumraum für eine hohle Verheißung, halb Glassarg, der auf seinen Toten wartet. Doch zum Glück: Das Thema mag tief gründeln und die Musik in der Interpretation der Düsseldorfer Symphoniker unter Leitung von Axel Kober ihre empfindsame Innerlichkeit zelebrieren – der Tanz von Martin Schläpfer entlastet immer wieder von so viel Gemütsbewegung mit Ironie und kalkulierter Befremdung. Er sträubt sich gegen die Perfektion der Musik mit schroff-fragmentarischem Stilmix. Er übertreibt die Schmerzensposen des Ausdruckstanzes, rottet die Tänzer zu unübersichtlichen Körper-Clustern zusammen oder kettet sie in einer Polonaise wie zum Narrenzug aneinander, bei der dann aber einzelne Tänzer kollabieren und schlicht auf der Strecke bleiben.

    Wenn der über der Bühne thronende Chor wie ein himmlisches Schöffengericht den Herrn als Richter über Leben und Tod anpreist und einen Triumphgesang anstimmt, als wäre dieses Ausgeliefertsein an den göttlichen Willen das größte Glück des Menschen, platziert Martin Schläpfer sein 41-köpfiges Ensemble einfach nur mit dem Rücken zum Publikum auf den Boden und lässt sie mit schief gelegten Köpfen lauschen. Eine Gruppe Agnostiker, die weder zustimmen noch rebellieren. So bezieht Schläpfer formal wie inhaltlich selbstbewusst Haltung gegen die Trost-Botschaft der Komposition und findet nach Balletten zu Franz Schubert und Robert Schumann nun zu einem zeitgemäß-skeptischen Romantik-Begriff. Ein ästhetisch mutiger und sehr persönlicher Abschluss seiner Epochen-Trias. Denn während Brahms im Laufe des Komponierens nach eigener Aussage tatsächlich erlöst wurde und dieses Glück wie ein Prophet verkünden konnte, zeigt Martin Schläpfer eine andere Künstlerhaltung: den ewigen Schmerz des Zweiflers.