Samstag, 20. April 2024

Archiv


Geteilte Erinnerung

Die Wahrnehmung der 68er in der DDR: ein Aspekt, der bisher nicht sonderlich Beachtung gefunden hat. Einerseits war die SED-Spitze durchaus angetan von den Forderungen der westlichen Studentendemonstrationen in Paris und sonstwo. Andererseits konnte die DDR-Führung die Inhalte und Auswirkungen auf die ostdeutsche Jugend der 68er schwer kontrollieren. Der Historiker Stefan Wolle beschreibt die DDR-Seite der 68er stichhaltig und kenntnisreich, eine Rezension von Manuel Gogos.

17.03.2008
    Der Historiker Stefan Wolle beschreibt die späten 60er Jahre in der DDR als eine zutiefst widersprüchliche Zeit, als "Aufbruch in den Stillstand". Während der Dogmatismus in der Partei eher noch buchstabentreuer wurde, gab es in der DDR-Gesellschaft zaghafte Ansätze einer neuen Diskussionskultur.

    "Auch hier nicht unbedingt ein ganz hoher ideologischer politischer Anspruch, sondern man war einfach begeistert von der westlichen Beatmusik, die in der DDR seit 1965 verboten war. Das war nicht so sehr viel anders als irgendwo in Bayern oder Baden-Württemberg. Diese Sehnsucht nach Freiheit verband sich eben mit der allgemeinen politischen Situation in den osteuropäischen Staaten und griff sehr stark zurück auf den Habitus, die Erscheinungsform der westlichen Protest- und Jugendbewegung."

    Man traf sich, zum Beispiel in der Espresso-Bar am Ostberliner Alexanderplatz, die auch Westler aus der linken Szene anzog. Deren Outfit und Auftreten beobachtete die DDR-Jugend nicht ganz ohne Neid:

    "Allein die grünen Parka, die verwaschenen Bluejeans, die langen Haare und die kreisrunden Nickelbrillen, der gnadenlos intellektuelle Sprachgestus, die vielen unverständlichen Wörter, die Respektlosigkeit gegenüber den Autoritäten - all das reichte, um die Gäste aus dem fremden Sonnensystem mit einer Woge von Sympathie zu umhüllen."

    Manche ihrer Symbole aus der Mottenkiste des Marxismus-Leninismus oder auch die Slogans der Mao-Bibel wirkten dabei auf die Jugend des real existierenden Sozialismus reichlich befremdlich und naiv.

    "Sie erzählten mit leuchtenden Augen von ihrer Revolte gegen das Establishment. Einige hatten sogar im Pariser Quartier Latin auf der Barrikade gestanden. Sie waren wie kleine Kinder, die aufgeregt von ihren Spielen im Buddelkasten erzählten."

    Die SED-Führung reagierte zwiespältig auf die revolutionäre Naherwartung der Apo-Apostel: Einerseits bewies die Tatsache, dass die Jugend des Westens in Paris oder Rom mit roten Fahnen auf die Straßen zog, die ganze Faszinationskraft der sozialistischen Idee.

    "Zunächst rieb man sich erstaunt die Augen, sagte, was ist denn nun los? Man hat das einfach nicht erwartet, nicht für möglich gehalten, dass sich aus der sehr wohlhabenden westlichen Gesellschaft heraus diese Protestbewegung entwickelt. Und es entsprach ja auch nicht den marxistisch-leninistischen Lehrbuchweisheiten, dass junge Intellektuelle, junge Akademiker da an der Spitze des Protestes stehen, da hätte ja eigentlich die Arbeiterklasse hingehört unter Führung der Kommunistischen Partei. Das entsprach überhaupt nicht dem Dogma, aber dennoch hat die Ulbricht-Führung da relativ flexibel reagiert. In der Hoffnung, in der Bundesrepublik Verbündete zu finden, diese Apo-Bewegung erstmal sehr begrüßt und auch politisch, propagandistisch und materiell unterstützt."

    Andererseits schienen der SED die Apoisten "unsichere Kantonisten" zu sein. Trotz aller Sprücheweisheit konnte man vor ihrem antiautoritären Impact nie sicher sein. Die SED-Funktionäre fürchteten, ihre "unangepasste Lebensweise" könne eine tückische Unterwanderungsstrategie der sogenannten "offenen Gesellschaft" sein.

    "Es wurde klar, dass die Risiken für die SED-Führung größer sind als der politische Gewinn oder gar die Hoffnung, West-Berlin dauerhaft destabilisieren zu können durch die Apo. Das heißt, sie fürchteten den ideologischen Einfluss aus dem Westen und fürchteten auch vor allen Dingen die schlichte Nachahmung, dass die Studenten in Ost-Berlin oder in Leipzig oder in Dresden sagen, nun wollen wir auch mal demonstrieren und auch mal ein bisschen Krakeel und Radau machen. Das fürchtete man sehr."

    Unter dem Eindruck der Bilder aus dem Westen und den Nachrichten aus Prag träumten anno 68 auch in der DDR viele von einem Sozialismus mit menschlicherem Antlitz. Dann brachen die großen Ferien an. Es war sehr beliebt, den Frühling und dann auch den Sommer in Prag zu verbringen.

    "Die goldene Stadt Prag, das war zumal im Sommer 1968 das Mekka der DDR-Bürger, da fuhren sehr viele hin, aus vielen Gründen, um die Luft der Freiheit ein bisschen zu genießen. Und das strahlte natürlich aus auf die anderen sozialistischen Länder. Natürlich auch auf den Westen, aber eben auch sehr, sehr stark auf die DDR. Die Sympathie war ganz allgemein, beschränkte sich durchaus nicht nur auf Studenten und junge Intellektuelle, sondern auch auf die breite Bevölkerung, bei Arbeitern usw. gab es eine Menge Sympathien, und die allgemeine Stimmung war, das ist in Ordnung, was die da machen, und diesen Weg werden wir in der DDR früher oder später auch gehen."

    Ein kurzer Sommer mit langer Wirkung: Die Studenten der westdeutschen Universitäten waren in Griechenland oder Spanien, der Kurfürstendamm gehörte vorübergehend wieder den Spaziergängern. Die Weltrevolution machte Pause, als selbst Walter Ulbricht erklärte, es sei Zeit, endlich einmal Urlaub zu machen.

    "Und das wurde im allgemeinen, auch im diplomatischen Umfeld aufgefasst als eine Art Entspannung, sodass sich ein trügerischer Frieden über das Land legte, auch in der DDR. Umso größer war dann der Schock vom 21. August, als dann an diesem Morgen gemeldet wurde, dass die sowjetischen Panzer und die Panzer der anderen Warschauer-Pakt-Staaten in die Tschechoslowakei eingefallen waren."

    "Gestern am 20.8.1968 um 23 Uhr haben die Truppen des Warschauer Paktes die Staatsgrenze der Tschechoslowakischen Sozialistischen Republik überschritten.

    Der 21. August ist in der glücklosen tschechoslowakischen Geschichte ein ebenso schwarzer Tag wie der 15. März 1939, als nach der vorangegangenen Besetzung des Sudetenlandes auf Befehl Hitlers Wehrmachteinheiten Prag und die historischen Länder Böhmen und Mähren besetzten."


    Die Radiomeldungen zerrissen die sommerliche Idylle. Noch heute wissen viele, unter welchen Umständen sie die Nachricht von dieser größten Militäroperation in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg erreicht hat.

    "Man hätte es nicht für möglich gehalten. Es war ja auch ein Rückfall in den Kalten Krieg. Gerade junge Leute haben das sehr schmerzhaft empfunden, dass da was zerbricht, kaputtgemacht wird, was nie mehr zu reparieren sein wird. Junge Leute, die aus dieser impulsiven Empörung heraus, ohne viel Vorbereitung, Organisation, auch ohne viel Vorsichtsmaßnahmen und konspirative Erfahrung nachts losgezogen sind, an die Häuserwände Parolen gemalt haben, Vivat Dubcek, Russen raus aus Prag, was sehr streng bestraft wurde. Die Stasi, die Polizei und gesellschaftliche Kräfte waren da unterwegs, dieser Leute habhaft zu werden, es sind sehr viele verhaftet worden. Oder andere haben selbst geschriebene Flugblätter verteilt, in Hausbriefkästen gesteckt oder mit der Post verschickt."

    Manche gingen noch einen Schritt weiter, durchtrennten Nachrichtenkabel der Sowjetarmee und der NVA. Ausgerechnet viele Kinder von SED-Funktionären, Sprösslinge aus Familien bekannter Schauspieler, Künstler und Wissenschaftler waren an diesen Widerstandsaktionen beteiligt. Auch in der DDR schwelte ein Generationskonflikt. Die Staatsmacht reagierte nervös. Es hat ca. 1400 Ermittlungsverfahren gegeben, darauf folgten Gefängnisstrafen, Ausschlüsse, Abbrüche.

    "Heute stehen wir als Historiker vor einem riesigen Aktenmaterial, aus dem Bereich der Staatssicherheit vor allen Dingen, aber auch aus dem Bereich der SED, wo man das sehr genau aufschlüsseln kann und inzwischen auch ziemlich genaue Zahlen weiß, was damals alles vorgefallen ist."

    Als ehemaliger Mitarbeiter der Gauck-Behörde und heutiger Mitarbeiter des Forschungsverbundes "SED-Staat" der FU Berlin hat Stefan Wolle intime Kenntnis dieser Akten, aus denen er vielleicht manchmal zu ausführlich zitiert. Außerdem zieht er populäre Fernsehfilme, Romane, DDR-Schlager und Kinderbücher heran, um die damals grassierenden Befindlichkeiten zu vergegenwärtigen. Durch diese genreübergreifenden und multiperspektivischen Annäherungen gelingt es dem Autor, die komplexen Widersprüche des DDR-Regimes in seinem "Kampf um die Hirne und Herzen der Menschen" begreiflich zu machen. Ebenso, wie die Korrespondenzen und Verwerfungen zwischen der lautstarken Studentenrevolte des Westens und einem leisen, heimliche "Traum von der Revolte" im Osten nachzuzeichnen. Als Autor der Fernsehdokumentation "Damals in der DDR" und auch als Autor der Bundeszentrale für Politische Bildung beginnt Wolle, sich eine Art Deutungshoheit in der Zeitgeschichte der DDR zu erarbeiten. Dafür hat er auch ein biografisches Motiv. Und das geht in Ordnung. Denn auch das Jahr 1968 unterliegt in Deutschland einer "geteilten Erinnerung". Dabei gilt für Ost und West gleichermaßen: Es gibt immer mehr Geschichte, als man verarbeiten kann.


    Stefan Wolle: Der Traum von der Revolte
    Die DDR 1968.
    Ch. Links Verlag, Berlin, 2008
    250 Seiten, 19,90 Euro