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Getötet von den eigenen Kameraden

In der türkischen Armee gehören Misshandlungen zur Tagesordnung. Lange war das heikle Thema in der Öffentlichkeit ein Tabu. Eine Plattform für Soldatenrechte plant nun, mit den Angehörigen der Opfer dieses System zu durchbrechen. Sie fordern einen Ombudsmann für die Soldaten.

Von Gunnar Köhne | 08.05.2013
    Nur noch selten betritt Kenan Polat das Zimmer seines Sohnes Murat. Das Bett ist frisch gemacht, an den Wänden hängen Fotos von Murat, die meisten zeigen ihn in Soldatenuniform. Vor acht Jahren verließ er die elterliche Wohnung in Istanbul, um seinen Militärdienst zu leisten. Er kehrte nie zurück. In der Kaserne wurde Murat zu Tode misshandelt.

    "Der Schmerz über den Verlust unseres Sohnes wird nicht vergehen. Den Sohn zu verlieren ist etwas anderes als eine Schwester oder Bruder. Diese Trauer wirst du nicht wieder los."

    Murat war des Diebstahls beschuldigt worden. In der Arrestzelle wurde er auf Befehl eines Vorgesetzten stundenlang geschlagen. Die verantwortlichen Soldaten wurden in einem späteren Prozess zu Geldstrafen verurteilt. Die Mutter, Gülsen Polat, kann den Anblick der Leiche ihres Sohnes nicht vergessen:

    "Sie sind auf meinem Sohn herumgesprungen. Sein Körper war mit Stiefelabdrücken übersät. Es war grauenvoll. Wir schicken den Sohn zum Dienst am Vaterland. Und das Vaterland bringt ihn um! Er ist nicht im Krieg gefallen. Oder im Kampf gegen die PKK. Mitsoldaten haben ihn getötet!"

    Misshandlungen und Selbstmorde in der Armee waren jahrzehntelang ein Tabu in der Türkei. Doch seit die Generäle ihre Allmachtstellung verloren haben, trauen sich die Angehörigen und die Opfer an die Öffentlichkeit.

    Mehr Soldaten sind im Dienst umgekommen als in Kämpfen mit der PKK
    Unterstützung erhalten die Betroffenen bei einer neu gegründeten Organisation in Istanbul, der sogenannten Plattform für Soldatenrechte. Dort sind in nur acht Monaten mehr als 1000 Hilfeersuchen eingegangen. Die Armeeführung versuche Todesfälle nach seelischen und körperlichen Misshandlungen immer noch als Selbstmorde zu vertuschen, beklagen die Menschenrechtler. Dabei seien mehr Soldaten im Dienst umgekommen als in Kämpfen mit der PKK, sagt der Sprecher der Plattform, Yigit Aksakoglu:

    "Jedes Jahr werden 400.000 junge Männer für 15 Monate zusammengesperrt – und ihnen bleibt nur die Wahl, Opfer zu sein oder sich auf die eine oder andere Weise an den Misshandlungen und Erniedrigungen zu beteiligen. Dahinter steckt ein System, das durchbrochen werden muss. Wir brauchen eine Demokratisierung unserer Streitkräfte. Die internationalen Menschenrechtsabkommen für Soldaten, die auch die Türkei unterschrieben hat, müssen endlich in den Kasernen umgesetzt werden."

    Die Menschenrechtler fordern einen Ombudsmann für Soldaten, ähnlich dem Wehrbeauftragten der deutschen Bundeswehr. Bislang gibt es keinen solchen Ansprechpartner.

    Der Vater wird vor dem Europäischen Gerichtshof klagen
    Der 25-jährige Mert Cavus nahm dennoch seinen Mut zusammen und erstattete dem Menschenrechtsausschuss des türkischen Parlaments Bericht darüber, was er während seines Wehrdienstes in der anatolischen Provinz erleben musste. Und das, obwohl es in der Türkei immer noch ein Straftatbestand ist, dem Ansehen der Armee zu schaden:

    "Es war üblich, dass man körperlich bestraft wurde, wenn Arbeiten nicht oder nur unzureichend erledigt wurden. Und dann … wurde Kameraden auch der Schlaf entzogen, und wenn sie später im Dienst einschliefen, dann wurden sie dafür wieder bestraft. Das habe ich gesehen. … Es war auch üblich, dass Offiziersanwärter Rekruten erniedrigen durften. Sie durften sie ständig benutzen. Die mussten ihnen sogar das Frühstück machen. Die waren sozusagen ihre persönlichen Dienstjungen."

    Dabei werden allerdings Unterschiede gemacht: Die meisten Opfer von Misshandlungen und Selbstmorden in der türkischen Armee gehören Minderheiten an oder stammen aus armen Verhältnissen. Auch der getötete Murat Polat stammte aus einem Istanbuler Armenviertel.
    Sein Vater Kenan betreibt dort eine kleine Teestube. Auch acht Jahre nach dem Tod seines Sohnes kämpft er weiter um Gerechtigkeit. Er wird vor dem Europäischen Gerichtshof klagen, damit die Armeeführung ihre Mitverantwortung anerkennt. Und er will einen neuen Prozess gegen die Täter erreichen.

    "Ich werde nicht ruhen, bevor der Tod meines Sohnes gesühnt ist, die Verantwortlichen nicht länger frei herum laufen und auch er vom Staat als gefallener Märtyrer anerkannt wird."