Donnerstag, 18. April 2024

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Getötete Kinder in Solingen
Bild-Chef verteidigt Berichterstattung

In Solingen soll eine Mutter fünf ihrer Kinder getötet haben. Die Bild-Zeitung veröffentlichte daraufhin private Nachrichten des elfjährigen Bruders der getöteten Kinder und steht dafür in der Kritik. Im Interview sieht Bild-Chefredakteur Julian Reichelt darin kein Problem.

Julian Reichelt im Gespräch mit Mirjam Kid | 07.09.2020
Julian Reichelt in der ARD-Talkshow 'Maischberger' im WDR Studio BS 3. Köln, 07.11.2018
Bild-Chefredakteur Julian Reichelt verteidigt die Berichterstattung seiner Zeitung (picture alliance / Sven Simon)
"Rücksichtslos" und "eklig" sind die harmloseren Begriffe, mit denen die Berichterstattung der "Bild" von verschiedenen Medien bewertet wird. Die Zeitung hatte am Donnerstag intensiv über die Vorfälle in Solingen berichtet, dort soll eine Mutter fünf ihrer Kinder getötet haben. Die "Bild" zeigte dabei ein Bild der Mutter zunächst unverpixelt, später veröffentlichte sie private Chat-Nachrichten des 11-jährigen Bruders der getöteten Kinder.
Mirjam Kid: Kinder und Jugendliche genießen bei der journalistischen Berichterstattung eigentlich besonderen Schutz, besonders, wenn sie sich in seelisch extremen Situationen befinden, zum Beispiel nach Todesfällen von Angehörigen. So steht es im Pressekodex. Die Bild-Zeitung berücksichtigt das aber nicht. Die Boulevardzeitung, die für ihre ethische Grenzüberschreitung oder ethische Grenzüberschreitungen immer wieder kritisiert wird, hat nun auch diese Grenze gerissen. Nachdem eine Mutter in Solingen fünf ihrer sechs Kinder ermordet haben soll, veröffentlichte die Bild-Zeitung private WhatsApp Nachrichten des überlebenden elfjährigen Sohnes. Die Quelle ein Freund, zwölf Jahre alt, abgebildet mit Porträtfoto. Wo ist hier der journalistische Mehrwert? Diese Frage geistert, immer lauter werdend, seit dem Wochenende durch das Internet. Und auch der Vorwurf, Kinder würden von der Bild für menschenverachtende Sensationsmeldungen instrumentalisiert. Der Ordnung halber sei erwähnt, dass nicht nur sie, sondern auch RTL in dieser Form über das Ereignis berichtet haben. Trotzdem die Frage an Sie, wo ist denn für Sie der Mehrwert bei dieser Art der Berichterstattung?
Reichelt: Also, das ist nicht nur der Ordnung halber erwähnenswert, sondern auch aufgrund der Frage, die sie gestellt haben, nämlich nach dem Berichterstattungsanlass, und da handelt es sich einmal erstmal um Nachrichtenlage. Dann gilt es, die Nachrichtenlage zu beurteilen, aber grundsätzlich hatten wir es dort mit dem zu tun, was wir Nachrichtenlage nennen. Es gibt aber noch einen ganz anderen wichtigen Punkt, der bei der Beurteilung, nach der sie gefragt haben, für uns überragend wichtig ist, wenn es darum geht, was die ethischen Grenzen sind. Und da orientieren wir uns einmal natürlich am öffentlichen Interesse. Das ist hier, wie wir gesehen haben, an Berichterstattung in allen Medien absolut überragend und gegeben. Und wir orientieren uns natürlich auch daran, was zum Beispiel Ermittlungsbehörden tun und wie sie mit so einem Fall verfahren. Und in diesem Fall war es zum Beispiel so - das ist in der Berichterstattung oder in der Meinungsäußerung über Bild in den letzten Tagen ein bisschen verloren gegangen - dass auch die Polizei auf ihrer Pressekonferenz, aus dem Chat, oder aus einem Chat, den es gegeben hat, mit diesem überlebenden Jungen, dem unser tiefes, tiefes Mitgefühl gilt, Chats von diesem Jungen thematisiert hat und aus diesen Chats zitiert hat. Also, nicht nur wir sind zu der Einschätzung gelangt, dass diese Nachrichten, die dort im Verlauf dieser Katastrophe, kann man ja sagen, geschrieben wurden, von überragendem Interesse sind, sondern auch die Ermittlungsbehörden. Dort hat der Leiter der Ermittlungsgruppe auf der Pressekonferenz eben thematisiert, was der überlebende Junge aus dieser Familie in einem schulischen Gruppenchat geschrieben hat.
Mirjam Kid: Sie argumentieren mit der Nachrichtenlage und mit dem öffentlichen Interesse. Nun wird ja nicht ihre Berichterstattung insgesamt kritisiert, also die Tatsache, dass sie darüber berichtet haben, sondern eben die Tatsache, dass Sie Auszüge aus dem Chat dieses elfjährigen Kindes verwendet haben. Ist es denn so unbedingt notwendig gewesen für die Erhellung des Ereignisses?
Reichelt: Also, wie gesagt noch einmal, wir sind da zu einer ähnlichen Einschätzung, was die Erhellung dieses Ereignisses, wie sie es nennen, angeht, gekommen wie eben auch die Ermittlungsbehörden, die in ihrer Pressekonferenz aus mehreren Chats der Familie, einmal von der Mutter an ihre Mutter, also an die Großmutter des Jungen, aber eben auch aus dem Chat des Jungen zitiert haben. Auch die Ermittlungsbehörden waren der Meinung, dass es der Erhellung dieses Falls und im öffentlichen Interesse angemessen ist, daraus zu zitieren. Und hinzukommt, dass das, was wir dort zitiert haben, ohnehin schon einmal zitiert worden war.
Kid: Sie wissen, wir haben begrenzte Zeit. Deswegen fahre ich Ihnen ins Wort. Ich habe hier einen Punkt verstanden, aber sie sind ja nicht dazu gezwungen, die Pressemitteilung oder die Pressekonferenz der Polizei wörtlich zu erwähnen. Es gibt ja Regularien, denen sich die Presse unterworfen hat, den Pressekodex, und dort haben sie gleich mehrere Regeln und Richtlinien verletzt, zum Beispiel dass schutzbedürftige Personen, das ihnen gegenüber besondere Zurückhaltung geboten ist in solchen Ereignissen, besonders Kinder und Jugendliche, die unangemessene, sensationelle Darstellung, Jugendschutz. Ist Ihnen das egal?
Reichelt: Nein, das habe ich ja gerade erwähnt. Wie gesagt, wir nehmen dort eine Beurteilung vor, und unsere Beurteilung ist dort zu demselben Ergebnis gekommen, wie die Beurteilung der Ermittlungsbehörden, deswegen glaube ich ....
Kid: Aber sie widerspricht dem Pressekodex, ist ihnen das egal?
Reichelt: Nein, ich glaube, dass die Ermittlungsbehörden, die Verantwortung von Ermittlungsbehörden und die Verantwortung, die aus den Pressekodex hervorgeht, dass das sich schon in gewisser Weise ähnelt und auch ähneln sollte.
Kid: Aber es ähnelt sich ja nicht, es unterscheidet sich ja in diesem Fall.
Reichelt: Nein, es unterscheidet sich daher in dem Punkt nicht, dass wir beide, also, dass beide sowohl Behörden als auch wir, vor einer Entscheidung standen, was öffentliches Interesse ist und was der Erhellung, wie sie es genannt haben, dieses Falls dient. Und beide Seiten sind natürlich dem Schutz dieses Kindes verpflichtet, gar keine Frage, und beide Seiten sind dort zu einer sehr ähnlichen Beurteilung gekommen und ich glaube, das sollte einfach berücksichtigt werden, dass es sich um eine Geschichte handelte, die schon auf dem Markt war und dass unsere Beurteilung da in keiner Weise abgewichen ist, von der Beurteilung der Behörden.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.