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Getrennte Welten statt Inklusion

Geht es nach den Vereinten Nationen, so müssten Sportler mit und ohne Behinderung in denselben Verbänden organisiert sein. In Deutschland, wo 13 Millionen mit einer Behinderung leben, trat das entsprechende Übereinkommen 2009 in Kraft. Wird der deutsche Sport einem inklusiven Anspruch gerecht?

Von Ronny Blaschke; Stefan Adomeitis | 25.08.2012
    Das Sportforum Hohenschönhausen im Osten Berlins. Die Schwimmerin Daniela Schulte steigt erschöpft aus dem Becken. Als sie neun Jahre alt war, verlor sie durch eine Erbkrankheit ihr Augenlicht. Ihr Vater meldete sie in einem Schwimmverein an. Schnell gehörte sie zu den Besten, bei den Paralympics 1996 gewann sie zweimal Gold und Silber – im Alter von 14 Jahren. Sie sammelte Rekorde, unterbrach ihre Karriere für die Gründung einer Familie. Nun in London will Daniela Schulte beweisen, dass sie noch schneller geworden ist.

    "Also hier in Berlin haben wir echt gute Bedingungen, dass wir mit den anderen zusammentrainieren und unsere eigenen Bahnen auch haben. Viele Möglichkeiten wie Kraftraum und Strömungskanal. Und es gibt ja auch andere in Deutschland, die haben nicht solche guten Bedingungen. Es war früher auch mal anders. Ich habe ja damals 2000 aufgehört gehabt, das war das bisschen anders, da musste man darum kämpfen, dass man hier mittrainieren durfte."

    Daniela Schulte ist Mitglied des Berliner Schwimmteams, das acht der 21 deutschen Schwimmer zu den Paralympics schickt. Sie trainieren am Olympiastützpunkt Berlin zusammen mit nichtbehinderten Athleten. Und mit den gleichen Ansprüchen: auf Kraftraum, Physiotherapie oder Berufsberatung. Der Berliner Schwimmtrainer Matthias Ulm:

    "Im Trainingsalltag ist es eine völlige Normalität, dass dort Britta Steffen direkt neben einer Daniela Schulte trainiert."

    Das Schwimmteam hat den Inklusionsgedanken verinnerlicht. Eine Ausnahme: Meist ist volle Teilhabe in der Ausbildung von Trainern kein Thema. Hubert Hüppe, der Beauftragte der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen.

    "Inklusion im Sport würde für mich bedeuten, dass wo immer es geht, Behinderte und Nichtbehinderte zusammen Sport treiben. Dass auf Dauer irgendwann vielleicht auch die Olympischen und Paralympischen Spiele zusammengeführt werden. Das heißt ja nicht, dass sie dieselben Sportarten machen müssen. Aber dass man auch da sich begegnet und zusammenkommt, so wie auch blinde mit körperbehinderten Sportler zusammenkommen, was sie vielleicht sonst auch nicht automatisch tun würden. Es wird sicherlich nicht von heute auf morgen der Deutsche Behindertensportverband aufgelöst, darum geht es ja auch nicht. Sondern es geht ja darum: Wie schafft man barrierefreien Sport, also wie kommen die Leute zusammen? Und da kann man über die Sportförderung sicherlich, wenn es Steuermittel sind, auch sagen: Können wir das eine oder andere dann nicht bevorzugen, wenn es inklusiv ist? Und dafür würde ich mich schon aussprechen."

    Inklusive Partnerschaften scheitern vor allem an fehlender Bereitschaft der Sportfachverbände. Eine Ausnahme hat der Deutsche Schützenbund geschaffen: Die Rollstuhlfahrerin und Paralympics-Siegerin Manuela Schmermund darf sich in der Bundesliga mit Schützen ohne Behinderung messen.
    "Ich glaube, eines der größten Probleme das ist, dass Menschen ohne Behinderungen nicht gelernt haben, mit Menschen mit Behinderungen umzugehen. Das liegt daran, dass man sich nie begegnet. Dass man gesonderte Sportarten hat, gesonderte Schulen hat, gesonderte Arbeitsbereiche, gesonderte Wohnbereiche hat, und man sich deshalb auseinanderdividiert."
    In Großbritannien oder Kanada sind behinderte und nichtbehinderte Sportler in denselben Verbänden organisiert, sie unterliegen derselben Förderung. In Deutschland ist die sportliche Trennung auch Spiegel des Schulsystems, das seit der Nachkriegszeit auf Sonderpädagogik gesetzt hat. Weniger als zehn Prozent der fast 500000 Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf werden an Regelschulen unterrichtet, in Schweden oder Portugal sind es mehr als neunzig Prozent. Auch die beiden Schulwettbewerbe "Jugend trainiert für Olympia" und "Jugend trainiert für Paralympics" haben kaum Anknüpfungspunkte. Der Hamburger Erziehungswissenschaftler Willibald Weichert.

    "’Viele Eltern wollen ihre Kinder gar nicht im Integrations- oder Inklusionskontext haben, weil sie dann fürchten, da gehen sie unter oder sie werden nicht angemessen gefördert. Es ist unheimlich schwierig, unserer Gesellschaft zu vermitteln, dass auch dort eine angemessene Förderung möglich ist. Dass vor allem auch die Nichtbehinderten lernen, mit Behinderten umzugehen.""

    An der Sporthochschule Köln haben zum Beispiel nur neun von 6000 Studierenden eine Behinderung. Obwohl Dozenten Prüfungen auf sie abstimmen würden und versuchen Berührungsängste abzubauen. Wie die meisten Universitäten ist auch die Sporthochschule nicht barrierefrei. Studierende, die hier zu Sportökonomen, Pädagogen oder Therapeuten ausgebildet werden, haben kaum Kontakt zu behinderten Menschen, sollen aber künftig Inklusion prägen. Friedhelm Julius Beucher, Präsident des Deutschen Behindertensportverbandes.

    "In einem Land, das weitgehend nicht barrierefrei ist, müssen wir natürlich auch dazu beitragen, dass die Barrierefreiheit in den Köpfen erstmal geschaffen wird. Wir haben heute noch Sporthallen, wo unsere Sportlerinnen und Sportler die Barrieren einfach nicht überwinden können und deshalb können wir die Sporthallen nicht nutzen. Das gilt für viele öffentliche Bereiche."

    Ein deutscher Paralympics-Sieger soll von der Stiftung Deutsche Sporthilfe eine Prämie von 4500 Euro erhalten, für Olympia-Gold ohne Handicap war die Auszahlung mehr als dreimal so hoch. Der Behindertensportverband verhandelt mit der Stiftung um Nachbesserungen, Ergebnisse sollen am Dienstag verkündet werden. Welches Signal geht von unterschiedlichen Prämien aus? Matthias Ulm.

    "Ja, ganz klar, Ihr seid weniger wert. Wenn ich mir das für unsere Sportler angucke: Also die Topleute trainieren einen völlig identischen Trainingsaufwand, die sind genauso dreißig Stunden in der Woche im Kraftraum, in der Schwimmhalle oder auf dem Fahrradergometer, oder wo auch immer. Die haben im Alltag schon weniger. Es ist für sie deutlich schwieriger, einen Sponsor zu finden oder sonst irgendwas. Warum sollte es dann nicht wenigstens die gleiche Prämie geben?"

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    Ein kleiner Sportverein in Nordrhein-Westfalen zeigt, dass Inklusion im Sport funktionieren kann. "Unser Ziel ist es, Normalität zu bieten," sagt Stefan Adomeitis vom TV Schiefbahn 1899 in Willich im Gespräch mit Tobias Oelmaier. Adomeitis betreut eine integrative Kindersportgruppe. "Alle Kinder lernen hier gegenseitige Rücksichtnahme. Es geht nicht um die Leistung, sondern darum, etwas gemeinsam zu machen".