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Gewalt an Kindern in der DDR
Sexueller Missbrauch war lange Tabuthema

Sexueller Missbrauch wurde in der DDR weitaus stärker tabuisiert als in der Bundesrepublik, so das Ergebnis einer aktuellen Studie. Die Übergriffe passten nicht ins Bild des sozialistischen Vorzeigestaates. Deshalb schwiegen die meisten Opfer - und viele Täter kamen ungeschoren davon.

Von Gudula Geuther | 06.03.2019
ARCHIV - Ein Besucher steht am 07.11.2009 vor der Line mit der Aufschrift «Ausziehen hier» in einem Raum des ehemaligen Geschlossenen Jugendwerkhofes Torgau in der heutigen Gedenkstätte in Torgau (Sachsen). Seit zwei Jahren können ehemalige DDR-Heimkinder, denen Unrecht geschah, Hilfen aus einem Entschädigungsfonds erreichen, am 30. September endet die Frist. Foto: Peter Endig/dpa (zu dpa «Land gibt 1,5 Millionen für Aufstockung des DDR-Heimkinder-Fonds» vom 12.08.2014) | Verwendung weltweit
Gedenkstätte des ehemaligen Jugendwerkhofs Torgau: Auch hier kam es zu sexuellem Missbrauch (dpa-Zentralbild)
Sexueller Missbrauch ist tabubelastet - durch Scham, Drohung, Verdrängung, das gilt überall. Trotzdem: In der DDR waren die Tabus größer als in anderen Gesellschaften und sie hielten länger an. Manchmal bis heute, glaubt Corinna Thalheim. Sie vertritt eine Initiative von Betroffenen, die als Kinder in DDR-Heimen untergebracht waren. Viele schwiegen bis heute.
"Es zeigt auch, dass die Betroffenen bis heute noch nicht den Mut haben, über sexuellen Missbrauch zu sprechen, weil die Heimerfahrung schon so schlimm war, dass viele Betroffene erst mal über die Heimerfahrung sprechen und die Stigmatisierung immer noch für die Heimkinder da ist."
Missbrauch offiziell nicht existent
Sexueller Missbrauch in Institutionen der DDR - das ist der eine Teil einer Studie, die heute die Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs vorgelegt hat. Und Institutionen heißt vor allem: Heime, besonders die speziellen Heime und Jugendwerkhöfe. Bis heute würden die Kinder von damals stigmatisiert, sagt die Studie und sagt Corinna Thalheim.
"Einmal Heimkind, immer Heimkind. Wir waren Kleinkriminelle, wir waren Verbrecher, das ist das Bild, was die Gesellschaft sieht. – Es ist aber nicht so."
Die schwarze Pädagogik, die in der Bundesrepublik nach den 68er-Bewegungen aufgearbeitet wurde, blieb in der DDR bestehen, mit dem Raum, den sie der sexualisierten Gewalt bietet. Selten wurden Täter sanktioniert. Dass Missbrauch allerdings oft auch nicht erkannt wurde, führt die Studie auch darauf zurück, dass es ihn offiziell nicht gab.
"Sexualisierte Gewalt ist nicht Teil einer sozialistischen Gesellschaft", so das Dogma, das die Dresdener Professorin Cornelia Wustmann untersucht hat. "Diese Tabuisierung, die ist so stark, dass zum Beispiel Kindesmisshandlung, Kindesmissbrauch in der Statistik überhaupt nicht auftaucht. Damit auch nicht existent ist."
Staatliche Tabus wirken in die Familie
Das gilt nicht nur für staatliche Institutionen, sondern auch für den familiären Missbrauch – das ist der zweite Teil der Studie. Wobei das staatliche Tabu die familiären Tabus noch befördert habe. Denn Abweichungen vom DDR-Familienbild waren gefährlich. Deshalb sei auch betroffenen Kindern wichtig gewesen, "dass diese sozialistische Familie nach außen wirklich immer funktioniert hat. Also nicht nur, was die sexualisierte Gewalt betrifft, sondern eben auch, was politische Einstellungen betrifft, was den Fernsehsender betrifft und so weiter. Wo den Mädchen und Jungen und den Jugendlichen ganz deutlich erklärt wird: Das hat woanders nichts zu suchen. Das bleibt in der Familie. Ansonsten laufen wir Gefahr, von den Sanktionen betroffen zu sein. Und das war Mädchen und Jungen in der DDR schon ziemlich klar, was diese Sanktionierung bedeutet: Nämlich Heimeinweisung."
Auch diese Tabuisierung des familiären Missbrauchs wirke bis heute fort, glauben die Autorinnen der Studie. Neben Cornelia Wustmann ist das Beate Mitzscherlich, die in die Institutionen geschaut hat. Was sie, die zur Zeit der DDR in Leipzig Psychologie studiert hat und die selbst in der Ausbildung die Heimwelt kennengelernt hat, zu hören bekam, hätte sie selbst sich nicht vorstellen können. So etwas hätte es in der DDR nicht gegeben, habe sie zuvor geglaubt.
Viele Flucht- und Suizidversuche
Wenn Kinder auffällig wurden und wirklich ins Heim kamen, schloss sich der Kreis.
"Manche dieser Heimkarrieren sind deswegen eskaliert, weil sexueller Missbrauch ein regelhaftes Element der Heimerziehung war. Kinder, die missbraucht wurden, in einem Normalheim, in einem Spezialheim, sind natürlich geflüchtet, haben versucht, diesem Kontext zu entkommen. Und Entweichungen, das haben wir gehört, führten eben zu Verschärfungen der Repression. Also geschlossene Heimunterbringung und dann möglicherweise am Ende geschlossener Jugendwerkhof."
Wobei Flucht unter den Bedingungen der DDR eben auch schwerer möglich war.
"Wir haben das genannt: 'Der doppelte Einschluss.' Also selbst, wenn man aus dem Heim in der DDR ausbrach, kam man ja nicht weit. Dadurch, dass die Bahnhöfe überwacht waren, dass irgendwann eine Grenze kam. Also es gab auch Fluchtversuche, es gab sehr viele Suizidversuche."
Aufarbeitung braucht mehr Unterstützung
Für die betroffenen Heimkinder gab es den späten Start einer Aufarbeitung mit einem Fonds, der mangels Länderunterstützung auslief. Die Betroffenen fordern weiterhin mehr Unterstützung, die ihnen selbst das neu gestaltete Opferentschädigungsgesetz nach jetzigem Stand nicht gewähren soll. Und gerade, was den sexuellen Missbrauch in Familien betrifft, fordert die Kommission mehr Forschung, denn die steht gerade erst am Anfang.