Donnerstag, 25. April 2024

Archiv

Gewalt beim Hamburger G20-Gipfel
Nur Demonstranten auf der Anklagebank

Beim G20-Gipfel in Hamburg 2017 gab es massive Ausschreitungen von Demonstranten, aber auch Polizeigewalt gegen friedlich Protestierende. Die Staatsanwaltschaft hat 449 Demonstranten angeklagt – aber keinen einzigen Polizisten. Für Opfer der Polizeigewalt ist das nur schwer zu ertragen.

Von Axel Schröder | 09.07.2020
Ein Polizist schlägt mit einem Schlagstock auf Demonstranten beim G20-Gipfel 2017 in Hamburg ein, andere Polizisten halten die Protestierenden fest
Ein Polizist schlägt mit einem Schlagstock auf Demonstranten beim G20-Gipfel 2017 in Hamburg ein, andere Polizisten halten die Protestierenden fest (picture alliance/ZUMA Wire/Jannis Grosse)
Der Ort, an dem Lola Diaz vor drei Jahren mit einem Schlagstock das Bein gebrochen wurde, ist keine 20 Meter entfernt. In einem Café am Neuen Pferdemarkt im Schanzenviertel erinnert sich die angehende Lehrerin.
"Beim G20, am Samstagabend, sind wir nach der großen Demo wieder auf die Straße gegangen mit Lautsprechern und Musik. Weil wir einfach der Meinung waren, dass in dieser Woche die Situation so sehr eskaliert ist, dass es vielleicht gut wäre, so eine schöne Aktion zu machen und einfach Musik und gute Laune auf die Straße zu bringen."
Pflastersteine liegen am 08.07.2017 in Hamburg im Schanzenviertel auf der Straße. Am 07. und 08. Juli kommen in der Hansestadt die Regierungschefs der führenden Industrienationen zum G20-Gipfel zusammen. In der Nacht zum 08.07 eskalierten die Proteste im Schanzenviertel, die Polizei ging mit einem massiven Aufgebot gegen Randalierer vor. 
Hamburg und der G20-Gipfel - Die Gräben bleiben
Ein Jahr nach den G20-Krawallen in Hamburg sind die Wunden der Stadtgesellschaft nicht verheilt – vor allem bei Anwohnern des verwüsteten Schanzenviertels.
"Ein Polizist hat weitergeschlagen"
Lola Diaz steht damals mit ihrem Musik-Kollektiv im Schanzenviertel. Dort, wo es in der Nacht zuvor zu den heftigsten Straßenschlachten der Hamburger Nachkriegsgeschichte kam. Geschäfte geplündert, in vier Läden Brände gelegt wurden. Die Polizei hatte es verpasst, rechtzeitig einzuschreiten und war dann überfordert mit den gewalttätigen Massenprotesten. Aus Lola Diaz‘ Idee, einen Tag danach die Situation durch Musik und Tanz zu beruhigen, wird aber nichts. Ohne Vorwarnung rückt damals eine Polizeieinheit aus Baden-Württemberg an, erzählt Lola.
"Sie sind direkt zu uns gekommen und haben uns ganz doll zusammengeschlagen und das Soundsystem auseinandergeschlagen und kaputtgehauen. Viele Leute haben geblutet. In einem Moment, als alles quasi vorbei war, hatte ein Polizist scheinbar nicht genug und hat sich umgedreht und hat weitergeschlagen. Und er hat mich getroffen und mein Bein gebrochen."
Wer genau zugeschlagen hat, ist nicht geklärt
Die meisten rennen weg, flüchten vor den Polizeiknüppeln, erzählt Lola. Mit gebrochenem Schien- und Wadenbein habe sich an eine Wand gestützt, von einem Passanten Hilfe bekommen. Zuerst verzichtet sie auf eine Strafanzeige. Denn immer wieder gibt es Berichte darüber, dass die Polizei dann ihrerseits Anzeige erstattet, zum Beispiel wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte. Trotzdem wurde in ihrem Fall ermittelt. Das so genannte "Dezernat Interne Ermittlungen", zuständig für die Verfolgung von Straftaten von Einsatzkräften, erfuhr von Lola Diaz‘ Fall aus dem Fernsehen. Im "Dezernat Interne Ermittlungen", kurz DIE, ermitteln Polizisten gegen Polizisten. Die Fahnder sichteten Videomaterial und konnten vier Beamte aus Süddeutschland identifizieren, die für die schwere Körperverletzung im Amt verantwortlich sein müssen. Wer genau zuschlagen hat, ist aber bis heute nicht geklärt, erzählt Lola:
"Diese Beamten haben sich quasi gegenseitig geschützt. Die haben gesagt, sie waren das nicht, sie können sich nicht erinnern und sie können nicht erkennen, wer mir das Bein gebrochen hat. Und der Einsatzleiter konnte angeblich nicht erkennen, wer von den vier Beamten es sein könnte. Von daher hat die ‚Interne Ermittlung‘ das Verfahren eingestellt, in die Schublade gepackt."
Staatsanwaltschaft will weiter ermitteln
Der Hamburger Generalstaatsanwalt Jörg Fröhlich kennt den Fall von Lola Diaz und hat keine Zweifel daran, dass eine überzogene Gewaltanwendung vorliegt.
"Die Staatsanwaltschaft hat dann in Zusammenarbeit mit der Generalstaatsanwaltschaft – die übrigens sämtliche eingestellte Verfahren noch einmal überprüft – entschieden, dass wir es damit nicht sein Bewenden lassen, sondern dass wir weiter ermitteln. Was wir dann im Einzelnen noch vorhaben, möchte ich ihnen jetzt hier nicht sagen. Aber sie können davon ausgehen, dass solche Fälle natürlich ganz besonders in unserem Fokus stehen."
Rechtliche Aufarbeitung noch lange nicht abgeschlossen
Drei Jahre nach dem G20-Gipfel und den gewalttätigen Ausschreitungen ist die rechtliche Aufarbeitung der Gipfeltage noch immer nicht abgeschlossen. In 961 Verfahren gegen so genannte "Störer" wurden über 500 Strafbefehle und Anklagen beantragt, der Rest wurde eingestellt. Darüber hinaus laufen rund 1.600 Verfahren gegen unbekannte Täterinnen und Täter, so der Generalstaatsanwalt.
"Was die Verfahren gegen Polizeibeamte anbelangt, ist der Stand Anfang Juni folgender. Wir hatten 157 Verfahren dort registriert. Von diesen 157 Verfahren sind inzwischen 120 mangels hinreichendem Tatverdacht eingestellt."
Viele Ermittlungsverfahren gegen Polizisten wurden eingestellt
Rafael Behr war früher selbst als Polizist auf Großdemonstration unterwegs. Heute bildet der Soziologe den Nachwuchs an der Hamburger Akademie der Polizei aus. Rafael Behr wundert sich darüber, dass viele Ermittlungsverfahren gegen Polizeibeamte eingestellt werden mussten, weil aussagekräftiges Beweismaterial gefehlt hat.
"31.000 Polizisten insgesamt, mindestens vier sehr, sehr gewaltintensive Tage und kein einziger Fehlgriff, der protokollierbar war, der beweisbar war, der rekonstruierbar war. Bei der Menge auch an polizeilichen Beobachtungsmöglichkeiten – Bodycams, Beweissicherungseinheiten – niemand hat was aufgenommen, was qualitativ so wertvoll war, dass es juristisch hätte genutzt werden können?"
Dass es auch drei Jahre danach keine Anklage gibt, sende ein fatales Signal in die Polizei, sagt Rafael Behr:
"Denn fortan konnten alle Polizisten mit breiter Brust sagen: ‚Was willst Du denn, Kritiker? Es war doch nichts!‘"
Ob der Polizist, der Lola Diaz das Bein gebrochen hat, für diese Straftat belangt wird, ist offen. Und auch seine drei Kollegen, die daneben standen, diejenigen, die sich einer Strafvereitelung im Amt schuldig gemacht haben, auch diese drei könnten am Ende straffrei ausgehen.