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Gewalt gegen Minderheiten in Osteuropa nimmt zu

Seit gut einem Jahr sorgen in Ungarn immer wieder Mordanschläge auf die Roma-Minderheit für Schlagzeilen. Auch in Rumänien und Tschechien häufen sich diese rassistisch motivierten Gewaltverbrechen. Eine Analyse der sozio-ökonomischen aber auch geschichtlichen Zusammenhänge, die der Gewalt in Osteuropa den Boden bereitet haben könnte.

Von Keno Verseck |
    Rumänien, Anfang Juli: Bewohner zweier siebenbürgischer Dörfer zünden Häuser und Wirtschaftsgebäude von Roma an, aus einem Ort werden sie zeitweise verjagt, in dem anderen wird kontrolliert, ob sie sich "zivilisiert" verhalten. Zuvor hatte es jeweils Streit unter Nachbarn gegeben.

    Ungarn, Montag Nacht: In einem Dorf im Osten des Landes erschießen Unbekannte eine 45-jährige Romi und verletzen ihre 13-jährige Tochter lebensgefährlich. Es ist der vierte Mord in einer Serie in diesem Jahr; die Polizei vermutet als Täter eine Gruppe fanatischer, rechtsextremer Terroristen.

    Auch in Tschechien, der Slowakei und Bulgarien häufen sich Brandanschläge und Überfälle auf Roma.

    Schon einmal, Anfang der 1990er-Jahre, gab es in Osteuropa eine ähnliche Welle rassistischer Gewalt gegen Roma. Doch heute sind viele Taten ungleich brutaler als damals.

    Eine der Ursachen für die Gewalt sehen Beobachter in der globalen Wirtschaftskrise, die osteuropäische Länder besonders schwer trifft. Denn die meisten leiden ohnehin seit Langem unter tiefen Strukturproblemen.

    Der ungarische Philosoph, frühere Bürgerrechtler und heutige neomarxistische Analytiker Gáspár Miklós Tamás spricht von einer rechtsradikalen Erhebung des Mittelstandes in Osteuropa.

    "Es gibt in den osteuropäischen Gesellschaften, das ist nicht nur in Ungarn der Fall, einen staatsabhängigen Mittelstand, dessen Lage ist sehr unsicher, und die Intelligenz, die Studenten und so weiter, sind wirklich in der rechten Hysterie ganz tief drin."

    Es gehe darum, wer die knappen staatlichen Gelder bekomme, so Tamás. Im Ressourcenkampf kriminalisiere der Mittelstand seine Konkurrenten.

    "Es gibt in den Medien eine Propaganda gegen Rentner, gegen alle Sozialhilfeempfänger, die Roma, die Armen, alle Leute, die staatliche Ressourcen brauchen und keine politische und soziale Macht haben."

    Andere Beobachter sprechen von einem Scheitern des zivilgesellschaftlichen Diskurses. Tatsächlich scheinen viele Länder der Region nur auf dem Papier wirklich gut in das moderne Europa integriert. In Westeuropa häufig unbeachtet, ist der Diskurs osteuropäischer Eliten angefüllt mit einem Nationalismus, der Gewalt gegen Minderheiten indirekt legitimiert.

    Manche Angehörige der Roma-Eliten in Osteuropa richten den Blick derzeit auch auf sich selbst, beispielsweise der rumänische Soziologe Nicolae Gheorghe, lange Jahre Roma-Beauftragter der OSZE. Er warnt zwar davor, die Schuld für die Gewaltwelle direkt bei den Roma, also bei den Opfern zu suchen. Anderseits, so konstatiert er, hätten es die Roma-Eliten in Osteuropa nicht geschafft, der Mehrheit der Roma auch nur punktuell aus ihrem Elend zu helfen. Diese Mehrheit hätte folglich auch nicht gelernt, sich zu wehren. Statt dessen gebe es inzwischen überall in Osteuropa eine kleine, verbürokratisierte Roma-Elite, die Fördergelder konsumiere.

    Ursachenforschung kommt freilich nicht umhin, den Blick auf die vielleicht entscheidendsten Punkte für das Ausmaß der Gewalt zu lenken: zum einen die nahezu völlig fehlende Empathie osteuropäischer Gesellschaften für Roma, auch für Opfer der Gewalt, zum anderen die häufige Untätigkeit von Behörden. Nirgendwo in Osteuropa gibt es einen "Aufstand der Anständigen", und kein Politiker versucht ihn auszurufen. Zugleich ermitteln Behörden in Fällen von Gewalt gegen Roma vielfach nicht oder nur schlampig und geben Tätern so das Gefühl, auf sicherem Terrain zu sein. Wäre das anders, sagt die Budapester Roma-Aktivistin und Rechtsanwältin Tímea Borovszky, gebe es womöglich weniger Gewalt gegen Roma.

    "Die politische Elite als Ganzes müsste aufstehen und sagen, dass Morde an Roma nicht geduldet werden. Sie müsste sich in entschiedenstem Maße von rassistischer Gewalt abgrenzen. Doch das geschieht nicht. Und das besorgt mich viel mehr als die Verbrechen an sich."