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Gewalt in Gottes Namen

Ein islamischer Extremist hat im Obersten Verwaltungsgericht der Türkei in Ankara fünf Richter niedergeschossen. Einer der Juristen starb. Mit dem Attentat wollte der Täter gegen ein Urteil protestieren, das das Kopftuchverbot in der Türkei verschärft hat. Im Hintergrund schwelt ein Machtkampf zwischen den Befürwortern des Laizismus und den Anhängern eines islamischen Staates. Susanne Güsten berichtet.

    Wie elektrisiert ist Ankara von dem Attentat, das die Türkische Republik erschütterte. Ein Mann mit einer Pistole stürmte gestern Morgen im Obersten Verwaltungsgerichtshof in den Besprechungsraum der Zweiten Kammer und schoss fünf Richter nieder. Noch mitten in der Hektik der Rettungsarbeiten berichtete die Vizevorsitzende des Gerichts, Tansel Cölasan, vom Tathergang:

    "Der Täter ist in den Raum geplatzt und hat elf Kugeln hintereinander auf die Richter abgefeuert. Er zielte nacheinander auf alle Kammermitglieder. Dabei rief er: 'Wir sind die Soldaten Gottes!' Noch während er schoss, sagte er, dass er das Gericht damit für sein Urteil in der Kopftuchfrage bestrafen wolle."

    Der Täter, ein Rechtsanwalt aus Istanbul, war schnell gefasst. Am Hinterausgang des Gerichts schnappte ihn die Polizei, wenig später wurde er der Staatsanwaltschaft vorgeführt. Wegen des Kopftuchurteils, das die Zweite Kammer des Verwaltungsgerichtshofes kürzlich gefällt hatte, habe er die Tat verübt, sagte er im Verhör. Der Oppositionsführer Deniz Baykal sah am Tatort seine schlimmsten Befürchtungen bestätigt:

    "Dieses Ereignis muss all jene aufrütteln, die bisher nicht sehen konnten oder sehen wollten, was in diesem Land geschieht. Die Türkei steuert auf einen sehr gefährlichen Punkt zu. Diese Tat richtet sich gegen all jene in der Türkei, die an Recht und Gesetz festhalten und der Verfassung treu sind."

    Mit seinem Urteil hatte der Verwaltungsgerichtshof vor drei Monaten das Kopftuchverbot, das an türkischen Schulen, Universitäten und Ämtern gilt, noch einmal deutlich ausgeweitet. Die Zwei Kammer unter Richter Mustafa Birden bestätigte mit ihrem Spruch die Amtsenthebung einer Grundschuldirektorin. Diese hatte das Kopftuch zwar nicht in der Schule selbst, aber zu Hause und auch auf dem Heimweg getragen. Damit sei das Verbot von der öffentlichen auf die Privatsphäre ausgeweitet worden, erbosten sich die Gegner des Verbots, darunter auch die gemäßigt-islamische Regierung von Ministerpräsident Erdogan. Erdogan hatte seinen Wählern eigentlich die Abschaffung des Kopftuchverbots versprochen, kann sich damit aber gegen die laizistischen Gerichte nicht durchsetzen. Außenminister Abdullah Gül etwa kritisierte das Urteil der Verwaltungsrichter damals so:

    "Dieses Herangehen ist gegen die Demokratisierung der Türkei gerichtet.
    Wenn man dieser Logik folgt, dann wird man morgen auch Lehrer, die im Ramadan fasten, beschuldigen, ihren Schülern ein schlechtes Vorbild abzugeben. Das Urteil definiert Frömmigkeit als schlechtes Vorbild. Das ist gefährlich und falsch."

    Nicht wenige im laizistischen Establishment der Türkei, also in Justiz, Bürokratie und Militär, geben deshalb der Regierung die Schuld an dem Attentat auf die Richter, so auch die Gerichtsvizevorsitzende Cölasan:

    "Natürlich werden alle diese Tat verurteilen, aber verurteilen reicht eben nicht. Diejenigen, die dahinter stecken und die den gesellschaftlichen Konsens zerstören, die sind persönlich verantwortlich für diese Tat."

    Der schon lange schwelende Streit zwischen dem religiösen Lager und den anti-islamischen Kräften in der Türkei schlägt in jüngster Zeit immer häufiger in Gewalt um. So wurden auf die regierungskritische Tageszeitung "Cumhuriyet", das Zentralorgan des laizistischen Establishments, in diesem Monat bereits drei Bombenanschläge verübt. Die islamistische Tageszeitung "Vakit", die wesentlich fundamentalistischer ist als die Regierung und die deshalb in Deutschland vor einem Jahr verboten wurde, veröffentlichte nach dem Kopftuchurteil auf der Titelseite die Fotos der fünf verantwortlichen Richter und titelte dazu: "Das sind sie!"

    Dass die Auseinandersetzung zwischen Islamisten und Laizisten in der Türkei vor den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen im nächsten Jahr auf ihren Höhepunkt zutreibt, wurde gestern auch im Parlament deutlich, wo die Abgeordneten von Regierungs- und Oppositionsfraktionen sich gegenseitig gar nicht mehr aussprechen ließen. Für das laizistische Lager meldete sich dabei der Fraktionsvize Kemal Anadol zu Wort:

    "Die Türkische Republik und ihre laizistische und demokratische Verfassungsordnung sind in höchster Gefahr. Das heutige Ereignis war der Quantensprung. Schuld ist die Regierung, die seit heute im Blut schwimmt. Die Regierung muss sofort zurücktreten! Vorneweg der Innenminister und der Ministerpräsident!"

    Die Regierung ist spätestens seit gestern in der Defensive, wenn es um die Kopftuchfrage und um die Machtfrage im Land geht. Entschieden werden diese Fragen bei den Wahlen im nächsten Jahr, und bis dahin könnte in der Türkei noch mehr Blut fließen.