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Gewalt und Pazifismus
"Du musst notfalls die Angreifer umbringen"

Schließt das Gebot "Du sollst nicht töten" in Krisensituationen wie derzeit im Irak auch das Gebot "Du sollst nicht töten lassen" ein? Ja, findet der Jurist und Politikwissenschaftler Albrecht von Lucke. Die Schaffung ein friedlichen Lebens könne auch den Einsatz von Waffen zum Zwecke der Nothilfe bedeuten.

Albrecht von Lucke im Gespräch mit Michael Köhler | 06.10.2014
    Kurdische Peschmerga-Kämpfer nahe der Front bei Makhmur, 280 Kilometer nördlich von Bagdad.
    Darf man, um Gewalt zu beenden, selbst Gewalt anwenden? (AFP / SAFIN HAMED)
    Michael Köhler: Die Allianz gegen den Terror wächst. Der NATO-Bündnispartner Türkei hat sich parlamentarische Zustimmung zum Eingreifen gegen den IS geholt. Neben England, Frankreich, Dänemark, Niederlande sind sie nun auch dabei. Die Deutschen liefern Ausrüstung und Gerät. Eine andere Frage ist: Wann ist Gewalt im Kampf gegen die Gewalt angemessen? Heute schreibt der EKD-Ratsvorsitzende a. D., Bischof Wolfgang Huber, in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" ganzseitig dazu im Feuilleton, der Monotheismus sei nicht schuld am Ursprung der Gewalt in den Religionen. Bedingungsloser Pazifismus sei nicht die richtige Antwort. Er sagt: "Dort, wo Terrormilizen genozidale Handlungen vollführen, schließe das Gebot "Du sollst nicht töten" auch die Folge ein, "Du sollst nicht töten lassen", und zwar um des Tötungsverbots willen." - Ich habe Albrecht von Lucke, Jurist, Politikwissenschaftler, Redakteur der Blätter für deutsche und internationale Politik, gefragt: Ist es im Namen von Gewaltfreiheit ratsam, Gewalt einzusetzen?
    Albrecht von Lucke: Die Frage ist die Grundfrage, und die halte ich für die entscheidende, und ich glaube, der Kern der Debatte geht genau in diese Frage: Was hätte Gewaltfreiheit heute zu bedeuten? Was ist eigentlich Pazifismus? Darum, glaube ich, dreht sich der ganze Streit. Im Kern - und die Debatte hat ja lange vor der Auseinandersetzung jetzt von Friedrich Wilhelm Graf in der "FAZ" mit Wolfgang Huber begonnen - stehen sich gewissermaßen zwei Schulen gegenüber. Das ist die Schule, die in dem Brief an Joachim Gauck vor geraumer Zeit von 67 ostdeutschen vornehmlich Pastoren geltend gemacht wurde, die gesagt haben, die Friedensbotschaft bedeutet, nie mehr eine Waffe in die Hand zu nehmen. Und sie haben das untermalt mit dem bekannten Brief an die Kinder aus einer ökumenischen Erklärung aus dem Jahr 1989. Da heißt es: "Wir alle müssen uns dafür einsetzen, dass niemand mehr einen anderen Menschen in einem Krieg tötet."
    Die Frage meines Erachtens ist aber nun die: Damals historischerseits, wir erinnern uns, waren wir im Zeitalter des Kalten Krieges, war es so beschaffen, dass jede Waffe, die in die Hand genommen wurde, tatsächlich die Gefahr barg, eine globale Auseinandersetzung hervorzurufen. Heute haben wir es mit einer Situation zu tun: Da Kriege permanent stattfinden, und zwar Kriege ohne jede Begründung, in der im Falle des IS gegenwärtig eine mordende Bande jeden, der anderen Glaubens ist, umbringt nach ihrem Belieben, und da taucht die Frage auf, was ist da eigentlich Pazifismus. Da meine ich tatsächlich ist die These erlaubt - und das ist die These von Wolfgang Huber -, man muss im Zweifelsfalle Nothilfe leisten, um auch solchen Menschen in den Arm zu fallen. Andernfalls macht man sich genauso schuldig, wie wenn man nichts tut.
    "Du musst notfalls ihre Angreifer umbringen"
    Köhler: Gewalt um der Gewaltlosigkeit willen ist zulässig? Das heißt, das Gebot "Du sollst nicht töten" umfasst auch das Gebot "Du sollst nicht zulassen, dass getötet wird"?
    von Lucke: Das ist am Schluss die große These von Wolfgang Huber, und ich habe dafür ausgesprochen viel Verständnis, weil man muss sich bewusst machen: Wir können uns auch durch Unterlassen schuldig machen. Wir erleben gerade, gerade am heutigen Tage, dass eine Stadt, Kobane an der türkischen Grenze, offensichtlich regelrecht ihrer Bevölkerung mit völlig unterlegenen Waffen überlassen wird, und da ist genau die These meines Erachtens berechtigt zu sagen, du sollst nicht töten heißt auch, du sollst denen, die Gefahr laufen, wenn denn nichts geschieht, umgebracht, auf die bestialischste Weise umgebracht zu werden, Du sollst denen die Chance geben zu überleben, du musst auch da - und das ist die Konsequenz -, du musst notfalls ihre Angreifer umbringen.
    Köhler: Ist das aber nicht eine merkwürdige Verdrehung von Menschenwürde und Menschenrechtsschutz? Man kann sagen, für sich selbst kann jeder auf Schutz vor Gewalt verzichten. Okay, das kann er für sich selber entscheiden. Aber anderen darf man das nicht vorenthalten?
    von Lucke: Das würde ich meinen. Das ist ja auch die alte Debatte um die Frage, was darf der Pazifist für sich in Anspruch nehmen. Ich glaube, man muss drei Dinge unterscheiden. Der Pazifist kann immer für sich in Anspruch nehmen, selber nicht in den Krieg zu gehen, selber niemanden erschießen zu wollen. Das ist völlig berechtigt, auch auf die Gefahr hin, dass er gegebenenfalls selber umgebracht wird. Oder seinen Nächsten, das ist keine Frage. Aber er kann nicht für sich in Anspruch nehmen meines Erachtens, dass nicht ein Dritter, der in dem Anspruch, das Leben anderer zu retten, nicht einen Krieg führt - und es ist ja in dem Falle kein gewünschter Krieg. Wir sehen es ja übrigens auch daran: Sie sprachen von der Allianz. Das Fatale ist ja, wenn Sie die Türkei vorhin nannten: Es sind viele an der Allianz verbal beteiligt, aber faktisch überhaupt nicht. Auch wir! Auch Deutschland schickt Waffen, aber die Lage wird nicht beseitigt.
    Köhler: Wenn die Flugzeuge denn doch fliegen können.
    von Lucke: So ist es! Wir sind ja momentan noch nicht mal in der Lage, Militär zu stellen. - Das alles ist Ausdruck - und das ist der springende Punkt -, es ist Ausdruck einer Notlage, eines Scheiterns einer Friedensordnung, die eigentlich die große Lösung des letzten Jahrhunderts sein sollte. Die UN, die Vereinten Nationen, der eigentliche - so muss man es ja begreifen - angedachte Weltpolizist, der, wenn wir es mal überhöht formulieren, Pazifizierer, derjenige, der befrieden sollte, war immer so gedacht, dass ihm Truppen sämtlicher Staaten zur Verfügung gestellt werden als Weltpolizei, mit denen er verfahren konnte. Das ist bis heute nicht geschehen und die eigentliche Forderung meines Erachtens müsste sein als friedenspolitische, dass endlich der UN, einer funktionierenden Vereinten Nationen, diese Waffen und dieses Militär zur Verfügung gestellt wird.
    "Von der alten augustinischen Idee des gerechten Krieges Abstand nehmen"
    Köhler: Linker Pazifismus führt also dazu, dass man auch zur Waffe greifen muss?
    von Lucke: Exakt! So würde ich es begreifen. Ich muss es wirklich so sagen. Ich glaube tatsächlich, dass der Pazifismus, auch wirklich die Friedensbewegung sich die Frage stellen muss, ob die Lösungen der Zeit des Kalten Krieges, in der tatsächlich jeder Griff zur Waffe sich verbot, weil der atomare Overkill drohte, ob diese Fragen nicht einer neuen Realität sich stellen müssen, da wir in einer Welt zunehmender Chaotisierung, zunehmender Anarchie leben, und die eigentliche pazifizierende, und damit meine ich wirklich aktiv eingreifende Form der Friedenspolitik nur darin bestehen kann, endlich das zu schaffen, was in den Vereinten Nationen einmal angelegt war. Das heißt natürlich trotzdem, dass wir all das, was gegen Völkerrecht verstößt, umso mehr kritisieren müssen, weil das die Macht der Vereinten Nationen untergräbt. Aber es wird auch bedeuten müssen, dass meines Erachtens Friedenspolitik darin bestehen muss, so etwas wie eine Form gerechten, friedlichen Lebens überhaupt zu schaffen, und jetzt erleben wir, dass diese Form gerechten Friedens, die durchaus auch bedeutete, von der Idee, der alten augustinischen Idee des gerechten Krieges Abstand zu nehmen zum Stück, dass sie eigentlich durchaus im schlimmsten Falle bedeuten kann den Einsatz von Waffen zum Zwecke der Nothilfe und den Einsatz für diejenigen, die ansonsten ihr Leben verlieren.
    Köhler: Die Frage nach dem gerechten Frieden - Albrecht von Lucke, Jurist, Politikwissenschaftler, Redakteur der Blätter für deutsche und internationale Politik war das.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.