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Gewalt und Proteste
Rückschlag für Äthiopiens Reformprozess

Die jüngsten Gewaltausbrüche in Äthiopiens Hauptstadt Addis Abeba drohen, die angestrebten Reformen des neuen Premierministers Abiy Ahmed wieder zu blockieren. Mit dem einstigen Erzfeind Eritrea hat er Frieden geschaffen. Doch im eigenen Land scheint der Frieden bedroht.

Von Linda Staude | 22.09.2018
    Auf dem zentralen Meskel Square in Äthiopiens Hauptstadt Addis Abeba protestieren Menschen gegen eine Welle der Gewalt gegen Minderheiten, die 23 Menschen das Leben kostete
    Auf dem zentralen Meskel Square in Äthiopiens Hauptstadt Addis Abeba protestierten Menschen gegen eine Welle der Gewalt gegen Minderheiten, die 23 Menschen das Leben kostete (AFP/ Maheder HAILESELASSIE TADESE)
    Tausende Demonstranten ziehen durch die Straßen von Addis Abeba. Sie blockieren Straßen, schließen Geschäfte, legen die Straßenbahn lahm. Für Stunden geht nichts mehr in Äthiopiens Hauptstadt. Wir fordern Gerechtigkeit, skandieren einige wütend. Andere fordern Schutz vor Gewalt von den Sicherheitskräften. Wie Demonstrant Zewdu Tinae:

    "Die Regierung sagt uns ständig: Lasst uns zusammenkommen. Aber wir werden auseinandergerissen, weil bei uns Recht und Gesetze nichts gelten."
    Gewalt gegen Minderheiten
    Anlass für die Massenproteste am vergangenen Montag war eine Welle der Gewalt am Wochenende davor, die 23 Menschen das Leben gekostet hat. Gezielte Gewalt gegen ethnische Minderheiten, wettert Demonstrantin Bizuayehu Getahun:

    "Angehörige der Volksgruppen der Gamo und der Amhara werden getötet und in die Wälder geworfen. Wir brauchen Frieden und Gerechtigkeit. Sie vergewaltigen unsere Schwestern."

    Sie, das sollen militante Jugendliche der Oromo-Volksgruppe gewesen sein. Anhänger der Oromo-Befreiungsfront OLF, die jahrelang als Terrororganisation geächtet war. Ihre Anführer kehrten am vergangenen Samstag aus dem Exil zurück. OLF-Chef Dawud Ibsa auf seiner Triumph-Kundgebung:

    "In dieser Welt kämpfen Wahrheit und Lüge miteinander, Gut und Böse, Liebe und Hass, Freiheit und Sklaverei, Gleichheit und Ungleichheit. Aber am Ende werden Wahrheit, das Gute, Liebe Freiheit und Gleichheit siegreich sein."
    Frieden mit Eritrea
    Das Friedensangebot an die OLF gehörte zu den Reformen, mit denen der äthiopische Premierminister, selbst Oromo, seinem Land Frieden und Stabilität zurückgeben will. Seinen größten Erfolg hat Abiy Ahmed in der Außenpolitik erzielt: Das Ende des Krieges mit dem Nachbarland Eritrea.

    UN-Generalsekretär Antonio Guterres lobte enthusiastisch:

    "Die Unterzeichnung des Friedensvertrages ist in der Tat ein historisches Ereignis. Wir haben gesehen, wie ein jahrzehntealter Konflikt geendet hat. Und in einer Welt, in der sich Konflikte unglücklicherweise vervielfältigen und viele ewig anhalten, hat das eine große Bedeutung."

    Zuvor hatten die beiden Regierungschefs persönlich die Grenze zwischen ihren Ländern wieder eröffnet und das äthiopische Neujahrsfest gemeinsam mit den Grenztruppen gefeiert. Abiy Ahmed:

    "Unsere Streitkräfte werden sich ab heute von der Grenze zurückziehen und die angespannte Kriegssituation dort deeskalieren. Sie werden in ihre Camps zurückkehren, sich erholen und trainieren. Das Gleiche wird auch auf der eritreischen Seite geschehen."
    Der Ministerpräsident vom Äthiopien, Abiy Ahmed, und der Präsident von Eritrea, Isaias Afwerki, feiern die Wiedereröffnung der Botschaft von Eritrea in Addis Abeba.
    Der Premierminister vom Äthiopien, Abiy Ahmed, und der Präsident von Eritrea, Isaias Afwerki, feiern die Wiedereröffnung der Botschaft von Eritrea in Addis Abeba (AFP / MICHAEL TEWELDE)
    Erster Direktflug seit Jahrzehnten
    Eritrea hat seine Häfen für äthiopische Schiffe geöffnet, die Telefonverbindungen zwischen beiden Ländern sind wieder offen. Und der erste Direktflug von Addis Abeba in die eritreische Hauptstadt glich einem Volksfest.

    Frauen in traditionellen Gewändern schwenken Palmzweige und begrüßen die ersten Besucher aus Äthiopien vor dem Flughafen in Asmara mit schrillen Trillern. In der singenden Menge gibt es Tränen, als lange getrennte Familienmitglieder sich um den Hals fallen. Passagier Abraham Tilahun:

    "Es waren 22 Jahre. Wegen der Kämpfe zwischen Äthiopien und Eritrea hatten wir nicht einmal eine Adresse, um mit unseren Familien zu kommunizieren. Aber jetzt nach dem Friedensschluss sind wir hergekommen."
    Passagiere des ersten Linienflugs zwischen Addis Abeba und Asmara seit mehr als 20 Jahren
    Passagiere des ersten Linienflugs zwischen Addis Abeba und Asmara seit mehr als 20 Jahren (AFP / Maheder HAILESELASSIE TADESE)
    Haftentlassung von Oppositionellen
    Abiy Ahmeds innenpolitische Reformen waren ähnlich sensationell. Nach seinem Amtsantritt im April hatte er den Ausnahmezustand in Äthiopien beendet und hunderte Oppositionelle aus der Haft entlassen. Darunter den Journalisten Eskinder Nega:

    "Niemand hätte erwartet, dass sich unsere Nation in so kurzer Zeit so stark verändern würde. Ich habe von diesem Prozess selbst profitiert, weil ich im Gefängnis war. Noch vor sechs Monaten hätte ich nie gedacht, dass ich heute hier draußen sein würde."
    Internet abgeschaltet
    Die jüngsten Gewaltausbrüche drohen allerdings, alle Reformen wieder zunichte zu machen. Blutige Konflikte zwischen verfeindeten Volksgruppen haben mittlerweile 2,8 Millionen Menschen zu Flüchtlingen im eigenen Land gemacht – allen Friedensappellen des Premierministers zum Trotz. Eskinder Nega warnt ohnehin vor zu großen Hoffnungen:

    "Das ist keine neue Regierung, das ist das falsche Wort. Es ist die alte Regierung unter neuer Führung."

    Die Reaktion auf die Massenproteste in Addis Abeba waren jedenfalls altbekannt: Das Internet wurde tagelang abgeschaltet. Die Polizei setzte Tränengas gegen die Demonstranten ein und hat mindestens fünf Menschen erschossen.