Struck: Guten Tag, Herr Probst.
Probst: Ein Mediengipfel, ein Umdenken bei Gewaltdarstellungen im Fernsehen, ein erweiterter runder Tisch - würden Sie als Erziehungswissenschaftler sagen, das ist der richtige Ansatz für Folgerungen aus der Bluttat von Erfurt? Oder vielleicht sogar der vorrangige?
Struck: Einerseits ist das natürlich sehr öffentlichkeitswirksam, weil dann auch zum Ausdruck gebracht wird, dass man bereit ist, etwas gegen Gewalt zu tun. Andererseits ist es natürlich richtig, wenn man das häufige Senden von schlimmer Gewalt reduziert, obwohl Jugendliche sehr unterschiedlich darauf reagieren. Das Problem liegt aber nicht nur im fiktiven oder virtuellen Gewaltbereich von Computerspielen oder Spielfilmen, sondern auch in der wirklichen Gewalt dieser Welt, wie sie eben auch ganz oft über Nachrichtensendungen vermittelt wird. Aber auch da wissen wir, dass immer dann, wenn ein junger Mensch weiß, was der Hintergrund ist, wenn er das aus kritischer Distanz bewerten kann, wenn er älter, intelligent ist, wenn er gesund ist, das gar keine schlimmen Folgen hat. Aber wenn ein junger Mensch sich als Versager nach einem niederlagenreichen Leben fühlt und auf der Suche nach einem Ventil unbewusst ist, dann kann natürlich auch passieren, dass die Hemmschwellen, auch die Tötungshemmung, heruntergesetzt werden und dass dann, zum Beispiel über Videospiele oder eventuell auch über Schützenvereine eintrainiert wird, etwas leichter in Sachen Gewalt - um sich zu wehren, um Frust rauszulassen - einzusetzen.
Probst: Gewalt also nicht als Ursache sondern Ventil, egal ob nun virtuelle Gewalt oder die real existierende?
Struck: An Gewalt kann man sich tatsächlich gewöhnen, vor allem auch dann, wenn man sie selbst ständig in der Familie oder im Schulbus erfährt. Es hat schon was mit Modelllernen, auch mit Nachleben zu tun, aber es ist ja so, dass mindestens 20 Faktoren des Lebens zusammenkommen müssen, damit dann am Ende wirklich etwas Schreckliches an eigener Tat herauskommt. Eine Ursache alleine genügt nie.
Probst: Werden mit dem, was Sie da sagen, nicht auch andere Defizite auf verschiedenen Ebenen angesprochen, die im gesellschaftlichen Leben vom Elternhaus, bei Kleinkindern angefangen, wenn es um die Erlernung von Normen, Verhaltensweisen geht, die man halt im Zusammenleben braucht?
Struck: Ja, das ist so. Wir leben nunmal in einer demokratischen Gesellschaft voller Wertevielfalt und Meinungsvielfalt. Schon für kleine Kinder ist es damit sehr schwer, ein stimmiges Weltbild zu finden, also sich zu orientieren. Und in dem Maße, wie wir Kindern nicht dabei helfen, Verhaltensalternativen zu haben in dem Maße, wie sie nicht zustimmen können, wenn wir sie erzieherisch führen, wenn wir ihnen also etwas verbieten oder etwas von ihnen fordern, dann neigen sie dazu, weil sie nicht gelernt haben, wie man angemessen auf ein Problem zugehen kann, auszuweichen und für dieses Ausweichen bietet sich dann entweder Gewalt oder Sucht oder Krankheit oder auch Angst an.
Probst: Nun hatten wir ja gerade zwei Untersuchungen über Defizite im Bildungs- oder Erziehungswesen in Deutschland. Da ging es um Fähigkeiten, Problemerkennung, Defizite, die da bestehen. Dann könnte man natürlich auch fragen, ob es nicht mehr wieder um konservative Wertbegriffe, um die Vermittlung von Werten oder Tugenden gehen müsste.
Struck: Natürlich hat tatsächlich, auch wenn man es nicht glaubt, die PISA-Studie irgendwas mit diesen Vorfällen zu tun. Zentral muss man erst mal sagen in einer Demokratie kann man Werte nicht von oben herab verordnen weil wir eben kein hochautoritärer oder totalitärer Staat sind sondern Werteerziehung heute kann nur heißen - und sie muss stattfinden - dass man jungen Menschen hilft, selbst angemessene Werteentscheidungen treffen zu können und das können sie nur wenn sie in einer irgendwie stimmigen Bilanz sind. Nach PISA ist ja gefordert worden: wir brauchen eine erhöhte Leistungskultur, was man etwas platt ja auch so nennen könnte: mehr Leistungsdruck und vielleicht auch -angst, damit man aus Angst lernt. Jetzt, mit diesen Ereignissen in Erfurt, sagen wir: na gut, wir müssen auch dafür sorgen, dass junge Menschen entlastet werden, dass wir rechtzeitig erkennen, wo sie Probleme haben, dass wir gegenläufig organisieren, dass ihre Sinne in einem Gleichgewicht sind. Das hat man sehr böse nach PISA auch Kuschelpädagogik genannt. So schlägt leider das Pendel immer von der einen Richtung in die andere. Wir neigen in Deutschland dazu, immer in Extremen zu fragen: wollen wir dies oder das. Da findet aber übrigens nie die richtige Antwort sondern die richtige Antwort ist immer in der Mitte. Natürlich müssen wir Kinder fordern, das wollen sie auch, sie wollen auch etwas leisten, so werden sie schon geboren. Aber wir müssen auch dafür sorgen dass sie entlastet sind, dass sie Muße haben, dass man ihnen zuhört, dass man mit ihnen redet, dass man begründet und so weiter.
Probst: Auch ein Problem zwischen den Generationen, wie es in dem offenen Brief der Eltern des Täters ja auch zum Ausdruck gekommen ist und der Bundespräsident es ja eben angesprochen hat, 'sich kümmern'?
Struck: Wir haben immer Phasen gehabt, wo Generationen sich sehr aufeinander zubewegten, kaum unterscheidbar waren, das war in den 70erjahren des letzten Jahrhunderts so. Dann haben wir Phasen gehabt, wo sich das sehr stark auseinanderentwickelte, heute ist das so. Das hat auch was mit Medien zu tun. Heute lassen Jugendliche schwer in sich hineingucken, insbesondere wenn sie zurückhaltend-verschlossen sind, wie im Falle dieses Täters. Heute versuchen Jugendliche eine eigenen Jugendkultszenerie aufzubauen unabhängig von Kindern und Erwachsenen und in dem Maße wie Kinder und Erwachsene versuchen, den Jugendlichen in ihre Nischen zu folgen, sind Jugendliche auch gezwungen, in immer abartigere Nischen auszuweichen, weil sie etwas eigenes brauchen. Da liegt schon ein Problem und es hat was mit keine Zeit haben und mit zu viel Über- und Unterforderungen zugleich zu tun. Wir müssen vieles wiederentdecken, damit die Grundbedürfnisse des jungen Menschen auch in der Mitte dosiert zu ihrem Recht kommen.
Probst: Herr Struck, ich danke Ihnen. Peter Struck, Professor für Erziehungswissenschaften an der Universität Hamburg war das.
Probst: Ein Mediengipfel, ein Umdenken bei Gewaltdarstellungen im Fernsehen, ein erweiterter runder Tisch - würden Sie als Erziehungswissenschaftler sagen, das ist der richtige Ansatz für Folgerungen aus der Bluttat von Erfurt? Oder vielleicht sogar der vorrangige?
Struck: Einerseits ist das natürlich sehr öffentlichkeitswirksam, weil dann auch zum Ausdruck gebracht wird, dass man bereit ist, etwas gegen Gewalt zu tun. Andererseits ist es natürlich richtig, wenn man das häufige Senden von schlimmer Gewalt reduziert, obwohl Jugendliche sehr unterschiedlich darauf reagieren. Das Problem liegt aber nicht nur im fiktiven oder virtuellen Gewaltbereich von Computerspielen oder Spielfilmen, sondern auch in der wirklichen Gewalt dieser Welt, wie sie eben auch ganz oft über Nachrichtensendungen vermittelt wird. Aber auch da wissen wir, dass immer dann, wenn ein junger Mensch weiß, was der Hintergrund ist, wenn er das aus kritischer Distanz bewerten kann, wenn er älter, intelligent ist, wenn er gesund ist, das gar keine schlimmen Folgen hat. Aber wenn ein junger Mensch sich als Versager nach einem niederlagenreichen Leben fühlt und auf der Suche nach einem Ventil unbewusst ist, dann kann natürlich auch passieren, dass die Hemmschwellen, auch die Tötungshemmung, heruntergesetzt werden und dass dann, zum Beispiel über Videospiele oder eventuell auch über Schützenvereine eintrainiert wird, etwas leichter in Sachen Gewalt - um sich zu wehren, um Frust rauszulassen - einzusetzen.
Probst: Gewalt also nicht als Ursache sondern Ventil, egal ob nun virtuelle Gewalt oder die real existierende?
Struck: An Gewalt kann man sich tatsächlich gewöhnen, vor allem auch dann, wenn man sie selbst ständig in der Familie oder im Schulbus erfährt. Es hat schon was mit Modelllernen, auch mit Nachleben zu tun, aber es ist ja so, dass mindestens 20 Faktoren des Lebens zusammenkommen müssen, damit dann am Ende wirklich etwas Schreckliches an eigener Tat herauskommt. Eine Ursache alleine genügt nie.
Probst: Werden mit dem, was Sie da sagen, nicht auch andere Defizite auf verschiedenen Ebenen angesprochen, die im gesellschaftlichen Leben vom Elternhaus, bei Kleinkindern angefangen, wenn es um die Erlernung von Normen, Verhaltensweisen geht, die man halt im Zusammenleben braucht?
Struck: Ja, das ist so. Wir leben nunmal in einer demokratischen Gesellschaft voller Wertevielfalt und Meinungsvielfalt. Schon für kleine Kinder ist es damit sehr schwer, ein stimmiges Weltbild zu finden, also sich zu orientieren. Und in dem Maße, wie wir Kindern nicht dabei helfen, Verhaltensalternativen zu haben in dem Maße, wie sie nicht zustimmen können, wenn wir sie erzieherisch führen, wenn wir ihnen also etwas verbieten oder etwas von ihnen fordern, dann neigen sie dazu, weil sie nicht gelernt haben, wie man angemessen auf ein Problem zugehen kann, auszuweichen und für dieses Ausweichen bietet sich dann entweder Gewalt oder Sucht oder Krankheit oder auch Angst an.
Probst: Nun hatten wir ja gerade zwei Untersuchungen über Defizite im Bildungs- oder Erziehungswesen in Deutschland. Da ging es um Fähigkeiten, Problemerkennung, Defizite, die da bestehen. Dann könnte man natürlich auch fragen, ob es nicht mehr wieder um konservative Wertbegriffe, um die Vermittlung von Werten oder Tugenden gehen müsste.
Struck: Natürlich hat tatsächlich, auch wenn man es nicht glaubt, die PISA-Studie irgendwas mit diesen Vorfällen zu tun. Zentral muss man erst mal sagen in einer Demokratie kann man Werte nicht von oben herab verordnen weil wir eben kein hochautoritärer oder totalitärer Staat sind sondern Werteerziehung heute kann nur heißen - und sie muss stattfinden - dass man jungen Menschen hilft, selbst angemessene Werteentscheidungen treffen zu können und das können sie nur wenn sie in einer irgendwie stimmigen Bilanz sind. Nach PISA ist ja gefordert worden: wir brauchen eine erhöhte Leistungskultur, was man etwas platt ja auch so nennen könnte: mehr Leistungsdruck und vielleicht auch -angst, damit man aus Angst lernt. Jetzt, mit diesen Ereignissen in Erfurt, sagen wir: na gut, wir müssen auch dafür sorgen, dass junge Menschen entlastet werden, dass wir rechtzeitig erkennen, wo sie Probleme haben, dass wir gegenläufig organisieren, dass ihre Sinne in einem Gleichgewicht sind. Das hat man sehr böse nach PISA auch Kuschelpädagogik genannt. So schlägt leider das Pendel immer von der einen Richtung in die andere. Wir neigen in Deutschland dazu, immer in Extremen zu fragen: wollen wir dies oder das. Da findet aber übrigens nie die richtige Antwort sondern die richtige Antwort ist immer in der Mitte. Natürlich müssen wir Kinder fordern, das wollen sie auch, sie wollen auch etwas leisten, so werden sie schon geboren. Aber wir müssen auch dafür sorgen dass sie entlastet sind, dass sie Muße haben, dass man ihnen zuhört, dass man mit ihnen redet, dass man begründet und so weiter.
Probst: Auch ein Problem zwischen den Generationen, wie es in dem offenen Brief der Eltern des Täters ja auch zum Ausdruck gekommen ist und der Bundespräsident es ja eben angesprochen hat, 'sich kümmern'?
Struck: Wir haben immer Phasen gehabt, wo Generationen sich sehr aufeinander zubewegten, kaum unterscheidbar waren, das war in den 70erjahren des letzten Jahrhunderts so. Dann haben wir Phasen gehabt, wo sich das sehr stark auseinanderentwickelte, heute ist das so. Das hat auch was mit Medien zu tun. Heute lassen Jugendliche schwer in sich hineingucken, insbesondere wenn sie zurückhaltend-verschlossen sind, wie im Falle dieses Täters. Heute versuchen Jugendliche eine eigenen Jugendkultszenerie aufzubauen unabhängig von Kindern und Erwachsenen und in dem Maße wie Kinder und Erwachsene versuchen, den Jugendlichen in ihre Nischen zu folgen, sind Jugendliche auch gezwungen, in immer abartigere Nischen auszuweichen, weil sie etwas eigenes brauchen. Da liegt schon ein Problem und es hat was mit keine Zeit haben und mit zu viel Über- und Unterforderungen zugleich zu tun. Wir müssen vieles wiederentdecken, damit die Grundbedürfnisse des jungen Menschen auch in der Mitte dosiert zu ihrem Recht kommen.
Probst: Herr Struck, ich danke Ihnen. Peter Struck, Professor für Erziehungswissenschaften an der Universität Hamburg war das.