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Gewalt

Die These passt zu Weihnachten: Krieg und Gewalt nehmen ab, die Welt wird friedlicher. Davon jedenfalls ist der kanadische Evolutionspsychologe Steven Pinker überzeugt, und diese Ansicht möchte er dem Leser mit seinem 1216 Seiten langen Buch nahebringen.

Rezension: Dagmar Röhrlich | 18.12.2011
    Und so schlägt der Autor einen großen Bogen von Ötzi über Homer und das Alte Testament bis ins 21. Jahrhundert: Im Lauf der Jahrtausende habe die Entwicklung und Fortentwicklung staatlicher Macht dafür gesorgt, dass die Menschen sich nicht mehr gegenseitig an die Gurgel gehen. Damit folgt Steven Pinker ganz den Argumenten des Philosophen Thomas Hobbes: Die Monopolisierung der Gewalt in den Händen des Staats durchbricht den Zwang zur präventiven Gewaltanwendung der Jäger und Sammler, wie auch den durch die "Ehre" in Gang gesetzten Kreislauf sich hochschaukelnder Rachsucht.

    Außerdem orientiert sich Steven Pinker an Charles Darwin: Während bei den Jägern und Sammlern eine hohe Gewaltbereitschaft der Männer vorteilhaft für die Weitergabe der eigenen Gene gewesen sei, habe die Monogamie die Spielregeln geändert und - so Pinker - die Männer zivilisiert. Überhaupt: Die Zivilisation ließ die Gewalt zurückgehen. Je mehr sich der Mensch selbst kontrolliert, desto friedlicher das Zusammenleben - ganz nach der Lehre des Soziologen Norbert Elias. Handel, Bildung und Erziehung: Sie brachten die Menschen dazu, ihre empathischen Fähigkeiten zu verbessern und daraus Vorteile für sich zu ziehen, denn Handel und Zusammenarbeit brachten mehr ein als Krieg und Mord. Und schließlich führte der Siegeszug der Vernunft während der abendländischen Aufklärung zu demokratischen Systemen - und die wiederum förderten und fördern den Frieden.

    Diese Argumentationskette füllt mehr als die Hälfte des Buches. Dann folgen zahlreiche psychologische Experimente und neurowissenschaftliche Untersuchungen, mit denen Pinker der Frage nachgeht, was eigentlich den Menschen zu Habgier treibt, zu Wollust, Dominanz, Rache oder Sadismus. Insgesamt stellt Pinker fest, dass die Menschheit seit 65 Jahren in einer der friedlichsten Epochen der Weltgeschichte lebt: Auch wenn die Nachrichten einen gegenteiligen Eindruck vermitteln, die Vergangenheit war um einiges schlimmer, wie beispielsweise mittelalterliche Folterkammern und Hinrichtungspraktiken beweisen.

    Seine Hypothese belegt Pinker mit umfangreichen Statistiken, wobei die Datenlage - je weiter er zurück blickt - auf durchaus tönernen Füßen steht. An diesen Statistiken kann man sich hervorragend reiben. Zwar vermerkt Pinker, dass viele seiner Zahlen unzuverlässig sind, aber dann rechnet er trotzdem mit ihnen weiter und zieht seine Schlüsse daraus, als seien sie amtlich beglaubigt. So sind diese Zahlenspiele in etlichen Fällen eher schmückendes Beiwerk denn echter Beleg dafür, dass der Mensch Egoismus, Sadismus und Stolz bekämpft hat und seit dem Zeitalter der Aufklärung "besser" geworden ist - allen Katastrophen zum Trotz. Allerdings bereitet es Probleme, dem Autor zu folgen, wenn er beispielsweise - rein statistisch betrachtet wohlgemerkt - die Ermordung von Millionen Juden im Dritten Reich nicht einmal mehr unter die Top-20 der schrecklichsten Gewalttaten der Menschheit einordnet. Und der Zweite Weltkrieg landet auf der "ewigen Rangliste" der grausamsten Katastrophen nur auf Platz 9, während die mongolischen Eroberungen den 2. und der Sklavenhandel den 3. Platz einnehmen.

    Dahinter steckt folgender Ansatz: Er nimmt beispielsweise die Zahlenangaben von Chronisten über die Gewaltopfer bei den Eroberungszügen Dschingis Khans und multipliziert sie mit dem Faktor, um den die Weltbevölkerung heute größer ist als damals. So sollen die Auswirkungen von Gewalt und Terror quer durch die Geschichte miteinander vergleichbar gemacht werden.

    Auch wenn die Rangfolge sicherlich diskutiert werden kann, in einem könnte Steven Pinker recht haben: Unter dem Nazi-Regime zum Beispiel geschahen viele der unvorstellbaren Grausamkeiten des Holocaust mehr oder weniger verborgen (unabhängig von der Debatte, wer wieviel hätte wissen können oder nicht): Was aber an Unmenschlichkeiten im Römischen Reich, im Mittelalter oder zu Zeiten von Reformationen und Gegenreformation ablief, geschah vor den Augen der Öffentlichkeit und sehr zu deren Gefallen und Amüsement. Wie sehr sich in den vergangenen Jahrhunderten in Europa und Nordamerika - und diese Sicht ist es, die der Autor vertritt - die Einstellung zur alltäglichen Gewalt gewandelt hat, offenbaren die Krisenzonen, wo ein Leben immer noch nicht viel gilt. Und so erklärt Steven Pinker denn auch, dass dort, wo heute noch Terror und nackte Gewalt herrschten, das Mittelalter noch nicht vorüber sei: Die afrikanischen "Warlords" beispielsweise gebärdeten sich wie blutrünstige Ritter, raubten, vergewaltigten, mordeten und folterten - und zwar weil die starke Hand eines Staates fehle.

    Und die Zukunft? Für Pinker ist sie friedlich: Immer mehr Staaten werden Kriege für veraltet und überflüssig erklären - wobei Gewalt immer wieder aufflackern kann, so sein Fazit, mit dem er "Auf Engelsflügeln" in die Zukunft schwebt. Ob der Leser ihm angesichts der weltpolitischen Lage folgen mag, steht auf einem anderen Blatt. Auf jeden Fall lohnt es sich, darüber nachzudenken und dieses Buch zu lesen - obwohl es etwas ausufernd geschrieben ist. Manchmal scheint es, als wollte Pinker den Leser durch den Reichtum seiner Ausführungen regelrecht überreden, seine Ansicht zu übernehmen.

    Steven Pinker: Gewalt. Eine neue Geschichte der Menschheit
    ISBN: 978-3-100-61604-3
    Fischer Verlag, 1216 Seiten, 26 Euro