Freitag, 19. April 2024

Archiv


Gewaltspirale in Dagestan

Der Nordkaukasus kommt nicht zur Ruhe. Besonders in der russischen Teilrepublik Dagestan gehen regelmäßig Bomben hoch. Anfang Mai starben mindestens dreizehn Menschen bei einem Doppelanschlag auf einen Polizeiposten, mehr als 100 wurden verletzt. Die Gewalt der Terroristen richtet sich vor allem gegen Polizisten, aber auch gegen andere Behördenvertreter. Am Wochenende wurde der stellvertretende Sportminister erschossen.

Von Gesine Dornblüth | 05.06.2012
    Der Staat reagiert mit sogenannten Antiterroroperationen. Ins Visier der Spezialeinheiten geraten offenbar auch Unschuldige, die nach der Festnahme spurlos verschwinden.

    Der Bräutigam sieht schmächtig aus. Gemeinsam mit seiner verschleierten Braut schaut er, die Krawatte leicht gelockert, schüchtern in die Kamera. Ein junger Mann von 26 Jahren. Er heißt Raschid. Das Foto ist ein Jahr alt. Seine Mutter, Zhanna Izmailowa, trägt es immer bei sich. Raschid ist Anfang Mai verschwunden, gekidnappt am helllichten Tag, vor den Augen der Nachbarn, mitten in einem Wohnviertel in Machatschkala, der Hauptstadt der russischen Teilrepublik Dagestan.

    "Es war morgens um halb elf. Mein Sohn war auf dem Weg zur Arbeit und gerade aus dem Haus gegangen. Auf einmal sah er, dass Autos vorfahren und Männer in schwarzen Masken aussteigen. Er hat wohl gespürt, dass sie es auf ihn abgesehen haben, und wollte zurück ins Haus laufen. Da eröffneten die Männer das Feuer, er stürzte. Meine Schwiegertochter hat noch gesehen, wie sie ihn in das Auto zerrten.
    Die beiden haben ein kleines Kind. Es war 15 Tage alt, als Raschid verschwand."

    Raschid verschwand bei einem der berüchtigten Antiterroreinsätze, die fast täglich in Dagestan stattfinden. Sie wisse nicht, warum es ihren Sohn getroffen habe, sagt Zhanna Izmailowa.

    "Mein Sohn hat nie etwas Verbotenes getan. Er hatte nie Probleme mit der Polizei. Er war ein häuslicher Junge. Als seine Frau schwanger war, war er ständig um sie. Er hatte gar keine Zeit, irgendwelche krummen Dinger zu drehen."

    In der Nordkaukasusrepublik kämpfen islamistische Gruppierungen gegeneinander und gegen den Staat. Seit Beginn des Jahres starben mehr als 80 Menschen bei Terroranschlägen. Die Behörden sind unter Druck, suchen nach den Tätern – und die Elitekämpfer und Geheimdienstler verhaften dabei offenbar auch Unschuldige, sagen Menschenrechtler. Seit Anfang des Jahres wurden 20 Menschen als verschwunden gemeldet. Die Hälfte davon im Mai. Oft berichteten Augenzeugen, die Kidnapper hätten Uniformen getragen. Die Behörden weisen die Vorwürfe zurück. Zhanna Izmailowa war beim Staatsanwalt, beim Menschenrechtsbeauftragten, nahm sich sogar einen Anwalt, um ihren Sohn zu finden. Ohne Ergebnis. Die Behörden sagen, sie wüssten nicht, wo Raschid sei. Izmailowa ist verzweifelt.

    "Wenn er sich etwas hat zu Schulden kommen lassen – warum haben sie dann keinen Haftbefehl vorgelegt?
    Ich habe dem Staatsanwalt gesagt: Wenn etwas gegen ihn vorliegt, bringen Sie den Jungen vor Gericht. Aber stattdessen kidnappen sie die Leute, foltern sie und behaupten dann, es seien Terroristen."

    Die Menschenrechtsorganisation Memorial spricht sogar von Staatsterror. Memorial setzt sich für einen Dialog zwischen den verfeindeten Gruppen in Dagestan ein. Mit einigem Erfolg. In den letzten Monaten gingen die Behörden auf die gemäßigten Islamisten zu. In der Folge rief der Mufti von Dagestan alle Muslime zur gegenseitigen Toleranz auf. Ein bis dahin nicht da gewesener Schritt, der vielen Menschen Hoffnung machte. Doch offenbar wollten beide Seiten, islamistische Untergrundkämpfer und Sicherheitskräfte, den Friedensprozess behindern, meint Oleg Orlow von der Menschenrechtsorganisation Memorial.

    "Es ist klar, warum die Untergrundkämpfer das tun. Ihre brutalen Terroranschläge spitzen die Situation zu. Aber auch die Staatsvertreter stören den Friedensprozess mit ihren gesetzeswidrigen Handlungen."

    Orlow warnt vor einem Bürgerkrieg in Dagestan. Zhanna Izmailowa, die Mutter des verschwundenen Raschid, will jedenfalls für ihren Sohn kämpfen.

    "Ich werde nicht schweigen. Ich werde alle Hebel in Bewegung setzen, um ihn zu finden. Und ich werde die Mütter mobilisieren aus ganz Dagestan, aus ganz Russland. Die zwingen die Leute doch in den Widerstand mit dieser Gesetzlosigkeit und Willkür."