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Gewalttat in Idar-Oberstein
Warum die Maskenpflicht kein Mordmotiv ist

Ein Mann soll einen 20-jährigen Tankstellenmitarbeiter in Idar-Oberstein erschossen haben. Für viele Medien ist der Fall klar: "Mordmotiv Maskenpflicht". Damit übernehmen sie undifferenziert das Narrativ des mutmaßlichen Täters - obwohl noch vieles offen ist.

Von Annika Schneider | 21.09.2021
Polizisten sichern eine Tankstelle. Ein Angestellter der Tankstelle ist in Idar-Oberstein in Rheinland-Pfalz von einem mit einer Pistole bewaffneten Mann erschossen worden. Die beiden Männer waren am Samstagabend (18.9.) in Streit geraten, wie die Polizei mitteilte. Anschließend flüchtete der Täter zu Fuß.
Warum ein 20-jähriger Kassierer erschossen wurde, muss noch ermittelt werden (picture alliance/dpa/Foto Hosser/Christian Schulz)
Der mutmaßliche Mord in Idar-Oberstein ist bundesweit Thema: Ein 49-Jähriger soll dort einen 20-jährigen Verkäufer in einer Tankstelle erschossen haben. Die Polizei habe im Haus des mutmaßlichen Täters mehrere Waffen und Munition gefunden, obwohl er keine entsprechende Erlaubnis gehabt habe, heißt es bei der Staatsanwaltschaft, die nun zum Tathergang und Motiv ermittelt – wie bei einem Verbrechen üblich.

Twitter-Community sieht Verbindung zu "Querdenken"

Die öffentliche Debatte ist da schon einen Schritt weiter. "Tankstellen-Kassierer nach Streit über Maskenpflicht erschossen", titelte etwa der SWR (der die Überschrift später änderte). Expliziter formulierte die Bild-Zeitung: "Weil er keine Maske tragen wollte: Corona-Kritiker richtet Tankwart hin", hieß es auf der Titelseite. Auf Twitter trendeten nach der Tat die Hashtags #querdenkentoetet und #QuerdenkerSindTerroristen.
33D-Modell des Coronavirus SARS-CoV2
Diese Interpretation basiert darauf, dass der Verkäufer den mutmaßlichen Mörder zweimal auf die Maskenpflicht hingewiesen haben soll. Außerdem hatte der Tatverdächtige, der den Mord gestanden hat, ausgesagt, dass er die Corona-Maßnahmen ablehne. Die Situation der Corona-Pandemie belaste ihn stark und er habe "keinen anderen Ausweg gesehen", als ein Zeichen zu setzen. So zitiert die dpa den zuständigen Oberstaatsanwalt.
Viele Medien berichten darüber, schließlich ist die Aussage des Täters zum Tatmotiv relevant. Eine differenzierte Einordnung findet in den meisten Fällen aber nicht statt, obwohl es sich um eine rein subjektive Schilderung aus Sicht des mutmaßlichen Mörders handelt. "So adelt und beglaubigt undifferenzierte Berichterstattung die Motivlegende des Tatverdächtigen - als wäre die Pflicht, in gewissen Situationen einen Mund-Nasen-Schutz zu tragen, so gravierend, dass sie als ernstzunehmendes Motiv dienen könnte, einen Menschen umzubringen", kritisiert Bettina Schmieding, Redakteurin der Dlf-Mediensendung @mediasres.

Gab es persönliche Motive?

Noch sind viele Fragen offen: War der Streit um die Maske tatsächlich der zentrale Auslöser für die Tat oder hätte ein anderer Konflikt ebenfalls zu dem Gewaltverbrechen geführt? Welche Inhalte hat der mutmaßliche Mörder vor der Tat konsumiert, welche Themen haben ihn beschäftigt? Stand der Mann in Verbindung mit der Initiative "Querdenken", die inzwischen in Teilen vom Verfassungsschutz beobachtet wird? Folgte die Tat auf eine politische Radikalisierung, gab es persönliche Motive?
Den dazu notwendigen Ermittlungen greift manche Berichterstattung vor, indem sie die Tat bereits in einen Deutungsrahmen einordnet, einen so genannten Frame. Dieser Frame findet sich nicht nur in der Medienberichterstattung und bei Menschen, die in sozialen Netzwerken ihr Entsetzen über die Tat zum Ausdruck bringen, sondern auch in rechtsradikalen Verschwörungskreisen. Wie der "Tagesspiegel" berichtet, begrüßen Rechtsradikale sowie Verschwörungsideologinnen und -ideologen die Tat "wahlweise als Notwehr, logischen Schritt oder Beginn eines langersehnten Befreiungskampfs gegen die angebliche 'Merkel-Diktatur'".

Framing adelt Täterperspektive

Medienberichterstattung, die das Framing vom "Mord wegen der Maskenpflicht" ohne Einordnung übernimmt, kann so von demokratiefeindlichen Gruppierungen als vermeintlicher Beleg für ihre eigene Interpretation des Falles missbraucht werden - und dazu beitragen, dass ein mutmaßlicher Mörder in radikalen Kreisen zum Helden stilisiert wird.
Es sei wichtig, Parallelen zwischen dem Narrativ des mutmaßlichen Täters und dem der "Querdenker" aufzuzeigen, ohne gleich zu suggerieren, dass es eine Verbindung gegeben habe, sagte die Journalistin Karolin Schwarz im Dlf. Sie ist Expertin für Rechtsextremismus und Desinformation im Netz.

Narrativ der "notwendigen Selbstverteidigung"

Man müsse nun die Ermittlungen abwarten, gerade auch die Auswertung der digitalen Geräte des mutmaßlichen Täters, betonte Schwarz: "Was man sagen kann, ist, dass in 'Querdenken'-Sphären im Netz dieses Narrativ der 'notwendigen Selbstverteidigung' gegen die Maßnahmen und eine vermeintliche Diktatur eine große Rolle spielt und sich das hier auch offenbar niederschlägt in der Begründung des mutmaßlichen Tätes."
Erwiesen ist ein direkter Zusammenhang zur "Querdenken"-Szene bislang nicht. Der zuständige Polizeipräsident in Trier sprach laut dpa von einer Tat, "die einen Zusammenhang zu Corona vermuten lässt".
Wie die dpa später berichtete, hieß es in Ermittlerkreisen, in den Theorien der Corona-Leugner sei der mutmaßliche Mörder "bewandert". Der Staatswaltschaft zufolge sei der 49-Jährige noch nie bei der Polizei aufgefallen, auch nicht als Teilnehmer etwa einer Pandemieleugner-Demonstration, heißt es im Agenturbericht.