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Gewinner und Verlierer

Im September 2012 bedeckte so wenig Meereis den Arktischen Ozean, wie nie zuvor - und der Trend setzt sich fort: US-amerikanische Forscher untersuchen zurzeit, welche Auswirkungen dieser Rückzug des Eises auf die Pflanzen und Tiere hat, die in den kalten Gewässern des hohen Nordens zu Hause sind.

Von Monika Seynsche |
    Tennisplatzgroße Eisschollen schwimmen auf dem Wasser. Ein rotangestrichener Eisbrecher zermalmt sie auf seinem Weg durch die Tschuktschensee nordwestlich von Alaska. Ein Anblick, den Monika Kedra von zahlreichen Besuchen kennt. Die Meeresbiologin der Universität von Maryland verbringt jeden Sommer mehrere Wochen an Bord des Eisbrechers, um die Gewässer nördlich und westlich von Alaska zu erforschen.

    "Die größten Veränderungen, die wir sehen, sind ein Anstieg der Wassertemperaturen sowie ein Rückgang der Meereisbedeckung besonders in der Tschuktschensee. In der nördlichen Beringsee, vor der Westküste Alaskas, dagegen sehen wir heute mehr Eis als in früheren Jahren. Und die Wasserströmungen haben sich verändert, sodass mehr Wasser aus dem Pazifik in die Region gelangt."

    All diese Veränderungen wirken sich auf die Lebewesen in der Bering- und Tschuktschensee aus. Und um die geht es der Forscherin.

    Auf dem Vorderdeck des Eisbrechers steht Monika Kedras Kollegin Jackie Grebmeier und beobachtet, wie zwei Seeleute mit einem Kran eine kleine Baggerschaufel ins Wasser lassen. Auf dem Meeresboden schließen sich die beiden Arme der Schaufel und bringen eine Ladung Schlamm zurück an Deck.

    Jackie Grebmeier leert sie in eine große Holzkiste mit einem Siebboden, nimmt einen Gartenschlauch und richtet den Wasserstrahl in das Sieb. Langsam löst sich der dunkelgraue Schlamm, sickert durch die Löcher und lässt seine Bewohner zurück. Die Forscherin deutet auf einige rosafarbene Tierchen, die aussehen wie Miniatur-Nordseekrabben.

    "Das hier sind Flohkrebse. Sie sind die Hauptnahrung von Grauwalen. Diese Krebse leben in senkrechten Röhren, die wie Strohhalme im Boden stecken, und kommen nur zum Fressen an die Oberfläche."

    Fünf kleine Flohkrebse versuchen hektisch, sich in den letzten Resten des Schlamms vor dem Wasserstrahl zu verstecken. Neben ihnen liegen einige braune Muscheln und ein paar Borstenwürmer. Das sei eine typische Ausbeute für diese Region, sagt Monika Kedra.

    "Zurzeit sind die Bering- und die Tschuktschensee noch benthosdominiert, das heißt, der größte Teil der Biomasse findet sich am Meeresboden. Hier suchen Walrosse, Grauwale und Vögel wie die Plüschkopfente ihre Nahrung. Je stärker sich aber das Meereis zurück zieht, desto geringer ist auch die Eisalgenproduktion. Dadurch sinkt weniger totes organisches Material zum Boden, die Meeresbodenbewohner finden weniger Nährstoffe und die auf die Würmer und Krebse angewiesenen großen Tiere haben das Nachsehen. Statt Grauwalen könnten wir also in Zukunft mehr Grönlandwale sehen, die ihr Futter nicht am Meeresboden, sondern im Wasser finden. Und auch Walrosse und einige Vögel werden möglicherweise hungern müssen, wenn die benthische Biomasse abnimmt."

    Drei Jahre lang hat Monika Kedra die Schlammbewohner der Bering- und Tschuktschensee untersucht.

    "Unsere Beobachtungen der vergangenen Jahre bestätigen den langfristigen Trend: Die Futterarten für die wichtigen Jäger des Ökosystems wie Grauwale oder Walrosse gehen immer dramatischer zurück. Gleichzeitig wandern verstärkt neue Arten aus dem Süden ein. Aber die heimischen Vögel und Grauwale können nichts mit ihnen anfangen."

    Profitieren könnten dagegen Grönlandwale von den Veränderungen im hohen Norden. Dan Pendleton vom New England Aquarium in Boston und seine Kollegen arbeiten zurzeit an einem Modell um die zukünftige Verbreitung der Tiere prognostizieren zu können.

    "Es gibt eine Reihe von Forschern, die vermuten, dass der Rückgang der Eisbedeckung eine stärkere Erwärmung des Wassers ermöglicht und zur Bildung einer Süßwasserlinse auf der Oberfläche führen könnte. Wenn dann noch Wind über das Wasser streicht, wäre eine Durchmischung der Wasserschichten die Folge, die womöglich stärkere oder früher im Jahr auftretende Zooplanktonblüten fördert. Und Grönlandwale fressen Zooplankton."

    In etwa einem Jahr wollen er und seine Kollegen ihr Modell in die Zukunft laufen lassen. Bis dahin wird der Bug des roten Eisbrechers noch viele Eisschollen zermalmen.