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Gewinner und Verlierer

Es wäre ein Leichtes, die im vergangenen Jahr begonnene Unterschichten-Debatte als pure mediale Aufgeregtheit abzutun. Ausgelöst wurde sie durch eine Interviewäußerung des SPD-Vorsitzenden und Rheinland-Pfälzischen Ministerpräsidenten Kurt Beck, der von "neuen Unterschichten" gesprochen hatte. Sofort aufgegriffen und skandalisiert von so vertrauten Medien wie der BILD-Zeitung oder RTL II, brach ein wahrhafter "Unterschichten-Tsunami" über das Land herein, wie es der Sozialwissenschaftler Jens König nannte.

Von Bernd Ulrich | 17.05.2007
    Der Wirkung nach schien es, als wäre mit dem Begriff "Unterschicht" ein "Unwort" ausgesprochen worden. Ein Wort und eine damit verbundene Wahrnehmung der Gesellschaft, die an die vergangen geglaubten Zeiten sozialer Gegensätze erinnerten, ja, an die längst für überwunden gehaltenen fünfziger Jahre, in denen Begriffe wie "Klasse" oder gar "Klassenkämpfe" zunächst häufig, dann freilich immer seltener benutzt wurden, bis sie im Zusammenhang der mit 1968 verbundenen Studentenrevolte in Westdeutschland eine kurzfristige und sehr akademische Renaissance erlebten. In der DDR schließlich schien das Ende aller Klassenkämpfe bereits gekommen. Doch die letztlich Polizeistaat gewordene Vision einer einheitlich formierten Arbeiter-und Bauerngesellschaft veranschaulichte, wohin die sich marxistisch wähnende angewandte Klassenanalyse führen konnte.

    In unserer gesamtdeutschen Gegenwart jedoch - und dies forcierte das medientaugliche Erschrecken über Becks "neue Unterschichten" noch - sind mittlerweile andere Begriffe zur eher verschämten Beschreibung sozialer und materieller Ungleichheit in Gebrauch. Von "kleinen und großen Leuten" ist da unverbindlich die Rede. Schon präziser spricht man vom "Niedrig- und Hochlohnsektor", abstrakter noch von der "Zweidrittel Gesellschaft". Sie ist seit den 1980er Jahren im allgemeinen Sprachgebrauch fest verankert und räumt immerhin die Existenz eines unteren Drittels von Menschen ein, die rettungslos abgehängt ihr Dasein fristen. Unübertroffen in der Verharmlosung sozialer Ungleichheit sind vor diesem Hintergrund die Politiker, wie etwa der Vorsitzende der CDU/CSU-Fraktion im Bundestag, Volker Kauder, der im Zweifelsfall von "Menschen mit sozialen und Integrationsproblemen" redet.

    Zunächst stärkte die teils Zustimmung, teils Empörung auslösende Debatte im Oktober vergangenen Jahres vor allem die Karrieren von Soziologen, die zunehmend als Interviewpartner gefragt waren. Wieder einmal hatte die Stunde der Umfragen geschlagen, die in Statistiken und den bekannten Torten-Grafiken ihren Niederschlag fanden. Mehr oder weniger authentische Fallgeschichten aus dem wirklichen Leben der "neuen Unterschichten", oft mit verächtlichem Unterton und garniert mit schockierenden Fotos von alkoholisierten Menschen in besudelten Trainingsanzügen, füllten die Spalten der Gazetten.

    Ebenso gut konnte die ganze Debatte allerdings auch als durchsichtiger Versuch gewertet werden, mit der Rede von der "Unterschicht" das Wahlvolk und seine politischen Vertreter aufzurütteln, die angesichts ihrer immerwährenden Last, der Pflicht zum Ausgleich in der Großen Koalition, müde geworden waren. Manch einer in der übriggebliebenen Linken wird sich indessen nur verwundert die Augen gerieben und konstatiert haben, dass sich vor dem Hintergrund anhaltender Massenarbeitslosigkeit die wieder aufscheinende "Fratze der kapitalistischen Klassengesellschaft" eben besonders krass zeige. Sollte man da nicht lieber gleich und konsequent wie ehedem von "Klassen" und im Falle der wiederentdeckten Unterschicht "von unteren Klassen" sprechen, die es zu befreien gilt? - Wenn es so einfach wäre. Werfen wir einen Blick zurück auf bundesrepublikanische und gesamtdeutsche Vergangenheiten.

    Der Begriff 'Unterschicht‘ wurde in der Soziologie verstärkt seit Ende der 1950er Jahre zur Erforschung des bundesdeutschen Gesellschaftsgefüges genutzt. Die mit einem Mix aus Einkommens-, Vermögens- und Berufskriterien arbeitende Schichtenanalyse setzte sich ausdrücklich von der marxistischen Klassenanalyse ab, was gewiss auch dem im Zeichen des Kalten Krieges geführten Kampf der Systeme geschuldet war. Zugleich gab es aber auch methodische Vorteile. Denn anders als die marxistische Klassenanalyse und deren nahezu ausschließlich auf die Produktionsmittel und deren Eigentum fokussierter Klassenbegriff, hielt das Schichtenkonzept an einer Vielzahl möglicher Ungleichheiten in der Gesellschaft fest, mochten sie ökonomisch oder sozial, rechtlich, ethnisch-religiös, geschlechter- oder generationsabhängig bestimmt sein.

    Doch im Zuge staatlicher Sozialpolitik und des von Ludwig Erhardt einst geforderten "Wohlstands für alle", kurz: im Kontext der sich entwickelnden sozialen Marktwirtschaft standen sich ohnehin nicht mehr "Unternehmer" und "Proletariermassen" gegenüber, sondern Industrieverbände und Gewerkschaften. Die angestrebte Tugend hieß: Sozialpartnerschaft statt Klassenkampf. Im hellen Zukunftslicht der sich bildenden "nivellierten Mittelstandsgesellschaft" blieben Klassen oder Schichten seltsam blass, aufgehoben im allmählich zunehmenden Konsum, in Deutschland überdies forciert durch das sogenannte Wirtschaftswunder. Noch Mitte der 1960er Jahre entsprach diese Entwicklung einem sozialen Aufbau der Gesellschaft, die von Soziologen in Form einer Zwiebel dargestellt wurde: ausladend in der Mitte, aber oben und unten schmal zulaufend.

    Die tradierte Klassengesellschaft hatte, so schien es, als Realität, auf jeden Fall aber als Beschreibungsmodell ausgedient. Seit den 1980er Jahren hatten soziale Lagen, Milieus und Lebensstile als Schlüsselbegriffe Konjunktur. Ebenso wie die "Risiko- oder Erlebnisgesellschaft" als Folie für die Analyse sozialer Entwicklungen (diente?), verkündeten sie vor allem eine Botschaft: Auch die in Bewegung gekommene Gesellschaft der Zukunft ist eine klassenlose Gesellschaft, in der sich im Zeichen der Informationsrevolution die berufliche und soziale Mobilität in eine Vielzahl von Lebensstilgruppen auffächert.

    Unverrückbar fest stand und steht dabei jedoch die durch Umfragen ermittelte Favoritenrolle der "Mittelschicht" als attraktive Großgruppe. Mitte der 1990er Jahre sahen sich in einer Untersuchung mehr als 60 Prozent der Befragten als Angehörige der durch Einkommen, Bildung und durch Moral- und Benimmvorstellungen definierten "Mittelschicht". Doch diese letzte Bastion bundesdeutschen Selbstverständnisses - als Ort politischer Mehrheiten und unverrückbarer Selbstbeschreibung schon von geradezu mythischer Qualität - beginnt zu bröckeln.

    Insbesondere die Erwerbsarbeit - gleichsam die Eintrittskarte für den jedenfalls tendenziellen Aufstieg in die Mittelschicht - ist mittlerweile zu einer mehr als brüchigen Angelegenheit geworden. Berufliche Kontinuität ist im Zeichen anhaltender wirtschaftlicher Krisen kaum noch zu haben und auch hart erworbene Bildungspatente wie das Abitur, universitäre Abschlüsse oder betriebliche Ausbildung sind längst keine Garanten mehr für lebenslange und existenzsichernde Arbeitsplätze. Selbst innerhalb des seit Mitte 2006 zu verzeichnenden wirtschaftlichen Aufschwungs und angesichts zurückgehender Arbeitslosigkeit können immer mehr Menschen mit einer Vollzeitbeschäftigung nicht von ihrem Gehalt allein leben und sind auf zusätzliche Leistungen durch das Arbeitslosengeld II angewiesen. Im August letzten Jahres betraf das über eine Million Erwerbstätige.

    Umso wichtiger war ein gut funktionierender Sozialstaat, der trotz aller Krisen gesellschaftlichen Zusammenhalt und soziale Sicherheit signalisierte und leistete. Der Glaube an ihn - ob als Planer, Koordinator, Förderer, Schiedsrichter, Versorger, Hüter und Wächter - war nicht allein in Deutschland, wie es der britische Historiker Tony Judt jüngst konzise zusammenfasste, "weit verbreitet und überbrückte fast alle politische Gräben". Manche entschiedene Gegner dieser 'überbordenden‘ staatlich alimentierten Wohlfahrt haben darin eine exzessive Fehlentwicklung der Sozialpolitik gesehen. Sie habe weder im Osten noch im Westen emanzipierte und selbständige Bürger hervorgebracht, sondern "vielmehr staatsabhängige Anspruchsteller", so nicht ganz unberechtigt der Soziologe Joseph Huber. Wie auch immer - der Wohlfahrtsstaat, der untrennbar mit der bundesdeutschen Geschichte verbunden ist und noch einmal in den Jahren der Wiedervereinigung seine Wirkung als staatlich gesteuerte Solidargemeinschaft zeigte, ist mittlerweile unwiderruflichen Veränderungen unterworfen.

    Kehren wir vor diesem Hintergrund nochmals zu Kurt Beck zurück. Denn diese hier nur skizzierte Entwicklung bildet gleichermaßen den Hintergrund für seine Rede von den "neuen Unterschichten" wie für die daraufhin laut werdende Empörung. Beck hatte sich nach der Lektüre einer Untersuchung von INFRATEST, beauftragt durch die SPD-nahe Friedrich-Ebert-Stiftung, offensichtlich dadurch zu seiner Aussage über Unterschichten motivieren lassen, dass hier soziale Ungleichheiten mit Werteeinstellungen verbunden und daraus wiederum "politische Typen" destilliert worden waren. Unter den gut 3000 Befragten war so ein gesamtgesellschaftlicher Typus ausgemacht worden, der sich an der unteren, durch Bildung und Besitz definierten sozialen Skala durch "geringe berufliche Mobilität und Aufstiegsorientierung" auszeichnete und irgendwie "abgehängt" erschien, fern von allen Möglichkeiten, in den Arbeitsprozess reintegriert zu werden.

    Vor allem die fehlende "Aufstiegsorientierung" wird Beck, der sich selbst aus kleinen Verhältnissen hochgearbeitet hat, und mit ihm viele Genossen umgetrieben haben. Denn wenn es ein Versprechen der bundesdeutschen Wohlfahrtsgesellschaft nach 1945 gegeben hat, dann lautet es: Soziale Mobilität. Damit ist in erster Linie die prinzipielle Durchlässigkeit gesellschaftlicher Schicht- oder Klassenverhältnisse gemeint, die es potentiell jedem erlaubt, sich empor zu arbeiten. Unterstützt von einem über die bloße Armutsverhinderung hinausreichenden Wohlfahrtsstaat, der, wie der Soziologe Berthold Vogel nüchtern formuliert, etwa "auf die Minimierung sozialer Risiken und die Dämpfung sozialer und materieller Ungleichheiten durch staatliche Garantien der Statussicherung in den Wechselfällen des Lebens" abzielte.

    Es sollte indessen nicht vergessen werden, dass die viel beschworene soziale Mobilität immer schon eher ein Anspruch als eine flächendeckende Realität war. Am Faktum einer nach wie vor hierarchisch gegliederten Gesellschaft, an der Tatsache ungleich verteilten Eigentums, an der Bedeutung des sozialen Herkommens hat sich wenig geändert. Doch wie real oder fiktiv der potenzielle soziale Aufstieg immer ist, - selbst als Illusion hat er viel zur Stärkung der politischen Demokratie und der sozialen Durchlässigkeit beigetragen. Der Triumph des Kapitalismus in der nationalen wie in der globalen Wirtschaft hat zwar die Bedeutung der Mobilität - nun allein bezogen etwa auf rasche Wechsel des Arbeitsplatzes und Arbeitsortes - kaum geschmälert. Aber die ursprüngliche Vision sozialer Gleichheit und Durchlässigkeit ist dabei aus dem Blick geraten. Aus Aufstiegshoffnungen sind Abstiegsgewissheiten geworden.

    Damit einher ging in den letzten Jahren eine Mentalität, in der soziale Ungleichheit wieder als Selbstverständlichkeit, als quasi naturgegebene Konstante menschlicher Gesellschaft und in gewisser Weise als legitim betrachtet wurde. Das führte und führt zu einer eher sozialmoralischen, paternalistischen Semantik in der öffentlichen Diskussion, die alsbald auch in der "Unterschichten"-Debatte zu hören war. Der Verfassungsrichter Udo Di Fabio etwa beklagte in seinem Buch "Die Kultur der Freiheit" solche "Menschen, die bei der Wahl ihrer Kleidung, in der Art, wie sie speisen oder wie sie reden, inzwischen wieder dem Niveau vorkultureller Zeit zuzustreben scheinen". Die "fürsorgliche Vernachlässigung" der neuen Unterschichten, so der Historiker Paul Nolte, müsse aufgegeben, die "Integration in die Mehrheitsgesellschaft" versucht und mit der "Vermittlung kultureller Standards und Leitbilder" begonnen werden.

    Kaum in die Welt gesetzt, verschwand der Begriff der "neuen Unterschichten" denn auch schon wieder aus der Debatte. Und wurde ersetzt durch den des "Prekariats", wahlweise auch den des "abgehängten Prekariats". Ein hübsch wissenschaftlicher Terminus, der, so der Schriftsteller Max Goldt in seiner monatlichen Kolumne in der Satirezeitschrift "Titanic", wohl auch deshalb so praktisch ist, weil, so Goldt: "diejenigen, um die es geht, die vermeintlich Chancenlosen, eigentlich eher Lethargischen und Resignierten, die nicht mehr kochen und haushalten können und daher früh dick und krank werden und nicht mehr arbeiten können, gar nicht mehr merken werden, wenn von ihnen die Rede ist, denn ihr Interesse an neuen soziologischen Fachtermini ist traditionell gering."

    Doch ungeachtet solch berechtigter Ironie bezeichnen der Terminus "Prekariat" und die mit ihm verbundenen Begriffe der "Exklusion" und "Inklusion", mithin der Prozess zwischen sozialer Aus- und Einschließung, zwischen Teilhabe und Nichtteilhabe, kurz: zwischen Gewinnern und Verlierern eine soziale Realität. Und zugleich eine neuerliche Veränderung in den Beschreibungskonzepten sozialer Ungleichheit. Sie bemisst sich nicht mehr allein am Einkommen, an der Bildung oder an der Wohnungssituation, sondern auch daran, inwieweit Menschen noch Anschluss an den gesellschaftlichen Hauptstrom haben oder ins soziale Niemandsland abrutschen. Neben "Oben" und "Unten" sind nun "Drinnen" und "Draußen" als Faktoren in der Schichtung der Gesellschaft ebenso von Bedeutung wie der ganz auf die Veränderungen innerhalb der Erwerbsarbeit zielende Begriff der Prekariarität: Für immer mehr Menschen, nicht zuletzt aus den Mittelschichten, hat sich die Arbeit, so wiederum der Soziologe Berthold Vogel, "zu einem prekären Ort der sozialen Vorläufigkeit und Widerruflichkeit entwickelt". Die aktuellen Auseinandersetzungen um Kombi- und Mindestlöhne sind darauf nur die vernehmbarsten Reaktionen.

    So verbirgt sich hinter der Unterschichten- zugleich auch und immer mehr eine Mittelschichten-Debatte - und damit ein ernsthaftes Problem unserer Wohlstandsgesellschaft, die sich historisch wie gegenwärtig (noch) stark von der Mitte her definiert. Durch eine komplexe Beziehung miteinander verbunden, verschärfen sich nicht allein die sozialen Ungleichheiten, sondern wandelt sich zugleich auch der Charakter des diese Ungleichheiten nicht aus der Welt schaffenden, aber sie bisher doch abfedernden Sozialstaates.

    Um dieses Problem in seiner Tragweite zu begreifen, ist der Blick in eine nahe Zukunft sinnvoll, wie sie uns der Schriftsteller Joachim Zelter in seinem jüngsten Roman "Schule der Arbeitslosen" eröffnet. Im Jahr 2016, so die von Zelter in kühler Sprache und vielfältig angereichert mit den gängigen Anglizismen vorgetäuschter Weltläufigkeit vorgetragene Geschichte - in dieser nahen Zukunft also wird das in seiner Zahl noch angewachsene Heer der Arbeitslosen in so genannten Fortbildungslagern konzentriert. Sie finden sich auf manchen der zahlreichen Industriebrachen, die an den Peripherien der Städte nach wie vor als so stumme wie trostlose Zeugnisse einstiger Vollbeschäftigung stehen. In einem dieser von allem Fortschritt abgehängten Areale, "in einem niedergegangenen Industriegebiet" siedelt Zelter seinen Ort des Geschehens an: "Das Gebäude wurde provisorisch renoviert - aufgeteilt in einzelne Räume und Zwischenräume: 'coaching zones', 'training points' , 'recreation sectors'. Im ersten Stock Schlafräume, Waschgelegenheiten und Duschen."

    Vor des Lesers Augen entsteht so der aktuelle genius loci einer Arbeitsgesellschaft, der die Arbeit abhanden gekommen ist, eine Schulungsstätte neuer Art, in Zelters Roman organisiert von der "Bundesagentur für Arbeit" in einer Mischung aus NAPOLA und Sekten-Hauptquartier. Ihr Sein und Tun dient nur einem Ziel: vermeintliche Arbeitsversager werden in halbmilitärischem Ambiente mit Psychoterror und kruder Erpressung zu ausgebildeten und sogar zertifizierten "Bewerbern" geformt. Ganz jenem Motto entsprechend, mit dem sie schon bei ihrem Eintreffen vom Lagerleiter begrüßt wurden: "Die Arbeit verfolgt uns nicht mehr. Wir verfolgen sie. Wir fahnden nach ihr. Mit allen Mitteln. Wie nach einem kostbaren Rohstoff. Oder wie ein Jäger nach Beute. Die eigentliche Arbeit ist heute nicht mehr die Arbeit selbst, sondern die Suche nach Arbeit." Absolut freiwillig natürlich, doch wer sich der "Maßnahme" verweigert, fällt aus allen Statistiken und darf künftig nicht mehr an den Segnungen des neuen Wohlfahrtstaates teilhaben.

    Es ist die Welt der Animateure und Motivationstrainer, sie sind die eigentlichen Priester dieser schalen Zukunft. In ihrer neoliberalen Sprache werden rasch und umstandslos aus Lohnsenkungen "neue Möglichkeiten der konkurrenzbestimmten Herausforderung", aus Massenentlassungen "aktivierende Chancen der Selbständigkeit" und aus den darauf folgenden Kürzungen von Sozialleistungen "belebende Anforderungen an die Eigenverantwortung".

    Aktive Arbeitsmarktpolitik, das ist die propagandistische Losung, die Zelter zwar nicht dem Worte aber dem Inhalt nach aus unserer Gegenwart nimmt und thematisiert. Dahinter verbirgt sich nun vollends nichts als eine brutale Interventionspolitik: sie verwaltet nur die Arbeitslosigkeit, trägt aber zur Beschäftigung nichts bei. Umschulungen und Weiterbildungsmaßnahmen simulieren gleichsam den Qualifikationserwerb für Berufe, die es auf dem Arbeitsmarkt gar nicht mehr gibt oder die nicht mehr nachgefragt werden. Vor diesem Hintergrund genügt in der Tat nur ein kleiner, ironischer Dreh an der Stellschraube unserer aktuellen Verhältnisse, um aus dem Arbeitslosen den professionellen Dauer-"Bewerber" zu machen.

    Das Kernproblem, von dem Zelters Roman handelt, ist ein sehr gegenwärtiges: der Sozial- oder Wohlfahrtsstaat bundesrepublikanischer Provenienz ist nicht mehr, sein Charakter hat sich, wie es die Soziologen als Gesellschaftsbeobachter formulieren, vom sorgenden zum gewährleistenden oder auch "aktivierenden" Sozialstaat verändert. Unmittelbar zeigt sich dieser zunächst banal wirkende Wechsel in der völligen Verkehrung der Rechtfertigungspflichten innerhalb der Sozial- und Arbeitsämter, die heute Job-Center oder Arbeitsagenturen heißen. Der bisher quasi rechtsstaatlich abgesicherte Automatismus der sozialstaatlichen Alimentierung, sobald jemand aus der geregelten Erwerbsarbeit herausfiel - immer auf der Grundlage der während der Arbeit erworbenen Versicherungsansprüche - ist aufgehoben.

    Im Zuge der Hartz IV Reformen gibt es nun eine Fülle von so genannten Zumutbarkeits- und Mitwirkungsvorschriften, an deren Befolgung oder Verweigerung die im übrigen gekürzten sozialstaatlichen Leistungen gekoppelt werden. Oder, in den Worten der Sozialwissenschaftlerin Helga Spindler: Lautete bislang die erste Frage an arbeitslos gewordene Bürger 'Wer hat auf welcher gesetzlichen Grundlage welche Ansprüche und wer nicht?', so heißt es mittlerweile: 'Was tun Sie eigentlich, um wirklich Arbeit zu bekommen?'. Die Macht der Erwerbsarbeit als entscheidende Formel zur Wiedereingliederung von Arbeitslosen ist ungebrochen. Aber die Verantwortung für den Erfolg der angestrebten "Inklusion" liegt tendenziell und einseitig nun beim Arbeitsuchenden.

    Dies alles besagt nicht, dass der Staat und seine Institutionen sich aus den Regelungen sozialer Wohlfahrt zurückgezogen hätten. Die Eingriffe betreffen vielmehr immer diffuser den Charakter der Arbeit selbst und die Privatsphäre. Privates Vermögen muss nun offen gelegt und zum größten Teil aufgebraucht sein, bevor der reduzierte Leistungsbezug einsetzt; teils hoch qualifizierte Facharbeiter, durch ihre Betriebe "freigesetzt", werden von der Bundesagentur schlecht bezahlenden Leiharbeitsfirmen zugeordnet; die Zahl so genannter Patchwork-Existenzen, die ihren Unterhalt durch mehrere kleinere Beschäftigungsverhältnisse sichern müssen, nimmt ständig zu.

    Überdies - so neue Untersuchungen von Andreas Willisch und Rainer Land - ist insbesondere in den ostdeutschen Ländern, aber auch in vormals hoch industrialisierten Gebieten Westdeutschlands eine Entwicklung zu beobachten, an deren Ende durch milliardenteure Programme, heißen sie nun ABM oder Ein-Euro-Jobs, eine Art "Inklusionsmaschine" entstanden ist, mit der Ausgrenzung "faktisch reproduziert" wird. Wo keine Arbeit mehr vorhanden ist - man denke an Zelters Roman - wird Arbeit durch Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen simuliert. So entstehen "die Überflüssigen", wie es Willisch und Land formulieren: "In ihren Träumen erscheinen ihnen Arbeiten, die keiner wirklich braucht".


    Wer vor diesem Hintergrund auf die Europäische Union als übernationalen Garanten des Wohlfahrtsstaates setzt, hat möglicherweise auf Sand gebaut. Gewiss, gegenwärtig wirken die in Brüssel formulierten sozialrechtlichen Mindeststandards auf die nationalen Gesetzgebungen eher noch mäßigend ein. Ein Tatbestand, der von der breiten Öffentlichkeit kaum wahrgenommen oder aber als bloße Regelungswut abgetan wird. Auch ist bisher der Einfluss der EU auf die Etablierung eines sozialen Netzes in jenen Beitrittsländern, die bisher höchstens eingeschränkt darüber verfügten, von positiver Bedeutung. Aber ob daraus einmal ein "einheitliches europäisches Sozialmodell" wird, wie es Bundeskanzlerin Merkel als derzeitige Ratspräsidentin fordert, ist mehr als fraglich.

    Die kühle Analyse wirtschaftsliberaler Kritiker jedenfalls läuft darauf hinaus, jede Form von allmächtiger Zentralgewalt zurückzuweisen, gerade auch im sozialen, wohlfahrtsstaatlichen Bereich. Allein der freie Handel, ein von jeder Subvention oder anderen staatlichen Eingriffen freier Wettbewerb und eine stabile Währung könnten den europäischen Fortschritt garantieren. Der vorsorgende Sozialstaat kommt in dieser Betrachtungsweise nur als "eurosklerotischer Wohlfahrtsstaat" vor, der schon als bloßes Menetekel Schreckensbild genug ist.

    Im Grunde, so will es scheinen, hat sich in solcher Auffassungswelt seit den Tagen von Adam Smith und seinen sozialökonomischen Nachfolgern im frühen 19. Jahrhundert kaum etwas getan. Danach wären staatliche Eingriffe nur dann vonnöten, wenn die Gesellschaft bei dem Versuch scheitert, ihre Angelegenheiten selbst zu regeln. Ansonsten aber sind es die Bedürfnisse und ihre Vielfalt sowie wechselseitige Vorteile, durch die sich, so Smith, eine "große Kette des Zusammenhangs" bildet. Die würde durch regierungsamtliche, staatliche Eingriffe nur destabilisiert. Armut, Unzufriedenheit, Aufruhr, der "Mangel an Glück" - ein Kriterium, das allerdings mittlerweile völlig aus der Mode gekommen ist - wären in der Regel durch zu hohe oder ungerechte Steuern verursacht.


    "Es ist", schrieb der französische Soziologe Robert Castel, "als ob sich hundert Jahre von Siegen in Luft auflösen". Er meinte damit die lang währende Erfolgsgeschichte des Sozialstaats, der die Klassengegensätze einst nivellierte - und inzwischen im wahrsten Sinne des Wortes produziert. Auf Seiten der großen Gruppe der Geringverdiener verstetigt sich die Armut, wie der zweite Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung belegt. Innerhalb der Mittelschichten sind Deklassierungs- und Abstiegsängste zu sozialen Tatsachen geworden.

    An Suchbewegungen, das tradierte Gleichgewicht zwischen staatlich alimentiertem Gemeinwohl und den Gesetzen des kapitalistischen Marktes wiederherzustellen, fehlt es nicht. Ein unabhängig von sozialer Bedürftigkeit und Arbeitswilligkeit gezahltes Grundeinkommen, ein Bürgergeld oder die Auszahlung eines so genannten Startkapitals an jeden Bürger - allesamt finanziert oder teilfinanziert durch den Wegfall bisheriger Sozialleistungen - sind in der Diskussion. Weniger bemerkt von der Öffentlichkeit, aber mutmaßlich von nicht geringerer Bedeutung, verlaufen die Debatten um das, was "soziale Gerechtigkeit" heißt. Oder um die Frage, inwieweit die in Soziologie und Staatswissenschaft vergessene Kunst des Regierens und Verwaltens angesichts zunehmender sozialer Ungleichheit wiederentdeckt werden müsste.

    Fest steht, dass die drohenden Gefahren sozialer Ungleichheit - ob manifest in sichtbarer Verelendung oder bloßer Abstiegsangst - für den gesellschaftlichen Zusammenhalt unserer wie aller westlichen Demokratien unabsehbar sind. Das Bielefelder "Institut für Interdisziplinäre Konflikte und Gewaltforschung" spricht in seinem neuesten Zustandsbericht von nur noch 17 Prozent der Befragten aller Schichten, die unserer Gesellschaft einen starken Zusammenhalt attestieren. 86 Prozent waren im selben Zeitraum der Ansicht, dass immer mehr Menschen an den Rand gedrängt werden. Zugleich hat sich zwischen 1993 und 2004 das Nettovermögen des wohlhabendsten Viertels der westdeutschen Bevölkerung um nicht weniger als 28 Prozent vermehrt, während im ärmsten Viertel eine Vermögensminderung um 50 Prozent zu verzeichnen ist. In den neuen Bundesländern sind die Zahlen noch drastischer, wenngleich insgesamt auf einem niedrigeren Niveau. Kurz: die durch Ausgrenzung und materielle Unterschiede geschaffenen Bruchlinien durch die Gesellschaft haben an brachialer Tiefe zugenommen.

    Aber was sagen schon Prozentzahlen! Das soziale Klima wird zunehmend von Mitleidlosigkeit und emotioneller Kälte bestimmt. Traditionell schwache Gruppen wie Migranten oder Obdachlose, aber auch Langzeitarbeitslose leiden besonders darunter, mit durchschlagenden Wirkungen auf Körper und Seele - und auf die dadurch entstehenden sozialen Kosten. Schon längst zeigen Untersuchungen, dass Armut und das Risiko zu erkranken, ja, sogar vor der Zeit zu sterben, eng zusammenhängen. Ebenso unumstritten sind die mittelbaren Auswirkungen auf die Psyche.

    Das alles ist nicht neu. Bereits die aus den frühen dreißiger Jahren des 20.Jahrhunderts stammende legendäre Untersuchung über die "Arbeitslosen von Marienthal" belegte in ihren analysierten "Haltungstypen", in wie starkem Maße unter Langzeitarbeitslosen die fatalistische oder verzweifelte Gebrochenheit zunahm, das intensive Gefühl, zu den Aussortierten und Überflüssigen zu gehören.

    Das aus all dem hervorgehende "Konglomerat", wie es die Bielefelder Untersuchung beschreibt, "aus Angst, Unsicherheit und Machtlosigkeit, das von wachsender Orientierungslosigkeit begleitet wird", betrifft potenziell und immer mehr auch die mittleren Schichten der Gesellschaft. Plötzlicher und unerwarteter Arbeitsverlust bei gleichzeitig vorhandener hoher Überschuldung, hinzunehmende Lohnsenkungen und anderes mehr können heute eher als noch vor zehn Jahren zur sozialen Ausgrenzung und zu materiellem Abstieg führen.

    Die Alarmzeichen haben mittlerweile auch jene Planungsstäbe erreicht, die für die europäischen Regierungen Zukunftsszenarien fertigen. So war kürzlich in der englischen Presse von einem für das Verteidigungsministerium verfassten Papier zu lesen, in dem behauptet wird, dass in naher Zukunft der Krieg der Staaten durch den der Klassen abgelöst werden würde. Die bedrohten Mittelschichten würden dabei europaweit zur revolutionären Klasse und an die Stelle des mittlerweile allenfalls noch im Museum zu bestaunenden, klassenbewussten Proletariats treten.

    Wenn etwas an solchen Szenarien überhaupt überzeugen kann, dann die Gewissheit, dass es geradezu revolutionärer Energie bedarf, um die Zukunft des Wohlfahrtsstaates zu gestalten.