Mehr als 200 Jahre lang waren die Moltkes mit der deutschen Geschichte auf hohem Niveau verbunden: Angefangen vom preußischen Generalfeldmarschall Helmuth von Moltke, der in jungen Jahren erst in dänischen, dann in preußischen und türkischen Diensten stand, als Generalstabschef 1870/71 Frankreich besiegte und damit Bismarck die Grundlage lieferte, das Deutsche Reich zu gründen. Über den Hitlergegner Helmuth James, der auf seinem Gut Kreisau in Schlesien eine politische Widerstandsgruppe gegen die Nazis leitete bis hin zu Gebhardt von Moltke, der auf dem Höhepunkt der deutsch-amerikanischen Verstimmung im Jahr 2003 Nato-Botschafter in Brüssel war, und von seinem schwierigen Chef Joschka Fischer vorzeitig in den Ruhestand geschickt wurde. In wessen Diensten die Moltkes auch immer standen, stets war ihnen ihr Gewissen Maßstab des Handelns. Wie zum Beispiel sechs Wochen nach dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges im September 1914, als der Chef des deutschen Generalstabes, Helmuth Johannes Ludwig von Moltke, in klarer Sicht der militärischen Lage den Rückzug der deutschen Truppen anordnete und seinem aufgebrachten Kaiser meldete:
Majestät, wir haben den Krieg verloren.
Wäre Wilhelm der II. damals dem Weitblick dieses klugen Moltkes gefolgt, wären Europa Millionen von Toten erspart geblieben. Ebenfalls seinem Gewissen folgte 30 Jahre später Helmuth James Graf Moltke, der bereits vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges einen Zirkel von Nazigegnern um sich scharte, Kontakt zu den amerikanischen Botschaftern in Berlin unterhielt und sich nach Kriegsbeginn im Oberkommando der Wehrmacht als Anwalt um völkerrechtliche Fragen kümmerte.
Der Journalist Jochen Thies widmet dieser Heldenfigur der Moltkes sowie dessen Frau Freya, die ebenfalls am "Kreisauer Kreis" beteiligt war, ein Drittel seiner gesamten Familiengeschichte. Und dabei erschließt er biografisches Neuland:
"Freya von Moltke ist unendliche Male interviewt worden. Vor allem in den letzten zwanzig Jahren. Aber niemand hat zu den anderen Teilen ihres Lebens sie befragt. Sie wurde nur immer zentral zum 20. Juli und zur Beziehung zu ihrem Mann befragt, sodass es auch eine nicht unerhebliche Aufgabe war, ihre Lebensgeschichte von den Anfängen in Köln bis zu ihrem Tod Anfang diesen Jahres zu rekonstruieren."
Anhand des Umgangs mit Freya von Moltke wird der Unterschied beider Familienporträts am deutlichsten: Während der freischaffende Historiker Jessen für das Ende der 98-jährigen Freya Bezug nimmt auf eine Tagesschaumeldung vom 4. Januar 2010, berichtet der Journalist Thies über das Ableben der großen alten Dame als sei er dabei gewesen. Er erzählt, wer an ihrem Sterbebett stand, wer zur Beerdigung kam und dass sich bestimmte Familienzweige, die sich voneinander entfremdet hatten, über den Tod Freyas wieder näher kamen. Thies hat offenbar den tieferen persönlichen Zugang, die größere Nähe zu den Moltkes, welchen er folgendermaßen erklärt:
"Zunächst war es der Enkel von Helmuth James von Moltke, den meine Frau in Bad Godesberg in der Schule hatte. Und dieser Junge ging in unserem Haus ein und aus. Er war der Babysitter unserer Tochter und wir sprachen über die Familie und zu der Zeit war die Großmutter Freya von Moltke Gast im Haus der Familie. Der Kontakt blieb, wenn auch schütter, und es kam später hinzu ein relativ enger Kontakt zu dem Botschafter Gebhardt von Moltke."
Im übrigen aber schöpfen beide Autoren aus der gleichen Fülle von Quellen.
Umso interessanter sind die unterschiedlichen Herangehensweisen bei der Ordnung des erschlossenen Stoffes: Der Journalist Thies beginnt mit zwei persönlichen Beobachtungen aus seiner Berliner Umgebung, nämlich der Statue des Generalfeldmarschalls Moltke von 1871 in der Nähe der Siegessäule sowie der Moltkebrücke beim Bundeskanzleramt, und verweist damit darauf, dass die Moltkes nach wie vor im Zentrum der deutschen Politik präsent sind, wenngleich nur noch in Stein. Der Historiker Jessen hingegen zieht den Leser in seine Geschichte mit einer Szene aus dem Türkeiaufenthalt jenes besagten Generals: der Schlacht bei Nizib am 24. Juni 1839. Damit wählt Jessen einen fulminanten Einstieg in das Verständnis für das Kosmopolitische dieser scheinbar urpreußischen Familie.
Beide Autoren haben sich dafür entschieden, in ihren Familienporträts je eine "Substory" mitlaufen zu lassen. Thies hat sich der Moltke-Frauen angenommen, Jessen hingegen arbeitet die prägende und gestaltende Verbindung der Familie zur deutschen Nation heraus. Das Kapitel über den Widerstand gegen Hitler überschreibt er mit "Verbrechen der Nation" und meint damit doppelsinnig sowohl die geifernde Nazipropaganda, die alle Verschwörer gegen Hitler als Verbrecher denunzierte als auch die Hinrichtung Helmuth James Graf Moltkes, die als Verbrechen der deutschen Nation an einem moralisch-verantwortungsbewussten Deutschen verstanden werden muss.
Diesen Bezug der Familie Moltke zur eigenen Nation, das Dienen, das sich buchstäbliche Aufopfern für höhere Werte klar herausgearbeitet zu haben ist Jessens herausragendes Verdienst. Es gipfelt in der Beschreibung eines Telefonats zwischen Helmut Kohl und Freya von Moltke, in dem noch einmal deutlich wird, wie weitreichend und tief gehend die persönliche Familiengeschichte der Moltkes mit deutscher Politik verknüpft ist:
1989 meldete sich Bundeskanzler Helmut Kohl. Er werde Anfang November, erläuterte Kohl telefonisch, den ersten frei gewählten polnischen Ministerpräsidenten Tadeusz Mazowiecki bei einer 'Versöhnungsmesse' in Kreisau treffen. Es wäre schön, wenn ein Moltke ihn begleiten könnte. Das sei unmöglich, erwiderte Freya. Man wolle den Eindruck vermeiden, die Familie würde Ansprüche auf Kreisau erheben. Der Kanzler will wissen, was er sagen solle, wenn die Leute fragten, warum er keinen Moltke mitgebracht habe. 'Dann müssen Sie antworten, dass die Moltkes nur kommen, wenn die Polen sie einladen.'
Die polnische Regierung hat die Moltkes eingeladen und in Kreisau ist 1998 eine internationale Jugendbegegnungsstätte entstanden. Auch auf diesem Gebiet also haben die Moltkes im übergeordneten Sinne der Staatsräson gehandelt.
Die beiden exzellent geschriebenen Bücher gegeneinander abzuwägen ist unsinnig. Es muss letztlich dem Geschmack des Einzelnen überlassen bleiben, ob er den lebendigen Reportagestil des Journalisten oder den brillanten Historiker vorzieht. Beide Bücher werden dem Anspruch gerecht, anhand der Moltkes das sich wandelnde Selbstverständnis Deutschlands über zwei Jahrhunderte hervorragend darzustellen.
Olaf Jessen: Die Moltkes. Biografie einer Familie. Verlegt bei C.H. Beck, 477 Seiten kosten 22 Euro 95, ISBN: 978-3-406-60499-7. Und: Jochen Thies: Die Moltkes. Von Königgrätz nach Kreisau. Eine deutsche Familiengeschichte. Erschienen im Piper Verlag. Die 385 Seiten gibt es für ebenfalls 22 Euro 95, ISBN: 978-3-492-05380-8. Tom Goeller hat die Bücher besprochen.
Majestät, wir haben den Krieg verloren.
Wäre Wilhelm der II. damals dem Weitblick dieses klugen Moltkes gefolgt, wären Europa Millionen von Toten erspart geblieben. Ebenfalls seinem Gewissen folgte 30 Jahre später Helmuth James Graf Moltke, der bereits vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges einen Zirkel von Nazigegnern um sich scharte, Kontakt zu den amerikanischen Botschaftern in Berlin unterhielt und sich nach Kriegsbeginn im Oberkommando der Wehrmacht als Anwalt um völkerrechtliche Fragen kümmerte.
Der Journalist Jochen Thies widmet dieser Heldenfigur der Moltkes sowie dessen Frau Freya, die ebenfalls am "Kreisauer Kreis" beteiligt war, ein Drittel seiner gesamten Familiengeschichte. Und dabei erschließt er biografisches Neuland:
"Freya von Moltke ist unendliche Male interviewt worden. Vor allem in den letzten zwanzig Jahren. Aber niemand hat zu den anderen Teilen ihres Lebens sie befragt. Sie wurde nur immer zentral zum 20. Juli und zur Beziehung zu ihrem Mann befragt, sodass es auch eine nicht unerhebliche Aufgabe war, ihre Lebensgeschichte von den Anfängen in Köln bis zu ihrem Tod Anfang diesen Jahres zu rekonstruieren."
Anhand des Umgangs mit Freya von Moltke wird der Unterschied beider Familienporträts am deutlichsten: Während der freischaffende Historiker Jessen für das Ende der 98-jährigen Freya Bezug nimmt auf eine Tagesschaumeldung vom 4. Januar 2010, berichtet der Journalist Thies über das Ableben der großen alten Dame als sei er dabei gewesen. Er erzählt, wer an ihrem Sterbebett stand, wer zur Beerdigung kam und dass sich bestimmte Familienzweige, die sich voneinander entfremdet hatten, über den Tod Freyas wieder näher kamen. Thies hat offenbar den tieferen persönlichen Zugang, die größere Nähe zu den Moltkes, welchen er folgendermaßen erklärt:
"Zunächst war es der Enkel von Helmuth James von Moltke, den meine Frau in Bad Godesberg in der Schule hatte. Und dieser Junge ging in unserem Haus ein und aus. Er war der Babysitter unserer Tochter und wir sprachen über die Familie und zu der Zeit war die Großmutter Freya von Moltke Gast im Haus der Familie. Der Kontakt blieb, wenn auch schütter, und es kam später hinzu ein relativ enger Kontakt zu dem Botschafter Gebhardt von Moltke."
Im übrigen aber schöpfen beide Autoren aus der gleichen Fülle von Quellen.
Umso interessanter sind die unterschiedlichen Herangehensweisen bei der Ordnung des erschlossenen Stoffes: Der Journalist Thies beginnt mit zwei persönlichen Beobachtungen aus seiner Berliner Umgebung, nämlich der Statue des Generalfeldmarschalls Moltke von 1871 in der Nähe der Siegessäule sowie der Moltkebrücke beim Bundeskanzleramt, und verweist damit darauf, dass die Moltkes nach wie vor im Zentrum der deutschen Politik präsent sind, wenngleich nur noch in Stein. Der Historiker Jessen hingegen zieht den Leser in seine Geschichte mit einer Szene aus dem Türkeiaufenthalt jenes besagten Generals: der Schlacht bei Nizib am 24. Juni 1839. Damit wählt Jessen einen fulminanten Einstieg in das Verständnis für das Kosmopolitische dieser scheinbar urpreußischen Familie.
Beide Autoren haben sich dafür entschieden, in ihren Familienporträts je eine "Substory" mitlaufen zu lassen. Thies hat sich der Moltke-Frauen angenommen, Jessen hingegen arbeitet die prägende und gestaltende Verbindung der Familie zur deutschen Nation heraus. Das Kapitel über den Widerstand gegen Hitler überschreibt er mit "Verbrechen der Nation" und meint damit doppelsinnig sowohl die geifernde Nazipropaganda, die alle Verschwörer gegen Hitler als Verbrecher denunzierte als auch die Hinrichtung Helmuth James Graf Moltkes, die als Verbrechen der deutschen Nation an einem moralisch-verantwortungsbewussten Deutschen verstanden werden muss.
Diesen Bezug der Familie Moltke zur eigenen Nation, das Dienen, das sich buchstäbliche Aufopfern für höhere Werte klar herausgearbeitet zu haben ist Jessens herausragendes Verdienst. Es gipfelt in der Beschreibung eines Telefonats zwischen Helmut Kohl und Freya von Moltke, in dem noch einmal deutlich wird, wie weitreichend und tief gehend die persönliche Familiengeschichte der Moltkes mit deutscher Politik verknüpft ist:
1989 meldete sich Bundeskanzler Helmut Kohl. Er werde Anfang November, erläuterte Kohl telefonisch, den ersten frei gewählten polnischen Ministerpräsidenten Tadeusz Mazowiecki bei einer 'Versöhnungsmesse' in Kreisau treffen. Es wäre schön, wenn ein Moltke ihn begleiten könnte. Das sei unmöglich, erwiderte Freya. Man wolle den Eindruck vermeiden, die Familie würde Ansprüche auf Kreisau erheben. Der Kanzler will wissen, was er sagen solle, wenn die Leute fragten, warum er keinen Moltke mitgebracht habe. 'Dann müssen Sie antworten, dass die Moltkes nur kommen, wenn die Polen sie einladen.'
Die polnische Regierung hat die Moltkes eingeladen und in Kreisau ist 1998 eine internationale Jugendbegegnungsstätte entstanden. Auch auf diesem Gebiet also haben die Moltkes im übergeordneten Sinne der Staatsräson gehandelt.
Die beiden exzellent geschriebenen Bücher gegeneinander abzuwägen ist unsinnig. Es muss letztlich dem Geschmack des Einzelnen überlassen bleiben, ob er den lebendigen Reportagestil des Journalisten oder den brillanten Historiker vorzieht. Beide Bücher werden dem Anspruch gerecht, anhand der Moltkes das sich wandelnde Selbstverständnis Deutschlands über zwei Jahrhunderte hervorragend darzustellen.
Olaf Jessen: Die Moltkes. Biografie einer Familie. Verlegt bei C.H. Beck, 477 Seiten kosten 22 Euro 95, ISBN: 978-3-406-60499-7. Und: Jochen Thies: Die Moltkes. Von Königgrätz nach Kreisau. Eine deutsche Familiengeschichte. Erschienen im Piper Verlag. Die 385 Seiten gibt es für ebenfalls 22 Euro 95, ISBN: 978-3-492-05380-8. Tom Goeller hat die Bücher besprochen.