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Archiv


Gewissenhaft und langweilig

Es gibt eine Stefan-Zweig-Gesellschaft, es gibt in den Vereinigten Staaten ein Zweig-Archiv; über sechzig Jahre nach seinem Selbstmord im brasilianischen Exil sind alle seine Bücher, und es sind sehr, sehr viele, in neueren oder älteren Ausgaben leicht zu erwerben.

Von Katharina Rutschky | 01.12.2006
    Denn Zweig war in den Goldenen Zwanzigern ein erfolgreicher Kulturindustrieller und Literaturunternehmer, und ein populärer Autor mit hohen Auflagen auch wieder nach dem Ende des Dritten Reichs, vor dessen Verfolgung der Pazifist, der kunst- und buchgläubige Schriftsteller jüdischer Herkunft schon 1934 nach England geflüchtet war.

    Seine posthum erschienenen, interessanten, aber recht unpersönlichen Erinnerungen an die "Welt von Gestern" fehlten so wenig wie die "Sternstunden der Menschheit" im Bücherschrank der fünfziger Jahre. Seine "Schachnovelle" war Schullektüre für viele Gymnasiasten der Nachkriegszeit. Von keinem deutschsprachigen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts sind so früh auch so viele Bücher in alle gängigen Sprachen übersetzt, eine Reihe von ihnen sogar mehrfach verfilmt worden.

    Inzwischen hat man neben Zweigs Tagebüchern auch viele seiner Briefwechsel ediert; denn Zweig veröffentlichte Jahr um Jahr nicht nur Bücher in jedem Genre, betätigte sich als Publizist, Reiseschriftsteller, Dramatiker und Vortragskünstler - er war auch ein äußerst fleißiger Briefschreiber von Jugend an, als er sich (gegen Rückporto) an literarische Berühmtheiten mit der Bitte um Autogramme und Autographen wandte.

    In unzensierter und breiterer Auswahl liegt jetzt auch der mit Friderike von Winternitz, der Lebensgefährtin und Ehefrau von 1913 bis 1934 neu vor. Die Beziehung überdauerte die Trennung des Paares und auch Zweigs neue Ehe mit Lotte, der Jahrzehnte jüngeren Emigrantin aus Frankfurt, die ihm in London als Sekretärin empfohlen war. An Friderike ist der bewegende Brief adressiert, in dem Zweig sich auf sein Ende freut. "Du kannst Dir nicht vorstellen", schreibt er wenige Stunden vor der Einnahme des Gifts, "wie erleichtert ich mich seit diesem Entschluss fühle. Bleib guten Muts, nun weißt Du mich doch ruhig und glücklich."

    Gründe führt er wohl einige an- überzeugen tun sie alle nicht. Der gerade sechzig gewordene brasilianische Emigrant war weder krank, noch arm oder gefährdet - wie so viele andere Flüchtlinge. Er hatte außerdem eine junge Frau an seiner Seite. Eher schon deutet die Depression, von deren Verschlimmerung er Friderike auch schreibt, auf ein lebenslanges Unglück, das er mit Unrast und vor allem Arbeitswut hintanhalten, durch Erfolge bloß betäuben konnte.

    Gibt einem der Mensch und Mann Stefan Zweig bis zum Doppel-Selbstmord Rätsel auf, so hat die emsige Beschäftigung mit der vielgestaltigen Produktion dieses Autors seitens der Forscher uns bisher noch nicht erklärt, was von seinem Werk Bestand hat oder wie überhaupt Zweigs Status als kunstbeflissener Erfolgsautor der Weimarer Republik vis-a-vis seines bürgerlichen Publikums zu beschreiben wäre. Es waren vor allem Frauen, die seine Bücher kauften und zu seinen Lesungen strömten.

    Die Biographie von Oliver Matuschek, pünktlich zum 125. Geburtstag Zweigs am 28. November vorgelegt - erst die zweite über diesen interessanten Literaturunternehmer, und die erste deutschsprachige - stimuliert die Neugier mehr als dass sie sie befriedigt. Der Autor, Jahrgang 1971, hat sich am angelsächsischen Stil orientiert. Dort recherchieren Biographen zwar gründlich und verschweigen nichts - wagen aber auch nie eine Deutung und sparen den sozialen und historischen Kontext völlig aus. An die Stelle der kritischen, psychologischen und soziologisch-historischen Analyse tritt eine Hypergenauigkeit der chronologischen Erzählung auf vielen hundert Seiten, die den Leser dann doch auch sehr ermüden kann.

    Matuscheks Zweig-Biographie illustriert die Vor- und Nachteile der angelsächsischen Biographik. Man wird weder mit Wertungen bevormundet, noch mit Analysen belehrt - dafür so nüchtern informiert, dass zwangsläufig jeder, der einmal Zweig gelesen hat, sich selber einen Vers auf den rätselhaften Menschen, den erfolgreichen Literaten und diese repräsentative Gestalt des Kulturlebens der Zwischenkriegszeit zu machen versucht.

    Zweig kam aus einer wohlhabenden jüdischen Wiener Familie, deren Geld ihm die Traumlaufbahn als Sammler, Dichter und Ästhet sehr erleichtert hat. Zuerst ging es um Briefmarken, beim Gymnasiasten dann um Autogramme von Berühmtheiten, endlich um Autographen zwischen Goethe und Hitler - dabei immer um den Versuch, neben dem Geheimnis des Genies das des großen öffentlichen Erfolgs zu ergründen, sich seiner quasi zu bemächtigen. Mit seinem Publikum verbanden später den humanistischen Erfolgsautor Kunstreligion und Personenkult. So frei und neu Zweig in seinen zahlreichen Biographien auch erzählte, so konservativ sein Muster. Er war immer weltläufiger als andere bei der Wahl seiner Themen und Helden- doch die Grundlinie der bildungsbürgerlichen Kulturverklärung, verbunden mit Kulturkritik, hat er nie überschritten. Natürlich hasste dieser Kulturindustrielle, der immer über ein Büro und beste Verbindungen überallhin verfügte, die Moderne - vom Grammophon über das Radio bis zum Auto - auch wenn er keine Skrupel hatte, selbst im Fernsehen zu erscheinen.

    Ganz nach angelsächsischem Brauch, enthält sich Matuschek jeder Analyse von Zweigs Werk. Ist das Literatur oder sind das Schmöker von Gestern, die wir durch aktuellere ersetzt haben? Man kann dieser großen Figur der Zwischenkriegszeit aber nicht gerecht werden, wenn man ästhetischen Fragen ebenso ausweicht wie persönlichen und psychologischen.

    Zweig war ein Workaholic und schien der literarischen Arbeit immer den Vorzug vor Leidenschaft und Leben gegeben zu haben. Unklar ist nur, welches Projekt Zweig neben rastloser Arbeit und Selbstrechtfertigung eigentlich sonst verfolgte.

    Matuscheks Biografie blendet zwar Literatur- und Zeitgeschichte aus - deutet aber mit vielen Details auf einen Menschen, dessen Unglück jeden fasziniert, der sich für die groben und feinen Auswirkungen des sexuellen Triebschicksals unter bestimmten historischen Bedingungen interessiert. War Zweig schwul oder schämte er sich anderer Regungen, die er mit disziplinierter Arbeit niederhalten und mit hochtrabender Kunst- Ideologie transzendieren musste? Schon in jungen Jahren hatte Zweig Altersprobleme, denen er immer wieder Kuren entgegensetzte: Kein Kaffee - keine Zigaretten!

    Weil Zweig kein Leben hat, hasst er jeden seiner Geburtstage. Matuschek informiert und deutet hie und da etwa an, hat aber keinen Mut, das Leben eines repräsentativen Autors der Weimarer Zeit wirklich auszuleuchten. Man seufzt hier nach Geschichte und Literatursoziologie, dort nach angewandter Psychoanalyse. Vergebens!

    Oliver Matuschek:
    Stefan Zweig. Drei Leben - Eine Biographie
    (S. Fischer Verlag)