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Gewollte Unverbindlichkeit

Die Verwerfungen des ehemaligen DDR-Sports manifestierten sich vor allem im staatlichen Dopingsystem und in der Durchsetzung des Sports durch und mit der DDR-Staatssicherheit. Beide Probleme beschäftigen den deutschen Sport auch noch 20 Jahre danach. Aufarbeitung fand in diversen Kommissionen statt.

Von Grit Hartmann |
    Der Tag, an dem, sportpolitisch betrachtet, das Täuschen zur gesamtdeutschen Kernsportart wird, ist präzise zu benennen. Es ist der 14. Dezember 1991. Eine Kommission unter Vorsitz von Manfred von Richthofen, dem späteren Sportbund-Präsidenten, legt ihren Bericht zur Dopingpraxis vor.

    Es ist der zweite derartige Report; den ersten präsentierte eine Kommission von DSB und Nationalem Olympischen Komitee. Gedrängt von Enthüllungen zum DDR-Staatsdoping gibt man nach Anhörung von Zeugen unverbindliche Empfehlungen ab. DSB-Präsident Hans Hansen nennt die Arbeit der Richthofen-Kommission hervorragend. Allerdings:

    "Wir sind immer wieder angesprochen worden auf unsere Maßnahmen und darauf, dass Trainer entfernt werden müssen oder dass Ärzte entfernt werden müssen. Wir sind nicht der DTSB der früheren DDR. Sondern für uns müssen Beweise auf den Tisch gelegt werden, die auch rechtsstaatlich bestehen. Erst dann sind wir in der Lage, entsprechende Konsequenzen zu ziehen."

    Von Richthofen erörtert:

    "Wir haben bewusst gesagt, dass die Trainer, die nicht leitende Verbandstrainer waren, ja letzthin einen Befehl erhielten, den sie auszuführen hatten. Wir wollten also wirklich diejenigen, die an den Schaltstellen saßen und diese unmenschlichen und unverantwortlichen Anordnungen gegeben haben, ausschalten. Aber wir wollten nicht wieder wie teilweise bei der Naziüberprüfung diejenigen büßen lassen, die unten eigentlich nur die Ausführenden waren. Haben sie diese Befehle nicht ausgeführt, haben sie ja ihren Beruf verloren."

    Die Folie - Berufung auf den Rechtsstaat und auf einen Befehlsnotstand - ist nicht neu. Sie wiederholt, anders als behauptet, die Nachkriegsjahrzehnte. Außer einer kleinen Clique um Hitler gab es lange keine Nationalsozialisten - außer einer kleinen Clique um Sportführer Manfred Ewald gibt es im Jahr zwei der deutschen Einheit keine Doping-Täter mehr, nur unschuldig Beteiligte. Der Mythos ermöglicht die Kooptierung von belastetem Personal zum Wohle der Medaillenbilanz - und allein die interessiert. Führungskräfte sind willkommen: etwa Bernd Schubert, Cheftrainer erst der DDR- und bald aller deutschen Leichtathleten. Ein Gericht attestierte ihm Mitte 1991, er sei "ausgewiesener Fachdoper". Hansens Berufung auf den Rechtsstaat war schon obsolet, als er sie aussprach.

    1998, der erste Prozess um das DDR-Zwangsdoping läuft, holen Ermittler die Protokolle der Richthofen-Kommission in Frankfurt ab. Das ergibt Erstaunliches: Die Befragten hatten auch westdeutsche Doper und deren Mitwisser benannt. Für die DDR hatten sie auf typische Gesundheitsschäden hingewiesen, von denen die Betroffenen 1991 nichts ahnten. Im Kommissions-Bericht war davon wie von Minderjährigen-Doping keine Rede. Werner Franke zeigt von Richthofen wegen unterlassener Hilfeleistung an:

    "Wenn ich sehe, dass einer Person A von einer Person B ein schleichend wirkendes Gift, ein Schadstoff, verabreicht worden ist, bin ich dann verpflichtet, der geschädigten Person, der möglicherweise geschädigten Person, die also dieses Risiko in sich trägt, die zu informieren, der zu helfen?"

    Staatsanwälte verneinen das. Fast vergessen ist eine zweite Anzeige aus dem Jahr 2000. Ein Oldenburger Rechtsanwalt erstattet sie - seiner Ansicht nach haben die Sportfürsten mit der Übernahme von Doping-Personal gegen Förderauflagen des Bundes verstoßen, ein Millionen-Betrug. Der Anwalt schweigt heute. Anzunehmen ist, dass seine Anzeige ins Leere lief, weil die erfolgsfixierten Geldgeber im Bundesinnenministerium diese Praxis deckten.

    2008 sorgt der Deutsche Olympische Sportbund für eine neue Konjunktur des Themas. Er lässt Trainer "Ehrenerklärungen" unterzeichnen, in denen steht, dass sie nie mit Doping zu tun hatten - auch Trainer, die Strafbefehle kassiert haben. Der Versuch, die kriminelle DDR zu entsorgen, stößt auf Protest, nicht nur bei den Doping-Geschädigten. Deshalb kehrt der bewährte Etikettenschwindel für die Öffentlichkeit ein letztes Mal wieder, als Farce. Eine Kommission wird eingesetzt. DOSB-Generaldirektor Michael Vesper:

    "Unsere Position ist klar: Wir stehen gegen eine Generalamnestie für Trainer, die sich an Doping in der DDR beteiligt haben, am Staatsdoping beteiligt haben. Wir stehen aber auch gegen eine Generalverurteilung dieser Trainer auf immer und ewig. Sondern wir sagen, wir möchten uns gern mit den Einzelfällen beschäftigen und möchten da das Urteil der Kommission unter Vorsitz von Udo Steiner damit befassen."

    Ex-Verfassungsrichter Steiner macht die seit 1991 bestehende Generalamnestie offiziell - im Gegenzug für inhaltsarme Pauschal-Geständnisse. Die Trainer gelten seither als Geläuterte. Die skurrilste Variante dieser Metamorphose liefert der Skiverband: Bundestrainer Frank Ullrich kann sich an nichts erinnern. Verständnisvoll befindet man, er leide unter einem "unbewusst gesteuerten Verdrängungsmechanismus" - und beschäftigt ihn weiter. Kein Wunder, dass inzwischen eine neue Sport-DDR Raum gewinnt, das Pendant zu den süßlichen Alltagsrekonstruktionen aus Ampelmännchen und Trabi: eine freiheitliche Republik, in der man so leichthin über Doping entscheiden konnte wie im Westen über den richtigen Joghurt. Trainer Rainer Pottel:

    "Ich bin mit meinen Sportlern so umgegangen, dass sie Bescheid wussten, was im Zusammenhang mit Doping dort steht. Ich weiß als Trainer, dass niemand von mir dazu gezwungen wurde, das zu nehmen und dass diese Entscheidung, das zu machen oder nicht, jedem freigestellt war, und jemand, der sich frei entscheidet, ist für mich kein Opfer."

    Pottel stieg gerade zum Bundestrainer Zehnkampf auf. Von Richthofen gibt heute gern den altersweisen Kronzeugen für die Versäumnisse des Sports. Seine eigene Rolle verschweigt er. Die Bilanz dieser "Aufarbeitung" hat DOSB-Präsident Thomas Bach kürzlich in einer Tageszeitung formuliert. Der Umgang mit dem Doping-Erbe, schrieb er, habe "ganze Kraft" erfordert; aber der Sport habe damit "Maßstäbe gesetzt". Da könnte sogar etwas dran sein: Er bot jedenfalls ein Lehrstück dafür, wie die friedliche Revolution zur friedlichen Restauration verkommen konnte.