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Gezielte Chemotherapie

Onkologie. - Eine Chemotherapie soll vor allem Krebszellen angreifen. Tatsächlich wirkt sie aber auf alle Zellen, die sich schnell teilen. Dazu gehören auch Zellen des Blutsystems, Haarwurzelzellen und Schleimhautzellen. Zuweilen sind die Nebenwirkungen so schlimm, dass eine Chemotherapie frühzeitig abgebrochen werden muss - oder nur niedrig dosiert gegeben werden kann. Wissenschaftler am Hutchinson Krebsforschungszentrum im US-amerikanischen Seattle ist es jetzt mit Hilfe einer Gentherapie gelungen, Blut bildende Zellen vor den unerwünschten Nebenwirkungen einer Chemotherapie zu schützen.

Von Martin Winkelheide | 10.05.2012
    Unter den Hirntumoren gelten Glioblastome als aggressiv und daher schwierig zu behandeln. Manche Glioblastome bereiten noch zusätzliche Probleme. Bei ihnen ist ein Gen mit Namen MGMT besonders aktiv. Es ist ein Reparatur-Gen, das Schäden behebt, die eine Chemotherapie in den Krebszellen anrichtet.

    "Also den toxischen Effekt von der Chemotherapie sofort wieder repariert und dadurch diese Chemotherapie unwirksam machen lässt."

    Die Folge: die Krebszellen überleben und teilen sich weiter. Um die Glioblastome effektiver zu bekämpfen, müsste die Chemotherapie höher dosiert werden. Das aber geht nicht, sagt Hans-Peter Kiem vom Fred Hutchinson Krebsforschungszentrum in Seattle. Er hat dort die José Carreras/ E. Donnall Thomas-Stiftungsprofessur inne.

    "Dann wird es toxisch, auch für die Stammzellen und für die Blutzellen. Dadurch haben die Patienten ein erhöhtes Risiko für Infektionen."

    Immerhin ist es möglich, das Reparatur-Gen mit einem Wirkstoff auszuschalten: mit Benzylguanin. Die Chemotherapie wirkt dann besser. Die Krebszellen können Schäden nicht mehr beheben und sterben ab. Der Ansatz hat allerdings einen Haken. Benzylguanin wirkt – aber eben nicht nur in Krebszellen. Kiem:

    "Dieses Medikament kann tatsächlich dieses MGMT ausschalten, nur es schaltet dieses MGMT auch in den Blutzellen und den Blutstammzellen aus, was auch dazu führt, dass die Blutstammzellen mehr absterben, wenn die Chemotherapie gegeben wird."

    Wenn Blutstammzellen absterben, bedeutet das konkret: Es droht eine Blutarmut. Es werden zu wenige Blutplättchen gebildet, die Blutungen stoppen. Und das Immunsystem arbeitet nicht zuverlässig: Selbst harmlose Erreger stellen eine große Gefahr dar.

    "Und das war das Problem zuvor, wo dann diese Patienten diese Chemotherapie nicht toleriert haben. Das heißt, die konnten dann nur ein oder zwei Zyklen von dieser Chemotherapie bekommen."

    Wie lassen sich die blutbildenden Zellen vor den Folgen der Chemotherapie schützen? Das haben sich Hans-Peter Kiem und seine Kollegen in Seattle gefragt. Und sie haben eine Gentherapie entwickelt. Mit Hilfe von umgebauten Retroviren haben sie ein alternatives Reparatur-Gen in Blutstammzellen eingeschleust. Das Gen ist unempfindlich für den Wirkstoff Benzylguanin.

    "Und das haben wir dann reingemacht in diese Stammzellen und Blutzellen, um die Blutzellen dann resistent zu machen. Die sind dann geschützt von dieser gemeinsamen Aktion von dieser Benzylguanin und auch von der Chemotherapie."

    Bislang haben erst drei Patienten mit Glioblastom diese experimentelle Gentherapie erhalten. Bei zwei von ihnen hat das Verfahren optimal funktioniert. Unerwünschte Nebenwirkungen auf das blutbildende System blieben aus. Die Patienten mussten die Chemotherapie nicht vorzeitig abbrechen.
    "Das ist natürlich schon ein sehr guter Fortschritt, da dadurch das Immunsystem erhalten bleibt. Ein Patient war dann sogar in der Lage, neun Zyklen von dieser Chemotherapie zu bekommen, und dieser Patient ist auch immer noch am Leben, ohne Zeichen einer Progression von dem Tumor."

    …. und das 34 Monate nach der Diagnose "Glioblastom". Zwei der drei Patienten sind trotz Gentherapie gestorben…

    "Ein Patient nach 14 Monaten und der andere Patient nach ungefähr 20 Monaten."

    Für Hans-Peter Kiem dennoch ein erster Erfolg. Denn Menschen mit einem aggressiven Glioblastom überleben normalerweise im Schnitt 13 Monate. Die Gentherapie, davon ist er überzeugt, lässt sich noch verbessern. Denn, wenn wie bislang Retroviren als Transportmittel, für das therapeutische Gen – also als Vektor - benutzt werden, dann birgt das Risiken. Bauen die Retroviren das Gen an einer ungünstigen Stelle im Erbgut ein, kann das Krebs verursachen.
    "Die Nebenwirkungen würden wahrscheinlich erst kommen, wenn die Patienten tatsächlich länger überleben. Jetzt, nachdem der erste Patient tatsächlich 34 Monate überlebt hat bisher, müssen wir uns schon Gedanken machen, dass wir auch die sichersten Vektorsysteme nehmen in der Zukunft."

    Nicht allein Glioblastome - auch andere Hirn- und Weichteiltumore besitzen ein hoch aktives Reparatur-Gen MGMT. Eine Gentherapie könnte helfen, auch in diesen Fällen die Überlebenschancen zu erhöhen. Allerdings ist die Gentherapie aufwändig und wird wohl nur bei Tumorerkrankungen in Frage kommen, bei denen eine Chemotherapie die einzige Option ist.