Mittwoch, 24. April 2024

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Gezüchtete Organe
Manuskript: Ein Herz und eine Lunge

Die Organspende-Bereitschaft in Deutschland ist auf einem historischen Tiefstand - und das ist nicht untypisch für die entwickelte Welt. Tausende von Patienten warten allein hierzulande vergeblich auf ein rettendes Spenderorgan. Die Alternative zum Spenderorgan ist die Neuzüchtung. Aber kann man ein Herz oder eine Lunge komplett neu aufbauen? Biomedizinische Forscher sind auf dem Weg zum Zuchtorgan - doch es ist fraglich, wie lange sie noch brauchen

Von Michael Lange | 02.03.2014
    Es ist nicht größer als eine Pampelmuse, wiegt etwa 300 Gramm und schlägt 80 bis 100 Mal in der Minute. Ohne Unterbrechung pumpt das Herz eines erwachsenen Menschen Blut durch den Körper. Es besteht vorwiegend aus Muskelgewebe, Hohlräumen und Blutgefäßen, und es ist ständig in Bewegung. Ohne Herzschlag endet das Leben. Allein in Deutschland verpflanzen Chirurgen Jahr für Jahr über 300 Herzen und mehr als 2000 Nieren. Aber das sind viel zu wenige. 11.000 Patienten warten auf ein lebensrettendes Organ.
    Eine rote Ampel mahnt zur Geduld. "Warten Sie!" quäkt es aus den Lautsprechern. Eine Handvoll Fußgänger gehorcht. Sie wollen zur Klinik auf der anderen Seite. Dort, am Ufer des Charles-River in Boston, entstehen die Organe der Zukunft, im Massachusetts General Hospital. In einem riesigen Großraumlabor forscht ein aus Österreich stammender Arzt und Wissenschaftler mit seinem Team.
    "Mein Name ist Harald Ott. Mein Labor ist Teil des Harvard Stem Cell Institutes, und ich bin Thoraxchirurg am Massachusetts General Hospital."
    Das Glasgefäß im Regal fällt sofort ins Auge. In etwa zwei Litern klarer Flüssigkeit schweben feine, milchig weiße Streben. Das Gebilde scheint zart und zerbrechlich.
    "Das ist unser humanes Herz Nummer 46. Das humane Herz ist etwa eine oder zwei Faust groß."
    Dünne Schläuche führen in das Glasgefäß hinein und wieder heraus. Das Organ wird gewaschen. Alle Zellen müssen raus. Nur das nackte Organskelett soll übrig bleiben.
    "Das Geräusch, das Sie hören ist eine Perfusionspumpe, die computergesteuert dieses Herz mit einer Seifenlösung versorgt. Die Pumpe zieht Flüssigkeit aus einem Reservoir und pumpt sie in die Aorta und in die Koronargefäße, um die Zellen auszuwaschen."
    Harald Ott lässt so lange Seifenlösung durch das Herz hindurch strömen, bis nichts mehr an ihm lebt. Alle Zellen sind weg. Was bleibt, sind die hellen Streben, ein biochemisches Gerüst aus reinem Protein. Obwohl es zart aussieht, ist es äußerst robust, so wie ein Stahlgerüst, das ein ganzes Hochhaus trägt. Damit aus dem Gerüst ein Organ wird, müssen Zellen darauf wachsen. Sie sollen sich an die feinen Streben klammern. Am besten wären eigene Zellen des Patienten. Sie würden nicht abgestoßen und wären per se ein neuer Teil des alten Körpers – so wie ein zweites Herz.
    Harald Ott: "Die Geschwindigkeit, mit der wir uns der klinischen Anwendung nähern, steigert sich exponentiell. Ich muss sagen: Ich bin voller Hoffnung, dass es uns gelingt, in den nächsten zehn oder fünfzehn Jahren regenerative Produkte zum Patienten bringen zu können."
    Regenerative Medizin erlebte Blüte
    1998 wurden erstmals embryonale Stammzellen im Labor gezüchtet. Sie können sich in einem Glasgefäß in unterschiedliche Zellen und Gewebe verwandeln: Haut-, Muskel- oder Nervenzellen. Gerne werden embryonale Stammzellen auch als "Alleskönner" bezeichnet. Die Diskussion über ihre Fähigkeiten brachte zahlreiche Visionen hervor. Alte Zellen könnten durch neue ersetzt werden, und vielleicht auch kranke Organe durch gesunde. Der Stammzellenforscher Oliver Brüstle von der Universität Bonn sagte damals:
    "Hier sehe ich es geradezu als Pflicht an, relevante Zelllinien zu generieren, um anderen Menschen letztendlich damit zu helfen."
    Das Fachgebiet "Regenerative Medizin" erlebte eine Blüte – auch die Wissenschaftler, die ganze Organe im Labor nachbauen wollten, profitierten davon. Die Hoffnung, dass Stammzellen im Labor wie von selbst zu Organen heranwachsen, erfüllte sich zwar nicht. Embryonale Stammzellen wuchern, wenn man sie im Labor vermehrt; aber sie bilden keine geordneten Organstrukturen. Dennoch profitierten die Organbauer. Denn es wurde immer offensichtlicher, wie wandlungsfähig Körperzellen sind. Es gibt eine Fülle von Entwicklungsstadien, mit denen sich experimentieren lässt. Seit 2006 lassen sich Zellen sogar verjüngen. In neuesten Experimenten japanischer Forscher reichte dazu ein wenig Säure. Harald Ott setzt auf noch nicht voll ausgereifte Zellen: Endothelzellen, die die Blutgefäße auskleiden, Epithelzellen, die das Deck- und Drüsengewebe bilden sowie Bindegewebszellen für die Niere -, außerdem Muskelzellen für das Herz.
    "Wir versuchen also Zellen zu nehmen, die etwas unreifer sind, und so, je nachdem an welcher Stelle sie landen, sich in die jeweils richtige Zelle verwandeln können. Und ein Großteil meines Labors konzentriert sich momentan darauf festzustellen: Welcher Entwicklungsstand der Zellen ist ideal, um auf ein Organgerüst besiedelt zu werden."
    Im Labor am Massachusetts General Hospital stehen eigens konstruierte Bioreaktoren aus Glas. Schläuche führen in die Behälter hinein und wieder heraus. Einige Bioreaktoren sind kleiner als Würfelbecher - für die Rattenniere; andere größer als Putzeimer - für die Schweinelunge.
    "Das Organ befindet sich in diesem Behälter, und diese drei oder vier Zugänge führen in die Kanäle in den Organen. Und diese Schläuche sind verbunden mit Pumpen, die das Medium ähnlich wie das Blut im Körper durch das Organ zirkulieren lassen, es mit Sauerstoff und mit Nährstoff versorgen."
    Durch die feinen Schläuche gelangen auch Zellen in die Organgerüste - verschiedene Schläuche für unterschiedliche Zelltypen. Am einfachsten ist es bei der Lunge: Zellen, die der Luft ausgesetzt werden sollen, kommen durch die Luftkanäle. Zellen, die zum Blut Kontakt haben sollen, durch die Blutgefäße. Dann finden die Zellen wie von selbst ihren Weg. Sie bewegen sich langsam, meist mehrere Tage durch die engen Gänge des Organs, bis sie einen geeigneten Ort finden und sich niederlassen.
    Harald Ott: "Diese Zellen sind dafür konzipiert oder haben das Programm in sich, dass sie sich ansetzen wollen. Zellen wollen am liebsten nicht frei schwimmen, sie wollen sich irgendwo anbinden. Und wenn wir unsere Organe mit der Zellsuspension perfundieren, dann gelingt es, diese Zellen durch Vorbeischwimmen an die richtigen Stellen sich anfügen zu lassen. "
    Besonders kniffelig war es für Harald Ott, Zellen in kleine Rattennieren hinein zu bekommen. Obwohl die Organe kleiner sind als eine Fingerkuppe, fanden nur wenige Zellen von selbst ihren Weg. Schließlich entschied er sich für ein Vakuum. Dabei saugt der Unterdruck die schwimmenden Zellen in die winzigen Gänge der Niere hinein. Der Vorgang dauerte zwölf Tage.
    "Es ist schwierig, in dem Maße, das Vakuum genau zu regulieren, da diese feinen Kanäle sehr fragil, sehr zerbrechlich sind. Und wenn man – wie es uns passiert ist – zu viel Vakuum verwendet, die Niere letztendlich einfach zerplatzt."
    Letztlich müssen genau die richtigen Zellen an der richtigen Stelle sitzen, sonst funktioniert das Organ nicht. Das zeigen Transplantationsexperimente mit Tieren, die Harald Ott kürzlich veröffentlichte. Er besiedelte die nackten Proteinskelette von Rattennieren mit menschlichen Körperzellen und Stammzellen aus der Nabelschnur. Dann verpflanzte er die Organe in Empfänger-Ratten. Das brachte ihm eine viel beachtete Veröffentlichung im Fachmagazin "Nature Medicine". Die transplantierte Niere produzierte tatsächlich etwas Urin.
    "In unserer Rattenniere war es so, dass es uns gelungen ist, genügend Epithelzellen an die richtigen Stellen zu bringen, um eine rudimentäre Organfunktion, also Ausscheidungsfunktion, herzustellen. Aber es ist außer Frage, dass viele dieser Zellen noch nicht an der richtigen Stelle waren, dass noch nicht die gesamte Niere von neuen Zellen besiedelt war."
    Organe aus dem Drucker
    Andere Forscher sind nicht auf natürliche Organgerüste angewiesen. Sie drücken auf "print" und drucken das gewünschte Organ einfach aus.
    "It takes about seven hours to print a kidney…."
    In einem Video präsentiert der Organ-Pionier Anthony Atala von der Wake Forest University in North Carolina eine lebende Niere – frisch aus dem 3D-Drucker. Sieben Stunden reichen für ein Organ.
    "It looks a bit small on me but here it is. A kidney that has been printed earlier today…."
    Anthony Atala hält das weiche Organ in seinen blauen Laborhandschuhen in die Kamera. Die Niere wird von einer dünnen Außenhaut zusammengehalten. Sie ist nicht größer als eine Kinderfaust und sieht aus wie eine richtige Niere, aber die Aufgaben eines lebendigen Organs könnte die Niere aus dem Drucker nicht erfüllen.
    300 Mal am Tag filtern die beiden Nieren des Menschen das gesamte Blut des Körpers. Zusammengerechnet sind das mehr als 1500 Liter täglich. Unzählige kleine Nierenkörperchen und Nierenkanälchen holen Abfallprodukte aus dem Blut und sammeln sie im Urin. Die Nieren regulieren den Flüssigkeitshaushalt des Körpers und produzieren außerdem allerlei Hormone und Botenstoffe."
    Um ein Organ zu bauen, müssen die Wissenschaftler drei wichtige Aufgaben bewältigen. Erstens brauchen sie ein Gerüst, das Form und innere Struktur vorgibt. Zweitens müssen lebende Zellen in das Gerüst hinein - die richtigen Zellen an die richtigen Stellen. Und drittens muss das künstliche Organ durchblutet werden. Nur dann lebt es und kann arbeiten. Einige Forscher hoffen, dass diese drei Aufgaben eines Tages von einem 3D-Drucker erledigt werden können.
    Ein paar Ampeln weiter, gegenüber von Boston, auf der anderen Seite des Charles-River im amerikanischen Cambridge reiht sich Forschungstempel an Forschungstempel. Am Nachmittag sind nur wenige Studenten auf den breiten Straßen unterwegs. Sie studieren an den Eliteuniversitäten M.I.T. oder Harvard. Auch hier experimentiert man mit der Organdruckerei.
    "Cambridge Street …. Walk sign the cross … Cambridge Street … Wait …"
    "Hello, my name is Nasim Annabi. I am a postdoctoral fellow at professor Khademhosseini´s laboratory at Harvard Medical School."
    Nasim Annabi öffnet eine Tür, und da steht er: Der Bio-Drucker. Nicht gerade spektakulär. Ein geschlossener Kasten, angeschlossen an einen Computer.
    "Das ist unser Bioprinter. Damit können wir Zellen und Gele regelrecht drucken. Der Computer besitzt eine Software, mit der wir ein Design erstellen können. So können wir Gewebe herstellen – in einer geeigneten Architektur und in der gewünschten Geometrie."
    Das Prinzip entspricht einem Tintenstrahldrucker. Zwei Düsen spritzen gleichzeitig eine Flüssigkeit auf eine Unterlage. Düse Nummer eins sprüht einen zähflüssigen Kunststoff: das so genannte Hydrogel, eine Flüssigkeit, die schnell fest wird - vergleichbar mit Gelatine. Manche Hydrogele sind weich wie Wackelpudding, andere härter – so wie eingetrocknete Gummibärchen.
    Annabi: "Die Hydrogele bestehen aus wasserliebenden Polymeren. Das sind Kunststoffe aus einfachen, langen Molekülketten. Diese Polymere können wir gezielt verknüpfen und wieder voneinander trennen. So konstruieren wir ein künstliches Gerüst für die Zellen, die dann ein Gewebe bilden."
    Die lebenden Zellen kommen aus Düse Nummer zwei. Es handelt sich um reife Körperzellen oder Vorläuferzellen. Auch hier gilt: Unreifere Zellen sind anpassungsfähiger als reife Zellen. Aber Nasim Annabi beschäftigt sich nicht mit den Zellen, sie will den Kunststoff optimieren, damit sich die Zellen in ihrem neuen Lebensraum wohlfühlen. Deshalb hat sie das Hydrogel so konstruiert, dass kleine Nischen und Mulden die Zellen regelrecht einladen.
    "Wie ein Schwamm kann das Hydrogel große Mengen Wasser aufsaugen. Und in den Poren finden die Zellen geeignete Lebensräume. Dort nisten sie sich ein, wie in einem lebenden Organismus. Sie wachsen und gedeihen wie im menschlichen Körper."
    Ist ein Hydrogel fertig, muss es geprüft werden. Dazu steht im Labor ein Testgerät mit Mikroskop. Darin werden die hergestellten Konstrukte gezogen und gedrückt.
    "Wir erhöhen den Druck auf die Probe, bis sie bricht. So erstellen wir eine Kurve, und daraus können wir Eigenschaften des Hydrogels errechnen. Vereinfacht ausgedrückt: Je mehr Druck es aushält, umso stärker ist das Hydrogel."
    Komplexe Organe sind ein Problem
    Komplizierte Organe wie Herzen oder Lungen haben die Konstrukteure in Cambridge bislang noch nicht aus Hydrogel hergestellt. Aber einfache Strukturen können sie innerhalb weniger Stunden ausdrucken.
    Annabi: "Um Knochen zu bauen, brauchen wir sehr steifes, festes Material. Für Blutgefäße muss das Hydrogel weicher und besonders elastisch sein. Es darf auch bei hoher Belastung nicht reißen. Wir verändern so lange den Aufbau und die Zusammensetzung der Gele, bis das Gel geeignet ist für die jeweilige Anwendung."
    Damit ein funktionsfähiges Organ entsteht, müssen alle Zellen im Hydrogel genau richtig positioniert sein, doch das allein genügt nicht. Bisher können die Gewebedrucker Gerüst und lebende Zellen noch nicht zu einem funktionierenden Ganzen verknüpfen. Auch die gedruckte Niere, die der Pionier Antony Atala bei seinem viel beachteten Vortrag präsentierte, war kein fertiges Organ. Das nierenähnliche Gebilde produzierte nicht mehr als ein paar Tropfen einer urinähnlichen Flüssigkeit.
    Vielleicht ist es auch gar nicht nötig, fertige Organe im Labor zu züchten. Möglicherweise reichen Vorstufen, die dann im Körper zu organartigen Gebilden heranreifen. So haben Forscher der Universität von Yokohama in Japan aus einem Gemisch verschiedener Vorläuferzellen einfache Leberknospen hergestellt – kleiner als Ein-Cent-Münzen. Sie verpflanzten die Leberknospen in Mäuse und beobachteten, wie sie verschiedene Aufgaben der Leber übernahmen.
    Die Leber ist die größte Drüse des menschlichen Körpers. Sie wiegt durchschnittlich 1,5 bis zwei Kilogramm und ist damit schwerer als das Gehirn. Sie produziert lebenswichtige Eiweißstoffe wie Enzyme oder Gerinnungsfaktoren. Nährstoffe werden ebenso in ihre Bestandteile zerlegt wie Medikamente oder Giftstoffe. Die wichtigsten Zellen sind die Hepatozyten, die Leberzellen. Sie machen 80 Prozent einer gesunden Leber aus.
    Die Zellen der Leberknospen durchliefen eine Art embryonale Entwicklung – zunächst im Labor und dann im Körper des Empfängers. Sie wussten selbst, was zu tun war. Auf dieses Prinzip der Selbstorganisation setzen einige Organkonstrukteure. Statt genau herauszufinden, wo welche Zelle hingehört und sie dann zu platzieren, verlassen sie sich auf die Natur. Und es funktioniert. Sogar Zellen des Nervensystems tun sich wie von selbst zu organartigen Gebilden zusammen.
    Oliver Brüstle: "Das Selbstorganisationspotenzial von neuronalen Zellen ist tatsächlich erstaunlich."
    Am Institut für Rekonstruktive Neurobiologie an der Universität Bonn züchtet Oliver Brüstle Vorläuferzellen von Nervenzellen und anderen Zellen des Gehirns. Sie entstehen aus embryonalen Stammzellen oder reprogrammierten, verjüngten Körperzellen. Im Labor kann er beobachten, wie die Zellen sich neu orientieren, Kontakte bilden und Signale verschicken und empfangen. Andere Forscher haben auf diesem Wege bereits organartige Strukturen des menschlichen Auges gezüchtet.
    "Zum Beispiel ist es einer Gruppe in Japan gelungen, netzhautartige Strukturen in der Zellkultur zu züchten. Dreidimensionale Strukturen, die tatsächlich die Architektur der Netzhaut wiedergeben bis hin zur Ausbildung von ganzen Augenanlagen. Und mittlerweile gibt es dazu auch Studien zur Entstehung der Großhirnrinde."
    An der Universität Wien haben Wissenschaftler jetzt sogar ein erbsengroßes Gehirn im Labor wachsen lassen. Oder zumindest ein Gebilde aus Nervenzellen, das aussieht wie ein Gehirn.
    Brüstle: "Wenn man aus Stammzellen Neurone oder neuronale Vorläufer herstellt, die der Großhirnrinde entsprechen, und diese in der Zellkultur aggregieren lässt, dann bilden diese Zellen von sich aus geordnete Architekturen. Das heißt: Man sieht mehrschichtige Zelllagen, die sehr stark an unsere mehrschichtige Großhirnrinde erinnern."
    Da das Mini-Gehirn keine Außenreize wahrnimmt, verarbeitet es keine Informationen. Es kann nicht wahrnehmen, sich erinnern oder denken. Dennoch fließen Signale scheinbar sinnlos hin und her.
    "Man wird unter Umständen die Möglichkeit haben, ganze Gehirnarchitekturen künstlich in der Zellkulturschale zu erzeugen. Natürlich wird das nur bedingt dem erwachsenen menschlichen Gehirn nahekommen können. Viele andere wichtige Spieler fehlen. Da gibt es natürlich kein Gefäßsystem, kein Immunsystem. Es bleibt also ein Modell, ein reduktionistisches Modell. Gleichwohl hoch spannend für die Frage nach Architekturbildung oder Fehlbildung im Nervensystem."
    Das erbsengroße Gehirn dient ausschließlich der Grundlagenforschung. Eine Gehirntransplantation steht vorerst natürlich nicht auf der Agenda der Wissenschaft.
    Das Gehirn des Menschen wiegt fast 1,5 Kilogramm. Etwa 100 Milliarden Nervenzellen bilden ein gewaltiges Netzwerk. Über feine Fasern, die Axone, steht jede Nervenzelle mit Hunderten oder Tausenden anderen in Kontakt. Dort, wo sie einander treffen, entstehen Synapsen. Sie verarbeiten Wahrnehmungen oder Erinnerungen – und irgendwo in diesem Gewirr entsteht Bewusstsein.
    In New Haven, eine Autostunde von New York entfernt, bereiten Wissenschaftler der Yale-Universität Körperteile aus dem Labor für die Transplantation in Menschen vor.
    "We need a very little liquid. – We need more air!"
    Drei junge Männer in weißen Kitteln diskutieren angeregt vor einer sterilen Impfbank. Sie wollen herausfinden, wie sich lebende Zellen am besten auf eine Oberfläche sprühen lassen.
    "This is the blood vessel room…."
    Fitness-Training für die Zellen
    In einem anderen Laborraum wachsen Blutgefäße unter naturähnlichen Bedingungen. Eine Studentin erklärt, wie in einem größeren Glasbehälter Blutgefäße hin und her bewegt werden. Unter Druck fließt eine Nährlösung durch die Gefäße – wie im menschlichen Körper. Eine Art Fitness-Studio für Zellen. Die Zellen in der Wand der Blutgefäße werden trainiert und bilden Muskelstrukturen – solange bis sie fit sind für die Transplantation in ein Versuchstier oder einen Patienten.
    "My name is Laura Niklason, I am a professor and vice chair of anesthesiology and biomedical engineering at Yale University…"
    Seit 15 Jahren forscht Laura Niklason im Bereich Organ- und Gewebezüchtung. Dauerhaftes Fitness-Training für die Zellen hält sie für unverzichtbar.
    "Wenn wir menschliche Zellen auf einem künstlichen oder einem tierischen Proteingerüst ein paar Monate wachsen lassen, dann stellen sie nach und nach ein eigenes Gerüst her. Unterdessen löst sich das alte Gerüst auf. Nach ein paar Monaten ist alles umgebaut: Das Gerüst und die Zellen stammen dann vom späteren Empfänger. Und wenn wir alles richtig gemacht haben, erhalten wir eine Arterie, die wir in einen Menschen einpflanzen können."
    Eine Arterie muss extrem fest sein, aber auch elastisch und reißfest. Genau das leistet das natürliche Protein Kollagen. Aus ihm bestehen Haare, Fingernägel, aber auch weiche Knochen und Gefäßwände, wie sie beim Training im Labor von Laura Niklason entstehen.
    Niklason: "Kollagen ist ein unglaublich starkes Molekül. Dieses Protein macht 17 Prozent unseres Körpers aus. Kollagen ist das Molekül, das unseren Körper zusammenhält. Indem wir in Bioreaktoren das Gewebe strecken und stauchen, sagen wir den Zellen: Ihr seid Teil einer natürlichen Arterie. Deshalb wachsen sie, produzieren reichlich Kollagen und machen so die Arterie stärker."
    Aber das Training löst nicht alle Probleme. So fehlt den Organen aus dem Labor eine ausreichende Blutversorgung. Dafür kann nur der Körper des Empfängers sorgen. Deshalb befreit Laura Niklason die Gerüste wieder von den trainierten Zellen, bevor sie sie verpflanzt.
    "Wir wissen aus Tierversuchen, dass die nackten Gerüste nach der Transplantation im Körper von tiereigenen Zellen besiedelt werden. Es dauert ein paar Monate, und die Tierzellen haben aus dem toten Gerüst ein lebendes Organ gemacht."
    Wenn die Organe erst im Körper von Zellen besiedelt werden, wachsen Blutgefäße von außen in das Transplantat hinein. So entsteht nach und nach eine natürliche Blutversorgung. In einer klinischen Studie hat Laura Niklason bereits erste Erfahrungen mit dieser Methode gesammelt.
    "Wir haben das Gerüst von Blutgefäßen ohne Zellen in Patienten transplantiert. Vor gut einem Jahr haben wir mit der klinischen Studie begonnen. Dabei haben über 30 Dialyse-Patienten in Polen und den USA, die eine künstliche Arterie benötigten, das Transplantat aus unserem Labor erhalten – statt einer künstlichen Arterie aus Teflon. Und ich kann Ihnen verraten: Die neuen Blutgefäße in den Patienten funktionieren sehr gut."
    Bisher wurden nur kleinere im Labor entstandene Körperteile in Patienten verpflanzt: Neben den Blutgefäßen von der Yale-Universität waren das Speiseröhren oder Ohrmuscheln. Das sind einfache Gewebe – strukturgebende Gerüste aus Kollagen, die mit ein paar Zellen besiedelt sind, mehr nicht. Das Ziel aber sind größere Organe wie Nieren, Lebern, Lungen oder Herzen. Der Unterschied ist vergleichbar mit dem zwischen einer Rohrleitung und einer Chemiefabrik. Ein funktionierendes Rohr herzustellen ist vergleichsweise einfach. Eine Chemiefabrik ist komplizierter. Und es reicht nicht, etwas zu bauen, was aussieht wie eine Chemiefabrik. Das wäre nicht nur sinnlos, sondern gefährlich. Laura Niklason gibt sich nicht zufrieden mit ein paar verpflanzten Blutgefäßen. Sie will eine Lunge konstruieren.
    Die Lunge eines Menschen ähnelt mit ihren Verzweigungen einem Baum. Die Luftröhre teilt sich, und die Bronchien führen zu zwei Lungenflügeln mit jeweils zwei oder drei Lungenlappen – und am Ende der immer feineren Zweige sitzen die winzigen Lungenbläschen. Der Mensch besitzt 300 Millionen davon. Hier tritt der Sauerstoff aus der Luft über ins Blut.
    Auch bei den Lungen setzt Laura Niklason auf Training im Bioreaktor. Dazu wurde Luft in die Lungen hinein gesogen und das Gewebe außen mit Flüssigkeit umströmt.
    "In einem Bioreaktor haben wir Lungengerüste mit Zellen besiedelt, zunächst Rattenlungen. Die Lungen haben wir dann in Ratten verpflanzt. Sie haben tatsächlich ganz gut funktioniert. Sie haben Sauerstoff aufgenommen und Kohlendioxid abgegeben, wenn auch nur ein paar Stunden lang."
    Das ist natürlich viel zu wenig, um an einen Test beim Menschen auch nur zu denken. Die Forscher haben noch viel Laborarbeit vor sich. Zehn bis fünfzehn Jahre, schätzt Laura Niklason.
    "Die Herstellung einer Lunge ist möglich. Wir müssen nur vorher noch eine ganze Reihe technischer Fragen beantworten. Vorher ist es unvorstellbar, dass wir ein Organ aus dem Labor in Patienten verpflanzen. Das wichtigste ist, dass wir niemandem schaden."
    Wer in der Organmanufaktur arbeitet braucht besondere Eigenschaften, erklärt Laura Niklason zum Abschied – und sagt dann ganz bestimmt:
    "You have to be very patient or slightly crazy."
    Man muss sehr geduldig sein – oder ein wenig verrückt.