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Gibt es eine Krise der europäischen Sozialdemokratie?

Heinlein: Das sozialdemokratische Jahrhundert dauerte nur wenige Jahre: In den 90er Jahren schwebte die Sozialdemokratie europaweit auf einer Welle des Erfolgs. In den meisten der 15 EU-Staaten stellten Linksparteien die Regierung; man wähnte sich an einer Zeitenwende an der Schwelle zum neuen Jahrtausend. Doch seit den letzten Wahlen geht das Pendel wieder in eine andere Richtung. Egal ob in Rom, in Kopenhagen in Lissabon oder in dieser Woche in Den Haag: Die einstigen demokratischen Hochburgen sind gefallen; auch in Berlin könnte laut Umfragen der SPD-Kanzler nur ein vierjähriges Intermezzo gegeben haben. Die Krise der Sozialdemokratie wird begleitet von dem Erstarken rechtspopulistischer Parteien: Berlusconi, Haider und Le Pen - sie fischen mit einfachen Parolen im Wählerreservoir der etablierten Parteien. Ein europaweiter Trend, der vielen Beobachtern Sorgen bereitet. Darüber wollen wir jetzt mit dem SPD-Vordenker, Peter Glotz reden, heute Hochschullehrer in Sankt Gallen und Vertreter der Bundesregierung im Europäischen Konvent. Guten Morgen.

    Glotz: Guten Morgen.

    Heinlein: Herr Glotz, machen auch Sie sich Sorgen um die Sozialdemokratie in Europa?

    Glotz: Nein, ich mache mir keine Sorgen. Natürlich sehe ich nicht mit Vergnügen, was da stattfindet, aber es ist der ganz normale Pendelschlag. Sie müssen sehen: Es gab ja im Gefolge der Wahlsiege von Ronald Reagan und Margaret Thatcher eine neoliberale Welle in Europa. Da waren überall die rechtsliberalen Regierungen an der Macht, und dann waren die Wähler dieser Regierungen irgendwann überdrüssig und es gab in vielen, vielen Ländern sozialdemokratische Regierungen, die jetzt wieder abgelöst werden. Aber Sie müssen sehen: Es gibt relativ sehr unterschiedliche Gründe, warum da Herr Berlusconi gewinnt oder warum in Österreich, nach einer ewigen großen Koalition, die Leute endlich mal die Nase von dieser großen Koalition voll hatten. Das italienische und das österreichische Ergebnis sind aus anderen Gründen erfolgt. Ich sah damals nicht das sozialdemokratische Jahrhundert - ich habe immer gesagt: Das ist Quatsch - und ich sehe jetzt auch kein konservatives Jahrhundert oder eine konservative Epoche vor uns.

    Heinlein: Dennoch, Herr Glotz, die Krise, oder wie immer man es nennen mag, der Sozialdemokraten geht ja einher mit dem Aufstieg rechtspopulistischer Parteien in Europa: Le Pen, Haider, Berlusconi - ich sagte es. Gibt es da einen Zusammenhang?

    Glotz: Ja, den gibt es, glaube ich, schon: Das hängt sehr stark mit der Politik der Einwanderung zusammen, mit der Unzufriedenheit von Wählerblöcken der Unterschichten mit den jeweiligen Regierungen und, da brechen in der Tat Potenziale von sozialdemokratischen Parteien eher weg, weil die natürlich immer stärker waren bei Leuten, beispielsweise, mit einfacheren Schulabschlüssen. Frankreich ist dafür ein ganz deutliches Beispiel: Das ging sehr stark auf Kosten von Jospin und den Sozialisten. Ich glaube, das ist in der Tat ein durchgehendes Phänomen, wobei man hier sagen muss, die Deutschen haben rechtzeitig ein paar Maßnahmen ergriffen - denken Sie an die Asylgesetzgebung der 90er Jahre, die beide großen Parteien mitgetragen haben -, und die haben uns manches erspart, jedenfalls manche Zuspitzungen, die es jetzt in anderen Länder gibt.

    Heinlein: Hat denn die Linke insgesamt aus political-correctness-Gründen zu lange versäumt, Themen, wie etwa Einwanderung oder auch Kriminalität zu besetzten und auch diese Fragen zu beantworten?

    Glotz: Dem Otto Schily können Sie das nicht vorwerfen, aber in der Tat da und dort gab es das. Ich weiß nicht, ob aus Gründen der political correctness, aber in der Tat gab es in der Linken manchmal eine Hemmung, offen auszusprechen, was da eigentlich stattfand. Wir haben das ja in der Asyldebatte in Deutschland auch gesehen, und das führt eben dann zu diesem Aufkommen von rechtspopulistischen Parteien; obwohl auch die unterschiedliche Gründe haben. Denken Sie an Haider: Da ist es nun wirklich die große Koalition gewesen und nicht die Einwanderungspolitik. Aber auch der hat das Thema benutzt.

    Heinlein: Also stellen die Rechtspopulisten die richtigen Fragen, geben aber die falschen Antworten, zumindest aus Ihrer Sicht?

    Glotz: Ja, das glaube ich in der Tat. Der Satz, sie stellen die richtigen Fragen, da muss man auch sehr differenzieren: Für jemanden wie Le Pen würde ich das auch nicht sagen. Aber für Pim Fortuyn, der das in den Niederlanden nun hochgebracht hat, ist Ihr Satz genau richtig - er stellte die richtigen Fragen, aber gab die falschen Antworten.

    Heinlein: Wie sollte denn die Linke auf die Herausforderung durch die Rechtspopulisten reagieren?

    Glotz: Ich glaube, sie muss darauf reagieren, dass sie auf die Leute schaut, mit den Leuten kommuniziert, aber trotzdem bei einer Linie bleibt, die das macht, was notwendig ist. Sie kann zwar ansonsten mal einen Wahl gewinnen, ist aber nach kurzer Zeit wieder weg vom Fenster. Also, verstehen Sie, Sie müssen die Sozialsysteme an bestimmten Punkten reformieren. Wenn Sie immer weniger Aktive haben, die einzahlen können, also die arbeiten, um die Renten von relativ vielen älteren Menschen zu bezahlen, dann müssen sie da etwas tun, obwohl es unbestreitbar richtig ist, was La Fontaine und andere mit linkspopulistem Unterton sagen, dass die Leute das nicht mögen. Kohle ist weggewählt worden, weil er Angst hatte, notwendige Dinge zu tun. Aber er ist am Schluss auch weggewählt worden, weil die Leute dann plötzlich den Eindruck hatten, nun wird er doch etwas tun, und dem die Sozialdemokratie, damals unter La Fontaine doch widersprochen hatte. Also, die Linie, zu sagen, jetzt machen wir einfach mal das, was die wollen, würde ja heißen, es bewegt sich gar nichts, und das würde die strukturelle Arbeitslosigkeit noch weiter erhöhen und uns unbeweglich machen und nicht die Möglichkeit geben, auf die Entwicklung des digitalen Kapitalismus angemessen zu reagieren.

    Heinlein: Frage zum Schluss, Herr Glotz, wie groß sind denn Ihre Erwartungen, dass es Ihrer Partei, der SPD, in Berlin noch einmal gelingt, aus dem Stimmungstief herauszukommen, das Ruder bis zum September noch einmal herumzuwerfen?

    Glotz: Na ja, der Wahlkampf dauert noch fünf Monate, das weißt jeder Praktiker. Also, bis in den September hinein kann da noch viel passieren. In der Tat ist die Union derzeit im Vorsprung. Ich glaube allerdings, dass in der persönlichen Bilanz, Schröder - und da gibt es ja dann zwei große Fernsehdiskussionen zwischen Stoiber und Schröder - die stärkere Ausstrahlung hat. Aber ob das reicht, das kann Ihnen Herr Stoiber heute nicht sagen, das kann Ihnen Herr Schröder heute nicht sagen und Her Glotz kann es Ihnen auch nicht sagen.

    Heinlein: Die 40 Prozent vom letzten Mal werden aber eine Illusion bleiben?

    Glotz: Da müsste die SPD einen großen Sprung machen. In der Tat war meine Prognose immer, dass beide großen Parteien irgendwo um die 38 Prozent landen, aber, in der Tat, da muss sich bei der SPD noch allerhand bewegen.

    Heinlein: Heute Morgen hier im Deutschlandfunk, der SPD-Politiker Peter Glotz, heute Hochschullehrer in Sankt Gallen und Vertreter der Bundesregierung im Europäischen Konvent. Herr Glotz, vielen Dank und Auf Wiederhören.

    Link: Interview als RealAudio