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Gift der Nazierziehung abschütteln

Es gab die persönlichen individuellen Lügen nach dem NS-Regime: Der Film "Lore" hält die 15-jährige Tochter von NS-Größen während der Flucht am Alten fest, weil sie es nicht anders kennt. Ein filmisches Nachkriegsdrama über zerrüttet deutsche Seelen.

Von Josef Schnelle | 01.11.2012
    "Wenn ich in drei Tagen nicht zurück bin, müsst ihr zu Omi fahren. Ihr geht zum Bahnhof und kauft Fahrkarten nach Hamburg und dann weiter nach Husum und dann übers Watt. Erinnerst Du dich Lore?"

    Eine Welt bricht zusammen. Eine furchtbare Welt. Doch für die 15-jährige Lore ist sie alles gewesen, was sie kannte. Der Führer war für sie und ihre kleinen Geschwister eine Art Gott und das Tausendjährige Reich, da war sie sich sicher, würde natürlich mindestens tausend Jahre überdauern. So haben es ihre Eltern, hochrangige Nazis, ihnen erzählt. So haben alle, die sie kannten, gelebt. Nun – im Frühjahr 1945 – geht es für alle nur noch ums Überleben. Doch für Lore und ihre Geschwister geht es auch darum, die Lügen der Eltern endlich zu erkennen und einen neuen Platz im Leben zu suchen und zu finden.

    Das war schon der entscheidende Kniff in Rachel Seifferts erfolgreichem Roman "Die dunkle Kammer", auf dem dieser Film basiert: Nazikinder auf dem Weg in die ungewollte Freiheit des wahren Lebens. Es muss sich alles umdrehen. Alle Gewissheiten müssen auf den Prüfstand. 900 Kilometer reisen die Protagonisten durch ein Land, das zerfällt, und das für sie fremd und feindselig geworden ist. Eine Endzeit. Doch wenn sie vorüber sein wird, ist Lore erwachsen und - wie ihre Geschwister - ein ganz neuer Mensch, für den es in der alten Ordnung ihrer Eltern keinen Platz gegeben hätte. Das zentrale Erweckungserlebnis ist die Begegnung mit einem Jungen, dessen Entwurzelung ganz andere Gründe hat. Bei der ersten amerikanischen Armeepatrouille rettet der zunächst rätselhafte Thomas die ganze kleine Fluchtgemeinschaft vor unangenehmen Schwierigkeiten.

    "-"Hey du, hey du."
    – "Bleib hier stehen."
    – "Komm her: Mutter, Vater?"
    – "Wir haben nichts getan, wir kennen ihn nicht."
    – "Papiere!"
    – "Wir sind unterwegs."
    – "Was du machen hier?"
    – "Er gehört nicht zu uns."
    – "Er war in der Schule. Er verfolgt uns."
    – "Ich habe Papiere.""

    Die Australierin Cate Shortland ist bislang nur bekannt als stilsichere Regisseurin für Jugendstoffe. Mit "Somersault" hatte sie 2004 die Filmwelt mit einer Geschichte vom Erwachsenwerden überrascht. Dieses Talent hat sie nun für einen Stoff eingesetzt, den man sich am Liebsten von einem deutschen Regisseur oder einer deutschen Regisseurin umgesetzt gewünscht hätte. Shortland gelang ihr Ausflug in deutsche Gefilde nicht nur so gut, dass sie alle wichtigen deutschen Fördermittel einstreichen konnte. Inzwischen ist ihr Film auch nach vielen Festivalerfolgen der definitive Beitrag Australiens im Oscar-Rennen. Anfangs bewegt sich "Lore" subjektiv in einer subjektiven Endzeitsvision, ehe das Weltbild der Hauptfigur durch eine überraschende und unmögliche Liebesgeschichte auf die Probe gestellt wird. Thomas verkörpert nämlich alles, was Lore zu hassen gelernt hat:

    "Ich weiß, was du bist. Du bist Jude. Ich hab doch deinen Pim gesehen. Ich möchte nicht, dass du sie anfasst. Verstanden?"

    Shortlands Film ist eine ungewöhnliche Gratwanderung und dass er so überzeugend gelingt, ist nicht zum geringen Teil der deutschen Hauptdarstellerin Saskia Rosendahl zu verdanken, die es mit Blümchenkleid, geflochtenen Haaren und Rehaugenblick schafft, hinter ihrer pubertären Unschuld das Erbe des Bösen aufscheinen zu lassen und zugleich von Liebe, Leidenschaft und jugendlicher Neugier zu erzählen. Visuell anspruchsvoll, glänzend inszeniert aus einem für solche Geschichten äußerst ungewöhnlichen Blickwinkel erzählt Shortland vom Übergang, von den verschiedenen Aggregatzuständen der Psyche. Hinter dem düsteren deutschen Wald auf dem Weg lauert tatsächlich eine "Neue Welt" in der auch die Fragen nach Schuld und Sühne ganz neu gestellt werden müssen.

    Nach dem Ende der Kindheit erwartet die junge Heldin ein gar nicht so leichtes neues Erwachsenenleben. Das Gift der Nazierziehung wird nicht so leicht abzuschütteln sein. Keine Gnade für die frühe Geburt in der Zwischenzeit. Ein sehr deutsches Thema konsequent und hoch spannend zu Ende geführt in einem australischen Film. Was soll man noch glauben, wenn die Welt, die man verstanden hatte, untergeht. Ist ein Leben nach dem Leben möglich und wie schafft man den Übergang.