Sonntag, 28. April 2024

Archiv


Gift und Gegengift

Archive. - In unserer Reihe "Schatzkammern der Wissenschaft" möchten wir Ihnen besondere Sammlungen an Exponaten vorstellen, die im alltäglichen Museumsbetrieb oft eher wenig beachtet werden, die aber bei näherer Betrachtung besonders spannend sind.

Von Michael Stang | 15.01.2009
    "Also, wir befinden uns in der Arzneimittelhistorischen Sammlung Schneider in der Technischen Universität Braunschweig."

    Bettina Wahrig weist in einem kleinen Raum rechts und links auf Laborbänke. Auf diesen stehen kleine Fläschchen, Tiegel und Minerale. Die Sammlung wurde 1958 von ihrem Vorvorgänger Wolfgang Schneider gegründet – einem pharmazeutischen Chemiker, der sich für die Zusammensetzung historischer Arzneimittel interessierte. Er hatte alte Apotheken besucht, die noch einen so genannten Omnibus besaßen, einen Sammelplatz alter Arzneimittel, die man nicht mehr abgeben oder verarbeiten konnte, aber noch für wertvoll schätzte. Wahrig:

    "Zum Beispiel Schlangenrädchen, die so genannten Trochisti viperinii, die sind aus Schlangenfleisch tatsächlich hergestellt, so kleine Rädchen, die dann getrocknet und mit dem Stempel der jeweiligen Apotheke versehen sind. Solche Schlangenpräparate hat man in der frühen Neuzeit gerne genommen, wenn der Verdacht bestand, dass sich jemand vergiftet hatte."

    Hintergrund war die damalige Vorstellung, so die Professorin von der Abteilung für Geschichte der Naturwissenschaften mit Schwerpunkt Pharmaziegeschichte, dass eine Schlange gegen ihr eigenes Gift immun sein muss. Im Schlangenfleisch musste also ein Gegenmittel enthalten sein. Solch historisches Wissen sei ein wichtiger Bestandteil der Ausbildung ihrer Studierenden. Bettina Wahrig nimmt ein Gefäß mit einem antiken Etikett in die Hand, darauf steht Theriak.

    "Theriak war mit das prominenteste Heilmittel in der frühen Neuzeit, das bestand aus insgesamt über 50 Bestandteilen oder sogar mehr, unter anderem Opium und Schlangenfleisch und es war das wichtige Antigiftmittel, was man überhaupt kannte."

    Theriak musste öffentlich zubereitet werden. Da die Zutaten teuer waren und der Verdacht bestand, dass die Apotheker einige teure Arzneien weglassen würden, sollte so dem Pfusch vorgebeugt werden. Denn mit der immer größer werdenden Anzahl an Mittelchen stieg gleichzeitig auch das Risiko einer Vergiftung. Wahrig:

    "Das sind getrocknete Samen von einer Art, die nennt sich Strychnos nux-vomica, eben auf deutsch Brechnuss. Die kommt aus der neuen Welt. Das ist die Ausgangssubstanz für Strychnin, daneben steht ja auch das Fläschchen, aber den Inhaltsstoff haben wir gut weggeschlossen, den kann man hier also nicht finden."


    Miss Marple lässt grüßen. Strychnin war die erste Substanz, die im 19. Jahrhundert als Alkaloid isoliert wurde, später folgten Morphin aus Opium und Atropin aus der Tollkirsche. Das Krampfgift Strychnin wurde in seinen Anfängen mehr oder minder großzügig zur Stärkung schwacher Patienten eingesetzt, oft ohne deren Wissen. Das war aber nicht ganz ungefährlich, da Mitte des 19. Jahrhunderts etwa in Paris die Apotheken Extrakte hergestellt haben, die in ihrer Wirksamkeit um den Faktor sechs differierten. Um solche Behandlungsrisiken zu minimieren, setzten ab 1870 erste Standardisierungen ein. Wahrig:

    "Dann steht daneben geraspeltes Hirschhorn und es sieht so gedreht aus in diesem Gläschen da. Und das ist ein Beispiel für Vorstellungen, die man zusammenfasst unter dem Begriff Signaturenlehre. Und so wie diese Raspeln gedreht sind, so verdreht sich auch jemand, der einen epileptischen Anfall bekommt, und deswegen hat man vermutet, dass Gabe von diesem geraspelten Hirschhornsalz bei Epilepsie wirksam ist."

    Ebenso wurden Knöchelchen aus der Herzscheidewand von Hirschen als Arznei angewandt – der Glaube an eine Kraftübertragung vom starken Hirsch zum schwachen Mensch war allgegenwärtig. Wahrig:

    "Es steckt sehr viel gesammelte Erfahrung in diesen alten Arzneimitteln und diese Analogien klingen heute sehr abenteuerlich. Man darf aber nicht vergessen, dass Analogie damals und heute was anderes ist."

    Hatte ein Mittelchen augenscheinlich geholfen, wurde es weiter benutzt, auch wenn eine direkter Zusammenhang nicht bewiesen war: Wer heilt, hat Recht.

    "Ja, wir haben hier einen traditionellen Holzfeuerofen mit einem Abzug, der bis ungefähr 1979/80 in Betrieb war."


    Das Studium historischer Rezepturen allein bringt oftmals nicht die Klarheit, um welche Zutaten oder um welche Arznei es sich tatsächlich handelt. Daher diente der Ofen der Rekonstruktion alter pharmazeutischer Herstellungsverfahren, da viele der historischen Quellen mehr Fragen aufwerfen, als dass sie sie beantworten. Wahrig:

    "Wie hatte man damals Arzneimittel hergestellt, wie tut man das heute und was liegt chemisch aus heutiger Sicht vor, wenn man in einer alten Quelle den Namen einer alten Substanz liest?"

    Obwohl der Ofen vorerst aus brandschutztechnischen Gründen außer Betrieb ist, ist die Herstellung alter Arzneien nach wie vor ein wichtiger Bestandteil in der Lehre, sagt Bettina Wahrig zum Schluss.

    "Die Sammlung macht den Unterricht in Pharmaziegeschichte sehr viel anschaulicher. Man kann also ganz gut den traditionellen Aufbau eines Arzneimittelschatzes zeigen und man kann auch die Vielfalt der Stoffe aufzeigen, die früher zur Arzneimittelherstellung angewandt wurden."

    Und Besucher bekommen jedes Jahr beim Tag der offenen Tür einen selbst gemachten Arzneiwein zur Verköstigung.
    Das berühmte Nervengift Strychnin wurde früher regelmäßig zur Stärkung schwacher Patienten gegeben.
    Strychnin war auch ein Stärkungsmittel. (Michael Stang)
    in der Sammlung alter Arzneimittel der TU Braunschweig steht noch ein traditioneller Holzofen, auf dem alte Rezepte nachgekocht werden können.
    In der Sammlung alter Arzneimittel der TU Braunschweig können alte Rezepte nachgekocht werden. (Michael Stang)